Bruttosozialprodukt – der scheinbare Reichtum einer Gesellschaft (Moneycracy #4)

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Das Bruttosozialprodukt ist die bekannteste volkswirtschaftliche Größe. Regelmäßig wabert es durch die Medien und wenn mit dieser mystischen Zahl etwas nicht stimmt, dann wird der Gesichtsausdruck der 'Expertinnen' Ernst und die BürgerInnen werden auf 'enger zu schnallende Gürtel' eingestellt. Sinkt das Bruttosozialprodukt zwei Quartale in Folge, wie aktuell in der Bundesrepublik, ist die technische Definition einer Rezession gegeben und die Alarmglocken schrillen.
Doch was ist eigentlich dieses Bruttosozialprodukt?
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Upload vom 12.08.2023 / 08:48

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Klassifizierung

Type: Gebauter Beitrag
Language: deutsch
Subject area: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Series: Moneycracy
Entstehung

Author/s: F. Liberatout und Moneycracyteam
Radio: corax, Halle im www
Production Date: 12.08.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Bruttosozialprodukt – der scheinbare Reichtum einer Gesellschaft

Moneycracy – eine Podcastreihe über die Herrschaft des Geldes

Das Bruttosozialprodukt ist die bekannteste volkswirtschaftliche Größe. Regelmäßig wabert es durch die Medien und wenn mit dieser mystischen Zahl etwas nicht stimmt, dann wird der Gesichtsausdruck der 'Expertinnen' Ernst und die BürgerInnen werden auf 'enger zu schnallende Gürtel' eingestellt. Sinkt das Bruttosozialprodukt zwei Quartale in Folge, wie aktuell in der Bundesrepublik, ist die technische Definition einer Rezession gegeben und die Alarmglocken schrillen.
Doch was ist eigentlich dieses Bruttosozialprodukt?

In den vorhergehenden Folgen von Moneycracy haben wir über die Erfindung der Geldes gesprochen und wie diese Invention die gesamte Welt und das Zusammenleben der Menschen verändert hat. Wir haben erörtert, warum Reiche Menschen automatisch immer reicher werden und Arme günstigstenfalls arm bleiben.
Heute beschäftigen wir uns mit dem Reichtum eines Landes oder einer Gesellschaft. Wann ist ein Land reich? Deutschland gilt als reiches Land, sind deshalb seine BewohnerInnen wohlhabend?
Über einen langen Zeitraum der Geschichte wurden solche Fragen nicht gestellt. Es interessierte bis in die frühe Neuzeit nur, wie reich der jeweilige Herrscher war. Daher haben die Herrschenden auch über Jahrtausende mit ihrem Geld Schwanzvergleiche durchgeführt – am sinnfälligen ist das Phänomen bei den Geschlechtertürmen in der Toscana zu beobachten: jeder musste einen noch höheren als der Nachbar bauen. Ob bei all den Protzbauten Land und Volk verarmten, was sie regelmäßig taten, interessierte die Herrschenden nicht. Ab einem gewissen Punkt, musste es sie dann doch interessieren: wenn die Prunksucht das Land ausgeblutet hatte, war irgendwann Schluss mit lustig, worunter dann das nächste geplante Lustschloss leiden musste. Eine irritierende Vorstellung für die Herrschenden der damaligen Zeit.
Daher begann man ab der Renaissance sich grundsätzlicher Gedanken um den Wohlstand eines Landes oder Herrschaftsgebiets zu machen. Da ab diesem Zeitpunkt, Handel, Bankwesen und allgemeine Wirtschaft ein völlig neues Level erreicht hatten, standen auch andere Messmöglichkeiten zur Verfügung. Wer wissen wollte, wie wohlhabend eine Gegend ist, musste nicht mehr auf die Schlösserdichte pro 100 Quadratkilometer zurückgreifen.
Wie in den ersten drei Moneycracy-Episoden dargestellt, hatte das Geld mit Beginn der Neuzeit nahezu komplett die Herrschaft übernommen oder anders ausgedrückt: wer Herrschen wollte brauchte unbedingt Geld. Daher entwickelten schlaue Köpfe für ihre Herren erstmals Theorien, wie eine gut gefüllte Staatskasse zu erreichen sei. Die ersten Überlegungen blieben sehr nahe am Zielparameter: die erstmals ab dem 15. Jahrhundert bewusst durchgeführten Wirtschaftspolitiken sollten dafür sorgen, dass möglichst viel Geld in der Staatskasse vorhanden war. Da Geld zu diesem Zeitpunkt noch von den Edelmetallen Gold und Silber abhängig war, war dies auch gleichbedeutend mit dem Streben nach hohen Edelmetallreserven. Entsprechend wurde die Ausfuhr von Edelmetallen und Geld begrenzt oder verboten und die sogenannten Bullionisten, von englisch Bullion, der Goldmünze, ersannen Strategien, wie das Gold möglichst unangetastet in der fürstlichen Schatzkammer verbleiben konnte. Wie wir an den grundlegenden Funktionen des Geldes schon gesehen haben, war das eine ziemlich blöde Idee. Geld in einem Geldspeicher hilft der wirtschaftlichen Entwicklung nichts und vermehrt sich dort auch nicht, dazu muss es möglichst oft investiert und ausgegeben werden.

