Tschetschenien - Die Aufbruchsjahre, Teil 1 von 6

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Anmoderation zur ersten von zwei Sendungen über Tschetschenien. Studiogespräch (Januar 2009) mit der in Darmstadt im Exil lebenden tschetschenischen Journalistin Mainat Kourbanova, insbesondere über den Aufbruch der 1990er Jahre und seiner Probleme.

Teil 1 - Anmoderation
Teil 2 - Studiogespräch, Teil 1 (35:37)
Teil 3 - Abmoderation

Teil 4 - Anmoderation und Kurzrezension
Teil 5 - Studiogespräch, Teil 2 (37:37)
Teil 6 - Abmoderation

Die Zwischenmusik wurde weggelassen, daher sind die gesendeten beiden einstündigen Sendungen hier kürzer.
Audio
09:20 min, 4378 kB, mp3
mp3, 64 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 23.02.2009 / 23:34

Dateizugriffe: 362

Klassifizierung

Beitragsart: Anderes
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Entstehung

AutorInnen: Walter Kuhl
Kontakt: info4(at)waltpolitik.de
Radio: dissent, Darmstadt im www
Produktionsdatum: 23.02.2009
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Sendemanuskript:

Das Thema meiner heutigen und auch meiner nächsten Sendung in zwei Wochen ist Tschetschenien. Tschetschenien ist eine kleine, von Rußland okkupierte Republik, etwa zwei Drittel so groß wie Hessen. Es wurde vom Zarenreich erobert und mit einer Festung gesichert, die den Herrschaftsanspruch verdeutlichte: Grosny, die heutige Hauptstadt, Grosny, die Schreckliche. Allerdings haben sich Tschetscheninnen und Tschetschnenen dieser für sie fremden Herrschaft nie ganz unterwerfen wollen. Zur Strafe ließ Stalin ein ganzes Volk deportieren, zu einem Zeitpunkt, als die deutsche Nazi-Wehrmacht vor Leningrad, Moskau und Stalingrad stand. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hinterließ ein Machtvakuum und brachte den Menschen Tschetscheniens einige Jahre der Freiheit, bevor Boris Jelzin seine Armee damit beauftragte, die abtrünnige Republik zurückzuerobern.

Es war ein blutiges Gemetzel, das nur noch durch das des zweiten Tschetschenienkrieges einige Jahre später überboten wurde. Bombenterror, Massaker, Filtrationslager, Verschwindenlassen usw., also die ganze Palette brutaler imperialer Macht, brach über Grosny und die Dörfer und Berge Tschetscheniens herein. Doch der erste Tschetschenienkrieg war auch in Rußland selbst unpopulär. Die Erinnerungen an den verlorenen Krieg in Afghanistan waren noch zu frisch und die Propagandamaschine arbeitete noch nicht auf Hochtouren. Der ehemalige Geheimdienstchef Wladimir Putin hat daraus gelernt und den zweiten Krieg so vorbereitet, daß er – wie bei George W. Bush – als Kampf des Guten gegen das Böse aussah.

Die Kriegsverbrechen und Kriegsgreuel sind bekannt. Anna Politkowskaja gehörte zu denjenigen Journalistinnen und Journalisten, die sich nicht einschüchtern ließen, die immer wieder nach Tschetschenien fuhren, um vor Ort zu recherchieren und die Wahrheit zu publizieren. Doch die Wahrheit hat es schwer in einer Welt, die von Geschäften und Profiten beherrscht wird. Selbstverständlich wußten Gerhard Schröder und Joschka Fischer über die brutalen Menschenrechtsverletzungen, die durchaus unter die UN-Völkermordkonvention fallen, Bescheid. Aber die Geschäfte gingen vor.

Unter Angela Merkel, die mit Wladimir Putin sogar auf deutsch und auf russisch parlieren kann, sieht es nicht anders aus. Das Geschäft geht vor, die deutsche Wirtschaft benötigt Aufträge und Rohstoffe aus dem riesigen russischen Imperium. Allenfalls wird das Wort Menschenrechte noch da eingebracht, wo es darum geht, den russischen Vertragspartnern ein Zugeständnis abzuringen.

Das alles ist bekannt. Wer die Wahrheit wissen will, kann sie nachlesen, kann sie sich anhören. Das Internet ist eine wahre Fundgrube der Anklage gegen die russische Führung und ihr Militär. Doch es interessiert nicht. Während beispielsweise Slobodan Milosevic, dem auch nicht annährend die Verbrechen der russischen Armee vorgeworfen wurden, vor der Tribunal nach Den Haag verschleppt wurde, erfreut sich Wladimir Putin bester Reputation. Es kommt eben immer darauf an, wer den Interessen des Kapitals nützt.

