Wie kam der Antisemitismus in den Nahen Osten?

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In seinem Buch "Nazis und der Nahe Osten - Wie der islamische Antisemitismus entstand" untersucht Matthias Küntzel den Einfluss der nationalsozialistischen Propaganda auf das Verhältnis vieler Muslime zu den Juden. Radio Dreyeckland hat sich auf den heiß umkämpften Boden begeben und das Buch rezensiert.



Matthias Küntzel

Nazis und der Nahe Osten

Wie der islamische Antisemitismus entstand

Hentrich & Hentrich

Leipzig 2019

272 Seiten, 19,90 €
Audio
11:18 min, 10 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 23.01.2020 / 15:18

Dateizugriffe: 96

Klassifizierung

tipo: Rezension
lingua: deutsch
settore/i di redazione: Politik/Info, Kultur
Entstehung

autrici/autori: Jan Keetman
Radio: RDL, Freiburg im www
data di produzione: 23.01.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Viele sind der Meinung, der Antisemitismusvorwurf werde pauschal gebraucht, um jede Kritik am Staate Israel zu verhindern. Dieses Argument ist aber selbst schon ein pauschales Totschlagargument. Es geht von einer verbreiteten, nicht hinterfragten Sicht auf den Palästina-Konlikt aus. Demnach begann alles mit der Vertreibung der Palästinenser*innen, auf die eine fortlaufende Unterdrückung folgte. Gewalt von der anderen Seite, inklusive zahlreicher terroristischer Aktionen wird lediglich als verzweifelter Widerstand wahrgenommen. Der ideologische Balast des Hasses auf Israel, der nahezu immer auch ein Hass auf alle Juden ist, wird einfach ignoriert. Auch die Funktionalisierung dieses Hasses durch rundweg fragwürdige Regime und Bewegungen funktionalisiert wird ausgeblendet.

Die nicht nur oberflächliche Vermischung von Judenhass und Religion, ist neben der lange überfälligen Aufarbeitung der Nazi-Propaganda im muslimischen Rahmen Hauptthema von Küntzels Buch.

So wie in Deutschland die antijüdischen Hetztiraden Martin Luthers mitgeholfen haben, dem Antisemitismus den Weg zu bereiten, haben muslimische Demagogen für ihren Judenhass ebenfalls religiöse Anknüpfungspunkte gefunden. Im Koran gibt es positive und negative Äußerungen über die Juden, was sich natürlich nicht irgendwie in der Mitte aufhebt. Die heftigste Wendung steht aber in einer sogenannten Hadith. Hadithe sind Berichte über Handlungen oder Aussagen des Propheten Mohammed. Zusätzlich wird angegeben wie die Hadith überliefert ist. Die Hadithe füllen mehrere Bände und sind teilweise umstritten. Eine Minderheit von islamischen Theologen lehnt sie sogar ganz ab. Eine Hadith hat es jedoch im 20. und 21. Jahrhundert zu einer besonderen Prominenz gebracht. Sie lautet:


„Der Gesandte Gottes - Gott segne ihn und schenke ihm Heil - sagt: 'Die Stunde (der Auferstehung) wird nicht kommen, bis die Muslime gegen die Juden kämpfen. Die Muslime werden sie töten, bis sich der Jude hinter Stein und Baum verbirgt, und Baum und Stein sagen: 'Oh Muslim, oh Diener Gottes! Da ist ein Jude hinter mir: komme und töte ihn!' Nur der Gharqad-Baum wird dies nicht tun, denn er ist ein Baum der Juden.'“


Matthias Küntzel weist zurecht darauf hin, dass hier Heilsversprechen und Judenmord miteinander verbunden werden. Diese Hadith wird in der Charta der Hamas zitiert. Bis heute hat sich die Hamas nicht eindeutig davon distanziert. Im Jahr 2017 machte der türkische Präsident Tayyip Erdogan eine unmissverständliche Anspielung auf die gleiche Hadith.

In seinem Buch führt Küntzel aus, dass die vom Propheten Mohammed besiegten Juden in der islamischen Welt als eine verächtliche Minderheit galten, wie auch die Christen. Eine Vorstellung von den Juden als mächtigen Weltverschwörern gab es nur in der europäischen, christlichen Tradition. Dass sich solche Vorstellungen ab dem 19. Jahrhundert auch in islamisch geprägten Gesellschaften ausbreiteten, führt Küntzel auf europäischen Einfluss zurück. Den Anfängen geht Küntzel weniger nach, sein Augenmerk gilt vorallem dem Einfluss der Nazi-Propaganda. Dazu hat er wenig beachtetes Archivmaterial durchgearbeitet, bzw. entdeckt.

In dem kleinen Ort Zeesen an einem See in Brandenburg verfügten die Nazis über einen ausgezeichneten Kurzwellensender. Das fremdsprachige Programm wurde aufgrund von Rückmeldungen den jeweiligen Ländern angepasst. Weil sich dies als besonders wirksam erwies, erhielt der Antisemitismus im arabischen Programm eine stark religiöse Note. Bei der islamischen Al-Azhar Universität in Kairo holten sich die Nazis eine Erlaubnis für das Rezitieren von Koran-Versen. So begann eine Propaganda-Sendung häufig mit ein paar Versen aus dem Koran.