Reichtum und damit Macht ließ sich ab der Renaissance vor allem über Handel gewinnen. Während die Kaufleute an der Handelsaktion selbst profitierten, taten das die Herrschenden über Zölle und Abgaben. Das System, das wesentlich auch auf der Rohstoffausbeutung der neu eroberten Kolonien und der dort geraubten Güter beruhte, funktionierte für die Profiteure gut. Aber die Gier der Herrschenden war unersättlich, weshalb bald nach noch größeren Staatseinnahmen geforscht wurde. Sowohl in England als auch in Frankreich kam man etwa zeitgleich auf den Gedanken, den Reichtum des Staates, genauer des Herrschers, zu mehren, indem versucht wurde, wertmäßig mehr Güter zu exportieren als zu importieren. Dies ließ sich am einfachsten dadurch erreichen, dass billige Grundstoffen importiert und veredelte Waren exportiert wurden. Diesen Ansatz nennt man Merkantilismus und er prägt in Grundzügen die Wirtschaftsweise der entwickelten westlichen Länder bis auf den heutigen Tag. Als Grundsystem staatlicher Wirtschaftspolitik etablierte sich eine an Exportüberschüssen orientierte Wirtschaftsweise nahezu überall in Westeuropa. Der Wunsch, Importe gering zu halten, zeigte sich häufig in dem Verbot bestimmte Importwaren. Bekannt sind beispielsweise das Tabak-, Kaffee oder Importtuchverbote in zahlreichen Ländern.
Obwohl auf diese Weise tatsächlich Geld in Staatskassen gespült wurde, enthält der Merkantilismus mehrere Denkfehler:
1. Wenn alle mehr Exportieren als Importieren wollen, funktioniert das logischerweise nicht.
2. Die zahlreichen staatlichen Eingriffe, insbesondere um unerwünschte Importe zu verhindern, behinderten den Handel und die wirtschaftliche Entwicklung erheblich.
3. Ein bedeutender Teil der Wertschöpfung versackte in den Lust- und Kriegskassen der Herrschenden und trugen daher nicht weiter zur Wirtschaftsentwicklung bei.
4. Die Zölle und Abgaben, welche die Herrschenden finanzierten, behinderten den auf Handel und Austausch beruhende Merkantilismus nachhaltig.
5.Ein Großteil der Gewinne und des Wirtschaftswachstums im Merkantilen Zeitalter beruhten nicht auf den Prinzipien des Merkantilismus, sondern auf der Ausbeutung und Ausraubung der Kolonien.

Zusammenfassend gelang über die Wirtschaftsweise des Merkantilismus eine Vermehrung des Reichtums für die Gesellschaft als Ganzes nicht. Der dennoch erwirtschaftete Mehrwert versackte bei den Herrschenden und die Bevölkerung blieb arm. Die wesentlich Produktivkräfte waren Handel, Manufakturen und Kleingewerbe. Die wachsende gesellschaftliche Gruppe der wohlhabenden BürgerInnen wollte die Früchte ihrer Arbeit nicht mehr länger in Schlössern, Lustgärten und Kriegen angelegt sehen und strebte nach einem Staatswesen ohne absolutistischen Herrscher. So entstand die Idee des bürgerlichen Nationalstaates.