Vor wenigen Wochen, am 19. Januar, wurde am hellichten Tag in Moskau der Menschenrechtsanwalt Stanislaw Markelow erschossen. Seine Begleiterin, die Journalistin Anastasija Baburova, versuchte einzugreifen und wurde ebenso getötet. Sie arbeitete wie Anna Politkowskaja für die Nowaja Gazeta. Die tschetschenische Journalistin Mainat Kourbanova kommentierte für den Westdeutschen Rundfunk in diesem Zusammenhang den Zynismus westlicher Politik. Hierbei führte sie aus:

Ein paar Tage zuvor wurde der russische Ministerpräsident Vladimir Putin in Dresden feierlich begrüßt. Er erhielt einen Orden mit dem für sich selbst sprechenden Namen „Sächsischer Dankesorden“. Er, der Politiker, der in Russland ein System errichtet hat, in dem Nachrichten über ermordete Journalisten und Menschenrechtler niemanden mehr wundern. Ein System, in dem bis jetzt kein einziger Fall von demonstrativen Hinrichtungen derjenigen, die es noch wagen, sich gegen das Regime zu äußern, aufgeklärt wurde. Ein System, in dem Worte wie „Gesetz“ und „Gerechtigkeit“ wie Hohn klingen und die Mörder sich auf den Moskauer Straßen frei und unbedroht fühlen.

Wie viele Hinrichtungen an frei denkenden Menschen werden es noch sein, bevor er die Macht verlassen wird? Und wie viele Dankesorden warten noch auf ihn, hier im Westen? Vor allem aber – wofür?

Vor sieben Jahren, im September 2001, sprach Wladimir Putin im deutschen Bundestag. Es war eine ergreifende Rede, er sprach auf Deutsch und ging auf deutsche Befindlichkeiten ein, benannte Goethe, Dostojewski und Tolstoi, und er vergaß auch die deutschen Prinzessinnen nicht, die zu Zarinnen wurden. Eine solche Rede verdiente sich die im Protokoll der Bundestagssitzung ausdrücklich vermerkten standing ovations redlich. Applaudiert haben auch die damaligen Bundestagsabgeordneten Walter Hoffmann und Andreas Storm. Wer so schön redet, vor dem steht man auf, klatscht Beifall, und dem verzeiht man dann auch gerne einen Massenmord.

Mainat Kourbanova, die Rußlands Pressefreiheit unter dem Gefeierten am eigenen Leibe erfahren hat, lebt zur Zeit im Exil, in Darmstadt. Die 1974 geborene Journalistin mußte vor fünf Jahren nach mehreren Morddrohungen gegen sie und ihre Tochter das Land verlassen. Sie wurde vom P.E.N. Zentrum Deutschland in das Writers in Exile-Programm aufgenommen und war anschließend Stipendiatin des von der Stadt Darmstadt vergebenen Elsbeth-Wolffheim-Literaturstipendiums. Vielleicht muß ich es als Teil einer Wiedergutmachung betrachten, wenn Walter Hoffmann nun als Darmstadts Oberbürgermeister anläßlich der Vorstellung der Stipendiatin ihr für ihre Arbeit Respekt und große Anerkennung zollte.

Auf einer Lesung in der Kunsthalle Darmstadt, bei der sie ihren Text über Die Schrecken des Krieges vortrug, der sehr eindringlich und subjektiv den von Jelzin und Putin nach Grosny getragenen Krieg schildert, habe ich sie kennengelernt. Was mich bei dieser Lesung ganz unabhängig von der Beschreibung der Schrecknisse am meisten beeindruckt hat, war ihre Art der literarischen Aufarbeitung, der Reflexion und der trotz allen Horrors feinsinnigen Beobachtungen.

Anfang dieses Jahres hatte ich Gelegenheit, mit ihr über Tschetschenien zu sprechen. Da im Grunde in den westlichen Medien alles über die Situation in diesem kleinen nordkaukasischen Land gesagt worden ist, was zu sagen war, wollte ich nicht eine neue Platte mit denselben Inhalten auflegen. Offensichtlich ist es so, daß Massenmord nur dann interessiert, wenn er sich vermarkten läßt und eigenen imperialen, um nicht zu sagen: imperialistischen, Zielen dient. Was ich jedoch in der Literatur weitgehend vermißt habe, ist eine Beschreibung der Zeit zwischen den Kriegen, also der Zeit, in der Tschetscheninnen und Tschetschenen unter allen widrigen Umständen versuchen konnten, eine eigene Gesellschaft frei von Fremdbestimmung und Gewalt aufzubauen. Doch wie sah das aus?

Genau darum geht es in dieser und in meiner zweiten Sendung über Tschetschenien in diesem Monat. Eine kleine Anmerkung noch: die während des Gesprächs immer wieder zu hörenden Klopfgeräusche stammen von ihrer Tochter, die, während wir sprachen, vor sich hinspielte.

Das Gespräch führte Walter Kuhl von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.