Das Ende des rheinischen Kapitalismus. Nach einem Text von Robert Kurz (Krisis)

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Kurzkommentar
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Upload vom 12.03.2003 / 00:00

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Wert-Los
Entstehung

AutorInnen: Kooperative Haina / Radio FREI
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 12.03.2003
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
DAS ENDE DES RHEINISCHEN KAPITALISMUS

Von Robert Kurz

Konservative Historiker rufen zum zivilen Ungehorsam auf, Vorstandsvorsitzende von DAX-notierten Konzernen denken laut über eine militante Straßendemo von Aufsichtsräten (gewissermaßen als "Nadelstreifen-Block") nach, und in der Bundesregierung scheinen Umgangsformen wie im rumänischen ZK kurz vor dem Untergang einzureißen. Ist was? Nun, die sozialökonomische Krisenschraube hat sich wieder einige Windungen weitergedreht. Die Baisse an den Finanzmärkten schlägt jetzt mit voller Wucht auf die Staatsfinanzen und die sozialen Sicherungssysteme zurück. Es geht schneller als erwartet ans institutionelle Eingemachte. Aber wessen Eingemachtes?

Sozialabbau gibt es in der ganzen Welt seit gut 20 Jahren. Aber eben in unterschiedlichem Ausmaß und Tempo. In den angelsächsischen Ländern war der Welfare-Staat nie so weit ausgebaut wie in Europa; aber soweit es ihn gab, wurde er in der Weltkrise der 3. industriellen Revolution viel schneller und brutaler liquidiert als in Europa, egal ob unter Regierungen von Republikanern oder Demokraten, von Konservativen oder Labour. In Kontinentaleuropa waren bislang die institutionellen Widerstände größer. Der langsamere Sozialabbau wurde als alternatives Modell verkauft. In Deutschland nannte sich das "rheinischer Kapitalismus", der von rechts bis links immer noch als die "sozialverträglichere" Variante beschworen wird.

Die geographische Bezeichnung "rheinisch", bezogen auf die alte Bundesrepublik und ihre Erhardsche "soziale Marktwirtschaft", wird allerdings dem wahren Muster der deutschen Sozialstaatstradition nicht ganz gerecht. Viel eher müßte man von einem "preußischen Modell" sprechen. Die Wurzeln dieser Tradition gehen weder auf die alte Arbeiterbewegung noch auf ein republikanisches Muster von Staatsgarantien wie in Frankreich zurück, sondern auf die "weiße Revolution" Bismarcks. Vom autoritären Wilhelminischen Reich über die Nazis bis zur heutigen Groß-BRD war Sozialstaatlichkeit stets eingebunden in die blutsdeutsche "Volksgemeinschaft"; institutionalisiert im bis heute nicht beseitigten Staatsbürgerschaftsrecht eines irren Abstammungsmythos, im Beamtenrecht und in der ethno-rassistischen Ausrichtung der sozialstaatlichen Institutionen.

Das deutsche Verständnis von "sozialer Verantwortung" hat nichts mit Emanzipation und Solidarität von unten zu tun, sondern läuft auf das Ideal einer gemäßigten, patriarchalisch gesponserten Armut im Stammesdunst eines arischen Menschenstalls hinaus. Das ganze Ethos von öffentlichem Dienst und sozialen Rechten ist in Deutschland dadurch versaut, daß es auf einem Mechanismus ethno-kultureller, biologistischer und letztlich antisemitischer Selektion im Rahmen einer preußisch inspirierten Staatsbürokratie beruht. Auf dieses Ticket reiste auch die ostdeutsche Pseudorevolution eines deutschnationalen DM-Mobs heim ins Reich, um zu ernten, was sie verdient hatte. Die Alternative einer anti-preußischen Reform der DDR wurde nicht ernsthaft in Erwägung gezogen.

Aber Preußen ist finstere Geschichte; unter dem Dach der Pax Americana ist es mit der deutschen Weltmachtherrlichkeit längst vorbei; und im Zeichen einer transnationalen Betriebswirtschaft der Globalisierung gibt es keinen Platz für eine paternalistische "Betriebsgemeinschaft" oder "Betriebsfamilie" mehr. Deshalb kann die fortschreitende Krise auch nicht mit den alten Mitteln der nationalimperialen Mobilmachung gelöst werden. Bei den neuen Kriegen darf die BRD höchstens unbedeutende Auxiliartruppen der letzten Weltmacht USA stellen; und es sind auch keine nationalen Eroberungskriege mehr, sondern Weltordnungs- oder Polizeikriege im Raum eines planetarisch vereinheitlichten kapitalistischen Systems. Die Krisen können also nicht mehr durch einen Sozialdarwinismus nach außen, sondern nur noch durch einen Sozialdarwinismus nach innen verarbeitet werden.

Bis jetzt verfuhren die Bundesregierungen seit der deutschen Vereinigung dabei mit angezogener Handbremse und immer noch in den Grenzen der ethno-institutionellen "Volksgemeinschaft". Der im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern gemäßigte Sozialabbau ging einher mit einer stetigen Verschärfung der Ausländergesetze und einer von ethnischer Stallwärme getragenen Milde gegenüber rassistischen Schlägerbanden. Aber inzwischen wird nach der altdeutschen Weltmacht- auch die neodeutsche Weltmarktherrlichkeit abgeschmolzen. Mit dem neuen Krisenschub nach dem Ende des Finanzblasen-Kapitalismus geht es endgültig ans Eingemachte der "Volksgemeinschaft".

Deshalb die Anzeichen von Panik. Die gesamte politische Klasse besonders der großen "Volksparteien" zögert und zaudert, weil sie die politische und soziale Destabilisierung des "rheinischen (in Wahrheit preußischen) Kapitalismus" fürchtet. Die kapitalistischen Funktionseliten dagegen laufen Sturm; sie wollen den Befreiungsschlag. Die "Volksgemeinschaft" wird endgültig von oben aufgekündigt. Mit den Zusammenbruch der Bismarckschen Sozialsysteme bekommen wir die berühmten amerikanischen Verhältnisse. Das bedeutet einerseits einen gewaltigen Armutsschub und den zynischen innergesellschaftlichen Sozialdarwinismus. Andererseits wird damit auf kapitalistische Weise der historische Augiasstall der deutschen Ethno-Blutsgemeinschaft sauber gespült. Die Verhältnisse werden nicht bloß unerträglich, sondern endlich auch offen.

Die Linke muß sich entscheiden. Der klägliche Appell an den dahinschwindenden "rheinischen Kapitalismus" ist erstens hoffnungslos unrealistisch und zweitens nur Wasser auf die Mühlen einer "völkischen", ethno-rassistischen Krisenverarbeitung; Futter für die Dumpfbacken. Dasselbe gilt für die "Völkertümelei" in der Opposition gegen die Weltordnungskriege. Der globale Ethno-Zoo ist eine Imagination allein für Rechtsradikale und imperiale NATO-Strategen. Die ethnische Instanz war schon immer reaktionär, auch wenn sie von links angerufen wurde. In der neuen Weltkrise kann für die Linke nur gelten: Null Toleranz für jeden "völkischen" Zungenschlag. Auf der Tagesordnung steht die Aufkündigung jeder "Volksgemeinschaft" von unten und die Konstitution einer auch an der Basis transnationalen, weltumspannenden Sozialbewegung unter Einschluß aller "Ausländer", Migranten und Illegalen.