Mit dessen schrittweise Etablierung stellte sich erstmals in der Geschichte auch die Fragestellung nach dem kollektiven Reichtum des Staates. Der Nationalstaat, als ideeller Körper aller seiner BürgerInnen, sollte möglichst wohlhabend sein. Dies fand in der neuen Wirtschaftsdenkrichtung der Nationalökonomie ihren Ausdruck.
Dabei stellte sich allerdings das Problem, wie der kollektive Reichtum gemessen oder zumindest geschätzt werden konnte. In früheren Jahrhundert genügte das Zählen der Schlösser pro Landstrich, um eine ungefähre Ahnung zu bekommen. Auch der Pegelstand des Geldspeichers des Herrschers war leicht zu messen.
Aber wie sollte der gesellschaftliche Reichtum und dessen Entwicklung von Jahr zu Jahr, gemessen werden? Adam Smith, einer der großen Ökonomen jener Zeit, stellte die Theorie auf, wenn alle so gut wie möglich nach ihrem Vorteil strebten, würde aus der Summe der individuellen Profite auch maximaler gesellschaftlicher Profit. An dieser Annahme erwiesen sich mehrere Aspekte falsch, vor allem hilft sie nicht besonders gut beim Abschätzten des gesellschaftlichen Reichtums. Denn der individuelle Erfolg war damals, vor der Zeit der Computer und der sekundengenauen Überwachung nur sehr vage zu messen.
Zudem kämpfte man bereits damals mit dem Problem, was der Wert einer Sache überhaupt sei – wir haben dieses Thema bereits im Podcast Nummer 3 angerissen.
Ein Kilo lupenreiner Diamanten kann jeder und jedem von uns ein sorgenfreies Restleben ermöglichen, das war auch schon im 18. Jahrhundert so. Dagegen sind 10 Liter Wasser nicht einmal einen Euro wert und können mit viel Glück gegen ein belegtes Brötchen eingetauscht werden. Für eine verirrte Karawane in der Wüste haben die Diamanten allerdings gar keinen Wert, genauer gesagt, keinen Nutzwert. 10 Liter Wasser haben den maximal möglichen Wert, denn sie ermöglichen das Überleben. Dieser Sachverhalt wird ‚klassisches Wertparadoxon‘ genannt und ist weit mehr als nur ein nettes Gedankenspiel. Der Wert einer Sache ist höchst variabel und von den Bedingungen und der Situation einer wertermittelnden Transaktion abhängig.
Diese Variabilität von Werten macht es sehr schwierig, die Reichtumsentwicklung einer Gesellschaft zu bestimmen. Eine gesicherte Wasserversorgung hat, zumindest in Mitteleuropa, keinen großen nominellen Wert. Diamanten, die der deutsche Staat damals in seiner Kolonie Südwestafrika raubte, hatten einen nominell großen Wert, wenn sie einen Käufer fanden – zuvor waren sie einfach glitzernde Steine.

Es wird deutlich, den Wohlstand einer ganzen Gesellschaft zu erfassen ist ein nahezu unmögliches Unterfangen. Wir müssen uns darauf beschränken, uns der Sache zu nähern.
Wie wir bereits gesehen haben, bestimmt im Kapitalismus erst die konkrete Tauschaktion den Wert einer Sache. Diesem Umstand trug die sogenannte Neoklasssische Theorie in den Wirtschaftswissenschaften Rechnung. Sie entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ist in ihrer Denkweise und Begrifflichkeit leider nicht besonders leicht verständlich. Der Kerngedanke beschäftigt sich mit sogenannten Grenzphänomenen wie Grenzkosten oder Grenznutzen. Damit das verständlich wird, kehren wir zu unserer verirrten Karawane in der Wüste zurück. Dort seien 10 Reisende ohne Wasser gestrandet. Wir nehmen nun an, 9 seien bereits mit Wasser versorgt, woraus sich ergibt, dass für den 10. Reisenden die überlebenswichtige Wasserflasche ebenfalls einen hohen Wert hat. Ist auch er versorgt, kann der Händler mit den 11. Wasserflasche nicht mehr denselben hohen Preis erzielen. Die 10. Flasche erzielt also den Grenznutzen. Was hier vielleicht etwas konstruiert klingt, hat durchaus sehr durchschlagende praktische Relevanz. Wir hatten in unserem letzten Podcast bereits festgestellt, dass sich Herr Marx mit seiner Werttheorie verrannt hatte, weil er versuchte, den Wert über die darin steckende Arbeit zu definieren - was real nicht funktioniert. Ich kann über viele tausend Stunden mit den teuersten Materialien die tollste Tiefkühltruhe aller Zeiten bauen, sie wird in Grönland keine Abnehmer finden und dort einen geringen Wert aufweisen – vielleicht noch als spiritueller Kultgegenstand. In Sri Lanka wird sie dagegen, wenn es vergleichbares nicht gibt, sehr viel wert sein. Es kommt also entscheidend auf die Bedingungen und Gegebenheiten an – in der Neoklassischen Theorie nennt man das Allokation – also möglichst gute Bereitstellung eines Produktes. Eine Tiefkühltruhe sollte in die Tropen, nicht in die Arktis verkauft werden.
Trotz Fortschritten gegenüber früheren Ansätzen konnte auch die Neoklassische Wirtschaftstheorie das reale Wirtschaftsgeschehen weder befriedigend erklären noch eine Entwicklung vorhersagen. Es gibt vielfältige Ansatzpunkte für Kritik, hier soll eine herausgegriffen werden, von der ihr vielleicht schon mal gehört habt: Auch das neoklassische Modell geht von einem rational handelnden Homo öeconomicus – also einem wirtschaftlich sinnvoll handelnden Menschen aus. Wir alle wissen aus eigener Lebenserfahrung, dass wir keinesfalls immer rational ökonomisch sinnvoll handeln – das wäre auch kaum erstrebenswert. Betrachten wir aktuelle Wirtschaftsgrößen wir Elon Musk, so können wir hier schwerlich einen rational handelnden Homo ökonomicus erkennen – seinem Aufstieg zum reichsten Menschen des Planeten hat es nicht geschadet.
Schön für Herrn Musk, aber wir haben unser Problem noch nicht gelöst. Wie messen wir den Reichtum und die Entwicklung einer Gesellschaft?

