Tschetschenien - Die Aufbruchsjahre, Teil 4 von 6

ID 26510
 
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Anmoderation zur zweiten von zwei Sendungen über Tschetschenien. Studiogespräch (Januar 2009) mit der in Darmstadt im Exil lebenden tschetschenischen Journalistin Mainat Kourbanova, insbesondere über den Aufbruch der 1990er Jahre und seiner Probleme.

Teil 1 - Anmoderation
Teil 2 - Studiogespräch, Teil 1 (35:37)
Teil 3 - Abmoderation

Teil 4 - Anmoderation und Kurzrezension
Teil 5 - Studiogespräch, Teil 2 (37:37)
Teil 6 - Abmoderation

Die Zwischenmusik wurde weggelassen, daher sind die gesendeten beiden einstündigen Sendungen hier kürzer.
Audio
07:00 min, 3279 kB, mp3
mp3, 64 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 23.02.2009 / 23:51

Dateizugriffe: 298

Klassifizierung

Beitragsart: Rezension
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Walter Kuhl
Kontakt: info4(at)waltpolitik.de
Radio: dissent, Darmstadt im www
Produktionsdatum: 23.02.2009
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Sendemanuskript:

Vor zwei Wochen habe ich an dieser Stelle den ersten Teil eines aufgezeichneten Gesprächs mit der zur Zeit in Darmstadt lebenden tschetschenischen Journalistin Mainat Kourbanova vorgestellt. Mainat Kourbanova lebt im Exil, nachdem sie und ihre Tochter von den tschetschenischen Schergen der russischen Okkupanten bedroht worden waren. Auf einer von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt aufgezeichneten Veranstaltung in der Kunsthalle Darmstadt im Januar 2008 hatte sie erzählt, was das bedeutet, mitgenommen zu werden und zu wissen, gleich sterben zu müssen. Sie hatte ihr eigenes Grab schaufeln müssen.

Daß sie überlebte, hat sie vielleicht nur der Tatsache zu verdanken gehabt, daß zufälligerweise in einem kurzen Zeitfenster die Repression gegen Journalistinnen und Journalisten in Rußland und Tschetschenien auch im Westen kritisch wahrgenommen wurde. Ansonsten herrscht Schweigen. Die Mörder können weiter morden, ihre Opfer verschwinden lassen und in Freiheit weiterleben.

Das alles nicht zu vergessen, hat sich Mainat Kourbanova aufgemacht aufzuschreiben, was geschehen ist, damit die Menschen, ihre Namen und ihre Geschichten nicht verloren gehen. Eine kurze derartige Geschichte ist vor kurzem im Jahrbuch für Literatur im Brandes & Apsel Verlag erschienen. “Wie soll ich dich lieben, Grosny?”, fragt sie und bringt uns den Krieg und den Terror auf eine Weise hautnah nahe, wie wir sie vielleicht lieber nicht ertragen wollen. Sie erzählt darin, was es heißt, auf die Häscher und Mörder zu erwarten, zu wissen, sie werden im Morgengrauen kommen und dich mitnehmen, und du kannst ihnen nicht entkommen. Wie sie dein Leben und deine Träume bestimmen, wo du doch nur noch einmal den Zauber eines Morgenaufgangs im Mai erleben wolltest, etwas, was für uns selbstverständlich sein kann, aber in Grosny tödlich zu enden droht.

Sie erzählt aber auch, wie der Tod alltäglich in Grosny auf die Menschen wartet, wenn sie im Café sitzen oder an der Haltestelle auf den nächsten Bus warten. Und sie schreibt gegen die Lüge an, die derartige Attentate irgendwelchen islamistischen Fundamentalisten zurechnet, wo sie doch nur allzugut weiß, wozu die russischen Spezialkräfte in der Lage sind. Eindringlicher als hier können wir kaum das Grauen, das nicht nur am Morgen kommt, erfahren, ein Grauen, das weit von uns weg ist und uns nicht betrifft. Denn wir leben hier, relativ sicher und wohlbehütet. Hier werden wir nur von Arbeitsagenturen oder durch den Leistungsdruck in Callcentern, Zeitarbeitsfirmen und anderen Ausbeutungsmaschinen schikaniert, aber in Grosny und erst recht in den ländlichen Regionen Tschetscheniens ist die Schikane eine tödliche Waffe.

Das inzwischen vierzehnte im Brandes & Apsel Verlag herausgebrachte Jahrbuch für Literatur ist nicht durchgängig derart direkt. Aber es bringt Facetten zum Vorschein, die darauf hindeuten, daß Literatur nicht einfach für sich steht, sondern einen gesellschaftlichen Kontext besitzt, zumindest haben sollte. Der Titel des Jahrbuchs lautet “Vor dem Umsteigen” und wir steigen nicht nur um, sondern auch ein oder aus, warten an der Bahnsteigkante auf das, was kommen mag, lassen uns anregen oder Verbindungen verpassen. Manche Texte sind nur Appetitanreger für die ganze Geschichte, die woanders ausführlicher zuende erzählt wird, manche Texte – wie der von Mainat Kourbanova lassen uns den Appetit vergehen.

Und doch – wo uns die in Deutschland aufgewachsene Armenierin Rafaela Toumassian erzählt, was es heißt, ihr Heimatland zu besuchen, wo uns Volkhard Brandes in schlichten, aber beredten Worten erzählt, was wichtig an 1968 war und weshalb wir es nicht vergessen, sondern daran anknüpfen sollten, dann werden die Grenzen der Literatur erreicht, wenn nicht gar überschritten. Lyrik gibt es allerdings auch oder einen Essay zu Bob Dylan, der in den 60ern die Bildersprache der Popmusik revolutioniert hat. Mir war sicherlich der kurze, aber literarisch durchaus anspruchsvolle Text von Mainat Kourbanova wichtig, doch das Jahrbuch für Literatur ist eben auch etwas anderes als eine politische Anklage. Die 366 Seiten mit dem Titel “Vor dem Umsteigen” sind im Brandes & Apsel Verlag zum Preis von 24 Euro erschienen.


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Und damit komme ich wieder auf den ersten Teil meines Gesprächs mit Mainat Kourbanova zurück, das ich Anfang des Jahres mit ihr geführt habe. Mir ging es hierbei weniger um die beiden Tschetschenien-Kriege und die Tschetschenisierung des Krieges derzeit, wenn Tschetschnenen andere Tschetschenen im Namen Moskaus – und das heißt natürlich auch: Wladimir Putins – liquidieren, verfolgen, terrorisieren oder einfach nur verschwinden lassen. Vielmehr habe ich mich gefragt, was es für die Menschen in Tschetschenien bedeutet hat, sich die Unabhängigkeit zu nehmen und nach eigenen Vorstellungen zu leben. Und eine Aussage wie die, Grosny als eine Stadt in Erinnerung zu haben, in der immer die Sonne schien, drückt ein Lebensgefühl aus, das für uns allenfalls mit 1968 assoziiert werden kann.

Im heutigen zweiten Teil wird uns Mainat Kournabova berichten, wie sie als Chefredakteurin des tschetschenischen Staatsfernsehens gearbeitet hat, wie die Menschen in einem durch den ersten, von Boris Jelzin angezettelten und verlorenen Krieg zerstörten Land gelebt haben, welche Rolle die verschiedenen Clans im politischen Leben des Landes wirklich spielen und wie der Statthalter Moskaus das Land regiert. Ich hoffe, daß dieses aufgezeichnete Gespräch für euch genauso interessant sein wird, wie es für mich gewesen ist. Am Mikrofon für die Redaktion Alltag und Geschichte ist Walter Kuhl von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.