"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Währungsfonds Deutschland

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Eine Volkswirtschaft fällt nicht von einem Tag auf den anderen in sich zusammen, auch wenn in Deutschland im Moment grad alle Expert:innen so tun, als ob dies doch so wäre. Immerhin stellt sich schon die Frage, wie die Wertschöpfung bei Euch den Sprung in eine neue Phase schafft, in erster Linie wegen des relativen Schrumpfens des langjährigen Rückgrates, nämlich der Automo­bil­in­dustrie.
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11:35 min, 27 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 24.04.2024 / 15:25

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 23.04.2024
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Eine Volkswirtschaft fällt nicht von einem Tag auf den anderen in sich zusammen, auch wenn in Deutschland im Moment grad alle Expert:innen so tun, als ob dies doch so wäre. Immerhin stellt sich schon die Frage, wie die Wertschöpfung bei Euch den Sprung in eine neue Phase schafft, in erster Linie wegen des relativen Schrumpfens des langjährigen Rückgrates, nämlich der Automo­bil­in­dustrie.
Da Ihr mit diesem Sektor auch sehr stark von Exporten abhängig seid, spielt die Ent­wicklung auf den Weltmärkten eine wichtige Rolle; in diesem Zusammenhang wird im Moment besonders intensiv über die neueste Form von Zöllen diskutiert, konkret die negative Form davon, nämlich die Subventionen für die jeweils einheimischen Produkte, welche seit einiger Zeit auch in den USA wieder intensiv ausgeschüttet werden, nachdem China deswegen schon lange am Pranger steht. Allerdings liegt in China der Fall etwas anders, weil die chinesische Wirtschaft dreißig Jahre lang die Werkbank der ganzen Welt darstellte, nicht wegen irgendwelcher Subventionen, sondern wegen der unschlagbar tiefen Löhne, was zunehmend Produktivinvestitionen anzog und den ganzen Rattenschwanz von Qualifizierung, technischem Fachwissen und so weiter mitbrachte; erst seit ein paar Jahren nimmt man eine Subventionierung der Produktion in China wahr, und wie diese ganze Geschichte im Detail entstanden ist und wohin sie sich noch entwickelt, das ist nochmals ein anderes Kapitel. Auf jeden Fall reagieren neben den Staaten mit ihrer Industriepolitik auch die Unternehmen selber flexibel auf die Verschiebungen solcher Rahmenbedingungen, und daraus ergibt sich per Saldo die Strukturveränderung. Es ist ein laufender Prozess, und wo Deutschland dabei gerade steht, kann ich nicht so richtig beurteilen. Alles, was ich festzuhalten vermag, ist dies, dass die vereinigte Gilde der Wirtschaftsweisen sich wieder mal überschlägt mit Schwarzmalerei, und das hat wohl weniger mit dem erfolgreichen oder weniger erfolgreichen Strukturwandel zu tun, sondern damit, dass im Moment der Arbeitsmarkt so aussieht, dass die Beschäftigten stärker dastehen als auch schon und mit ihnen auch ihre Gewerkschaften. Da braucht es wieder ein paar Orgelpfeifen, die man in Zeiten des Überflusses an qualifizierten Arbeitskräften nicht so kräftig bedient; aber jetzt ist es wieder so weit, die alte Leier von der Arbeitszeitverlängerung oder der Verlängerung der Lebensarbeitszeit beziehungsweise die Erhöhung des Pensionsalters und so weiter und so fort wird wieder geschlagen von Menschen, die damit halt auch aufgewachsen sind und so etwas im Traum heraus flöten können, namentlich das ganze Personal der FDP und der ehemalige Armenhaus­direktor Friedrich Merz.

Im April 2024 hat der Internationale Währungsfonds im Rahmen seines Wirtschaftsausblickes für die ganze Welt auch die Schätzzahlen für Deutschland publiziert. Er erwartet für dieses Jahr ein reales Wachstum des Bruttoinlandproduktes um 0.2%, diese Zahl wurde in den letzten Tagen häufig zitiert. Insgesamt wird das Bruttoinlandprodukt zu laufenden Preisen 4.6 Billionen Dollar erreichen; nach Kaufkraftparität liegt es deutlich höher bei 5.7 Billionen Dollar. Das BIP pro Kopf zu laufenden Preisen steigt auf 54'290 Dollar. Die Inflation steht bei 2.3%, die Bevölkerung nähert sich 85 Millionen Menschen, und die Arbeitslosigkeit steht bei 3.3%. Die Neuverschuldung wird auf 1.5% des Bruttoinlandprodukts geschätzt, also etwa 60 Milliarden Dollar, und die Staatsschuldenquote steht bei 63.7%.