Dazu gab es erstaunlich lange keine brauchbaren Ideen. Erst die große Depression in den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts änderte daran etwas. In dieser größten und folgenreichsten Wirtschaftskrise der jüngeren Zeit entstand das dringende Bedürfnis, die wirtschaftliche Lage und Entwicklung besser fassen zu können. Der englische Chemiker Clark fand es derart unwissenschaftlich, wie die damaligen Wirtschaftswissenschaftler mit der dramatischen Lage umgingen, dass er sich eigene Gedanken machte. Er legte der wirtschaftlichen Leistung einer Gesellschaft, in der damaligen Bezeichnung einer Volkswirtschaft, folgende 3 zentrale Kennzahlen zu Grunde:
Wie viel wird pro Jahr produziert?
Wie viel wird pro Jahr konsumiert?
Wie sieht die Verteilung der Einkommen aus?
Auf dieser Basis schuf der US-Wirtschaftswissenschaftler Simon Kuznets eine Kennzahl, die für den damaligen amerikanischen Präsidenten Roosevelt den Zustand der US-Wirtschaft beschrieb. Das Bruttosozialprodukt war erfunden.
Die Kennzahl wurde verfeinert und eroberte nach dem amerikanischen Sieg im Zweiten Weltkrieg als entscheidende Volkswirtschaftliche Größe den Planeten.
Sie wird im Wesentlichen über den Wert der Waren und Dienstleistung, die in einer Gesellschaft hergestellt wurden, berechnet. Hinzu kommen die Einkommen über Arbeitsentgelte oder über Kapitalerträge. Im Detail werden dabei noch verschiedenen Abgaben und Subventionen, Importe und Vorleistungen gegengerechnet, aber als wichtige Take home Botschaft genügt: Summe der Waren und Dienstleistungswerte plus Gehälter und Kapitalerträge.
Hiermit war die wichtigste Volkswirtschaftliche Kennzahl der letzten 8 Jahrzehnte etabliert.
Leider hat sie wesentliche Tücken und Defizite:
1. Nehmen wir an, ihr besitzt einen Wald. Holzt ihr diesen ab, dann entsteht ein Wert, der das Bruttosozialprodukt erhöht. Lasst ihr ihn stehen, entsteht keine messbaren Wertzuwachs, obwohl das sowohl für euer eigenes Wohlergehen als auch das eurer Kinder das wesentlich werterhaltener Vorgehen ist. Anders ausgedrückt: Der Verbrauch von Ressourcen steigert das Bruttosozialprodukt, während die Bewahrung der Ressourcen keinen Effekt hat.
2. Wenn ein Wirbelsturm eure Stadt verwüstet, dann erhöht das, über die dadurch notwendige Bautätigkeit, das Bruttosozialprodukt erheblich gegenüber dem Zustand, wenn der Sturm euch nicht getroffen hätte.
Also obwohl ihr selbst Verluste erleidet, steigt das Bruttosozialprodukt – also der damit errechnete gesamtgesellschaftliche Reichtum.
3. Die aktuelle Kennzahl enthält, im Gegensatz zu den Grundüberlegungen von Clark, keine Größe mehr zur Verteilung der Einkommen. Wenn in einem Szenario 100 Menschen extrem viel reicher werden und die übrigen 80 Millionen dagegen verarmen, kann das Bruttosozialprodukt dennoch steigen, wenn die Milliardäre genug neue Milliarden scheffeln. Obwohl also mehr als 99 Prozent der Bevölkerung ärmer wird, steigt die sogenannte Wohlstandzahl des Bruttosozialprodukts.
4. Die Kapitalerträge gehen, wie erwähnt, in das Bruttosozialprodukt ein. Im entfesselten Finanzmarktkapitalismus seit 1990 werden Vermögen, also Werte, im Wesentlichen virtuell gemacht. In vielen Ländern sind diese Kapitalmarktgewinne wesentlich entscheidender als die Wertsteigerungen über reale Produktion. Es gibt zahlreiche Firmen, die hunderte Millionen in Aktien Wert sind, obwohl ihre realen Sachwerte sich nicht einmal auf eine Million belaufen. Entsprechend beruht ein nicht unerheblicher Anteil des sogenannten Wirtschaftswachstums auf Spekulation und virtuellen Gewinnen.