Aus diesen Zahlen geht zunächst nichts hervor, was den Katzenjammer begründen würde, der auch international über die deutsche Wirtschaft angestimmt wird. Selbstverständlich sind es keine Rekordzahlen, aber man kann da eine normale Zwischenetappe in der Wachstumskurve sehen, kein Grund zur Panik, anders als beispielsweise bei der anhaltenden Schwäche der staatlichen Organisation oder im Ausbildungssektor in Deutschland; allerdings sind auch dies relative Schwächen. Wie überhaupt alles relativ ist; wenn man über die deutsche Wirtschaft lamentiert, muss man sich immer auch bewusst machen, dass die deutsche Wirtschaft unterdessen ein integrierter Bestandteil der europäischen Wirtschaft ist beziehungsweise mindestens sein sollte. Wie man immer wieder feststellt, versuchen die Administrationen von Bundesländern und Gemeinden, je weiter unten sie angesiedelt sind, desto aktiver eine Anti-EU-Wirtschaftspolitik zu fahren. Man kann das wohl unter das Motto «regional und lokal» zusammenfassen, was beim Verzehr von Karotten meinetwegen gelten kann, aber beim Austausch von Wirtschaftsaktivitäten über die Landesgrenzen hinaus tunlichst unterlassen werden sollte. Auf der Ebene der Großkonzerne funktioniert der Austausch einwandfrei, soviel steht fest, und für diese wurde die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ursprünglich ja auch geschaffen; aber zu einer echten wirtschaftlichen Prosperität gehört eben schon auch der kleine Binnenmarkt, wo die kleinen Protektionismen ins Kraut schießen, vermutlich aus ganz simpel wahlpopulistischen Gründen. Könntet Ihr nicht diese Grenzen endlich einmal ganz einreißen, diese Mauern, die von Kleinpolitiker:innen immer wieder neu errichtet werden? Damit wäre allen Menschen geholfen, und wenn man es richtig einrichtet, sogar den Landwirt:innen.

Die Welt braucht kein Gejammer über die Krise des Wirtschaftsstandortes Deutschland, die Welt braucht einen integrierten Wirtschaftsraum Europa. Das ist die Botschaft, die gerade jetzt, vor den Europawahlen, in keinem einzigen Wahlprogramm zu hören ist. Wie stellt Ihr Euch das denn überhaupt vor? Befinden wir uns tatsächlich auf einem schleichenden Austritt aller Mitgliedstaaten aus der EU, nicht zuletzt mit deren ständigen Wachstumsphantasien? Das gefällt mir ganz und gar nicht.

Naja. Mir gefallen ja viele Dinge nicht, zum Beispiel die anhaltenden Meldungen über die russischen Versuche, sich in die Europawahlen einzumischen. Wenn irgend ein Medium gerade eine Leerstelle hat in einem Informationsgefäß, schreibt die zuständige Redaktorin einfach einen Artikel über russische Trolle. Dabei gibt es ja ganz normale russische Medien, die überall erhältlich sind, zum Beispiel die Voice of Europe. «Das Internetportal verbreitet russische Propaganda in mehreren Sprachen», schreibt die österreichische «Profil»; und wie steht es beispielsweise mit Russia Today? Als ich diese Webseite am Montag wieder einmal besuchen wollte, erhielt ich vom schlauen Buch des Fähnleins Fieselschweif die Nachricht, dass diese aufgrund der EU-Verordnung 2022/350 vom 1. März 2022 derzeit nicht verlinkt werde. Auch mit der Voice of Europe hat man seine Mühe. Ich glaube, die Zuständigen und die Politiker:innen spinnen. Haben die wirklich den Eindruck, dass diese Sorte von Informationen ansteckend ist wie zum Beispiel Corona? Das Bild von den mündigen Bürger:innen, das hinter solchen Prozeduren steckt, entspricht offensichtlich genau jenem, mit dem Anti-EU-Regionalpolitik gemacht wird: In Deutschland und insonderheit in Bayern scheint eine erhebliche Anzahl an Volldeppen zu leben, mit denen und für die auch noch die Politik gemacht wird; dafür zunehmend für die anderen nicht mehr, die noch über ein bestimmtes Mindestmaß an Intelligenz verfügen. Das kann wiederum als Referenzgrösse für die Qualität des Bildungssystems verwendet werden.

Letzte Woche hat die bayrische Polizei zwei mutmaßliche russische Spione festgenommen, welche nicht nur militärische Anlagen ausspioniert haben, sondern voll und ganz einen Anschlag auf diese geplant haben sollen, ich stelle mir vor, die wollten wohl ein strategisch bedeutungsvolles Militärklo in die Luft sprengen. Was soll das, bittschön? So gehen weder Armeen noch Geheimdienste vor. Beeinflussung der öffentlichen Meinung im Ausland, meinetwegen, das hat lange Tradition; bei Euch heißt das entsprechende Organ ganz offiziell Deutsche Welle. Man kann so etwas auch klandestin machen respektive gewisse Falschmeldungen zu platzieren versuchen, unter anderem durch das Schmieren von Journalist:innen oder das Hacken von Websites, gebongt, aber das ist mehr oder weniger normales Tagesgeschäft. Aber auch Spionage und Sabotage gehören nicht nur zum Werkzeugkasten russischer Geopolitik, wie sich der ehemalige Präsident des BND verlauten ließ, sondern ganz selbstverständlich zum Werkzeugkasten jeglicher Geopolitik; und je nachdem, wie wichtig der Player in dieser Geopolitik ist, desto größer oder kleiner ist dann sein Werkzeugkasten. Ich stelle mir vor, dass der US-amerikanische ungefähr zehn Mal so groß ist wie jener der Russen.

Während mir also viele Dinge nicht gefallen, wie Ihr immer wieder zu hören kriegt, gibt es auch Dinge, die mir gefallen, allerdings kaum einmal mehr in der Politik. Seit sich die Welt nicht mehr um die Achse von Neuseeland und Finnland dreht mit den beiden höchst verehrungswürdigen Figuren Sanna Marin und Jacinda Ahern, kann man eigentlich nichts mehr brauchen, mindestens auf der Ebene der Verlautbarungen. Da muss man sich nach den schönen Dingen im Kleinen umsehen, in den Nachbarschaften, beim Umgang der Menschen miteinander. Auch in Deutschland gibt es sehr viele freundliche und vernünftige Menschen, stellt man wiederholt fest, wenn man das Land besucht, genauso wie in Frankreich und Italien. Übrigens und apropos Italien und apropos der dortigen Regierung mit den neofaschistischen Fratelli d'Italia an der Spitze: Der italienische Autor Antonio Scurati beschuldigt die staatliche Fernsehgesellschaft RAI, sie habe Zensur ausgeübt, indem sie seinen antifaschistischen Text kurzfristig aus dem Programm geworfen habe. Darin hatte er unter anderem den Neofaschisten vorgeworfen, nicht mit ihrer faschistischen Vergangenheit gebrochen zu haben. Darauf antwortete der Direktor der Fernsehanstalt, dass Scuratis Honorarforderung zu hoch gewesen sei; allerdings hatten beide Seiten den entsprechenden Vertrag bereits unterzeichnet, und das Honorar sei das gleiche gewesen wie für andere entsprechende Sendungen. Lustig sind die Reaktionen auf die eher demente Stellungnahme des RAI-Direktors. Die Präsentatorin der Sendung Chesarà, für welche der Text geschrieben worden war, las ihn einfach selber vor. Verschiedene Zeitungen druckten ihn ab. Zum Schießen aber war vor allem die Reaktion von Giorgia Meloni, an die sich verschiedene Vorwürfe von Scurati richteten. Sie hat schon lange behauptet, dass sich ihre Partei schon vor Jahrzehnten vom Faschismus gelöst habe, was so zweifelsfrei nicht stimmt, aber für sie selber eventuell doch zutrifft. Jedenfalls publizierte sie den Text von Scurati ihrerseits in voller Länge auf ihrer eigenen Facebook-Seite.

Ich nehme mal an, dass das stimmt, denn ich habe die ganze Geschichte von der Webseite des englischen «Guardian». Dort findet sich auch der Wortlaut von Melonis Reaktion: «Die RAI hat sich einfach geweigert, 1800 Euro für einen einminütigen Monolog zu bezahlen. 1800 Euro entspricht dem Monatslohn zahlreicher einfacher Beschäftigter. Ich kenne nicht alle Hintergründe, aber ich publiziere den Text gerne auf meiner Facebookseite und hoffe, dass ich dafür kein Honorar bezahlen muss, und zwar aus zwei Gründen: Erstens werden wir, die wir immer von den öffentlichen Medien behindert und zensiert worden sind, niemals nach Zensur wem auch immer gegenüber schreien, nicht einmal gegenüber jenen, die meinen, dass ihre Antiregierungspropaganda mit dem Geld der Steuerzahler:innen bezahlt werden muss. Zweitens: weil die Italiener:innen den Inhalt selber frei beurteilen können.»

Davon einmal abgesehen versteht es sich von selber, dass die staatlichen RAI-Fernsehsender immer von den jeweils an der Macht befindlichen politischen Parteien gekapert werden, also zweifellos im Moment von den Fratelli d'Italia. Aber die Reaktion von Frau Meloni dünkt mich doch recht souverän. Eine zweite Sanna Marin wird sie trotzdem nicht werden.

Kommentare
25.04.2024 / 18:50 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 25.04.. Vielen Dank !