Die Liste ließe sich fortsetzen. Das Bruttosozialprodukt wird seit langem fälschlich mit dem Volkseinkommen gleichgesetzt und steht in Wirklichkeit nur für eine Kenngröße mit begrenzter Aussagekraft. Hilfreich ist sie lediglich dahingehend, die Produktion und den Konsum in einer Gesellschaft abzubilden. Dabei ist in sehr eindimensionaler Denkweise MEHR stets besser. Einer der zentralen Denkfehler soll nochmals verdeutlicht werden: wenn das Ahrtal durch eine Flutkatastrophe zerstört wird, müssen viel Dinge neu produziert, gebaut und konsumiert werden, das Bruttosozialprodukt steigt. Selbstverständlich wäre es auch jedem denkbaren Blickwinkel besser, die Katastrophe hätte nicht stattgefunden, auch wenn die götzengleich angebetete Kennzahl dann niedriger ausgefallen wäre.
Wesentliche politische Entscheidungen werden in der von dieser zentralen Wirtschaftsgröße abhängig gemacht. Sie legt beispielsweise fest, ob wir uns in einer sogenannten Rezession befinden. Wenn in Deutschland das Wachstum niedriger ausfällt, als in vergleichbaren Ländern, dann ist das ein unabweisbarer Grund, die Bedingungen für das Kapital zu verbessern. Dieser Logik folgte zuletzt bilderbuchhaft der sich sozialdemokratisch nennenden Kanzler Schröder. Die Folgen waren Sozialabbau, Hartz4, Kahlschlag im Gesundheitswesen und ein ausufernder Niedriglohnsektor - alles damit das heilige Bruttosozialprodukt steigen möge.
Das Bruttosozialprodukt ist eine radikal überschätzte Kennzahl, die dringend reformiert gehört, diese Erkenntnis ist nicht neu. Das Problem ist allerdings ähnlich, wie all die Jahrhunderte zu vor: eine bessere Alternative zu finden ist nicht einfach.
Einig ist man sich heute zweifellos darüber, dass Umwelt und Ressourcenaspekte viel stärker Berücksichtigung finden müssen. Schwieriger wird es, wenn diverse Softkategorien von Well-Being und world-happinees mit verwoben werden sollen. Diese Größen sind oft unscharf definiert und schwer zu erheben und ihr Bezug zu wirtschaftlichem Handeln zu indirekt. Da wäre es besser, das Bruttosozialprodukt das sein zu lassen, was es ist: eine Maßzahl für Produktion und Konsum – das Glück der Menschen muss dann anders gemessen werden, wenn man es überhaupt messen kann und soll.

Ganz fundamental drängt sich bei der Kritik am Bruttosozialprodukt auch die Frage auf, wie unser Wirtschaftssystem ohne Wachstum auskommen kann. Postwachstumökonomien legen den Fetisch um das permanent wachsende Bruttosozialprodukt ab, das scheint vielversprechend. Allerdings scheinen sich nicht alle Theoretiker darüber im klaren zu sein, dass so etwas innerhalb des Kapitalismus mit seiner Wachstumsnotwendigkeit nicht zu machen ist.
Wir werden im nächsten Beiträg erörtern, warum Wachstum im kapitalistischen System unverzichtbar ist und auch sehen, dass die Grenzen dieses Wachstums die ganze Gesellschaftsordnung notwendigerweise zum Wanken bringt.

Bis dahin verabschiedet sich euer Moneycracy-Team und dankt für euer Interesse und Aufmerksamkeit.

Anregungen, Rückmeldung und Themenvorschläge bitte an moneycracy <ät> riseup.net

Kommentare
14.08.2023 / 20:04 Andreas, Radio T
Ausschnitte gesendet im Detektor vom 14.08.23
Vielen Dank!