Rundfunk war ein ganz neues Medium, das entsprechend faszinierte. In den muslimischen Ländern standen die Rundfunkgeräte häufig in Kaffeehäusern oder auf Plätzen, da es nur wenige Rundfunkgeräte gab, wurde in Gruppen gehört. Die Alliierten starteten Konkurrenzprogramme, sie wagten es aber nicht, auch gegen den Antisemitismus der Nazis zu argumentieren. Das hätte wie eine indirekte Bestätigung der Nazi-Propaganda ausgesehen. Schließlich behaupteten die Nazis dreist, die Alliierten seien von jüdischen Interessen geleitet.

1942 zeichnete die britische Botschaft in Kairo zum Beispiel folgendes Zitat aus einer deutschen Propaganda-Sendung auf:

„Araber Syriens, des Irak und Palästinas, worauf wartet Ihr? Die Juden haben vor, Eure Frauen zu schänden, Eure Kinder umzubringen und Euch zu vernichten. Nach der muslimischen Religion ist die Verteidigung Eures Lebens eine Pflicht, die nur durch die Vernichtung der Juden erfüllt werden kann.“

In der Regel führten solche Aufrufe nicht zu Angriffen auf Jüdinnen und Juden. Ein schweres Judenpogrom in der muslimischen Welt fällt allerdings in die Zeit der Hetztiraden aus Deutschland. Am 1. und 2. Juni 1941 wurden in Bagdad ungefähr 800 Jüdinnen und Juden regelrecht hingeschlachtet. Synagogen brannten wie drei Jahre zuvor in Deutschland.

Der langfristige Einfluss solcher Propaganda lässt sich natürlich schlecht messen. Immerhin kann der Autor einige Argumente für die Wirksamkeit der Propaganda anführen. Bei Umfragen urteilten Muslime in Ländern, die von Zeesen aus mit Nazi-Propaganda bestrahlt wurden, wesentlich schlechter über Juden als in Bosnien, das nicht vom Auslandsprogramm der Nazis erfasst wurde.

Viele Muslime haben sich bis heute ein positives Bild von Adolf Hitler bewahrt und zwar nicht trotz, sondern wegen des Holocausts. Der Rezensent kann das aus mehr als einem Gespräch leider bestätigen.

Am Tag vor der Kapitulation, am 7. Mai 1945 hatten die geschlagenen Deutschen noch immer ein Flugzeug übrig, um einen persönlichen Gast Adolf Hitlers in die Schweiz zu fliegen, den Mufti von Jerusalem Amin al-Husseini. Husseini gehörte zu den Initiatoren mehrerer Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung in Palästina und im Irak. Trotz seiner Beteiligung an Nazi-Kriegsverbrechen gelangte Husseini schließlich nach Ägypten. Mit propagandistischer Unterstützung durch die früher ebenfalls früher von den Nazis unterstützte Muslim-Brüderschaft gelangte der Mufti an die Spitze des Arabischen Palästina-Komitees. Er war ein Hauptverantwortlicher dafür, dass die arabische Seite den Teilungsplan für Palästina ablehnte und vier arabische Staaten den jungen jüdischen Staat überfielen.

An der Verbreitung des islamischen Antisemitismus waren die Nazis kräftig beteiligt, aber brachten sie damit auch etwas völlig neues in die Welt wie es im Klappentext des Buches heißt oder sprangen sie eher auf einen im Anfahren begriffenen Zug auf? Bereits bevor die Nazis in Deutschland an die Macht kamen gab es Pogrome an Juden in Palästina. Das schlimmste war das Massaker von Hebron bei dem 67 jüdische Bewohner Hebrons mit Beilen und Messern ermordet wurden, darunter 12 Frauen und drei Kleinkinder. Gleichzeitig wurden 435 Jüdinnen und Juden von ihren arabischen Nachbarn versteckt. Al-Husseini gilt als Drahtzieher auch dieses Massakers. Er rechtfertigte sich bereits damals mit den angeblichen Protokollen der Weisen von Zion. Er benutzte also einen zentralen Text des europäischen Antisemitismus. Die Verbindung mit antijüdischen Aussagen im Islam brauchten dem islamischen Würdenträger die Nazis nicht erst einzuflüstern. Bereits vor dem Pogrom von Hebron schürte Husseini Judenhass auch mit der Behauptung, die Juden wollten die heiligen Stätten des Islam auf dem Tempelberg zerstören. Ein absurder Vorwurf, der sich in der einen oder anderen Form bis heute gehalten hat.

Auch der Vergleich zwischen nahöstlichen und bosnischen Muslimen ist als Beleg für den entscheidenden Einfluss der Wirksamkeit der Radiopropaganda der Nazis nicht unbedingt geeignet. Schließlich erreichte die bosnischen Muslime Nazi-Propaganda auch auf anderen Wegen. Etliche tausend ließen sich für die SS rekrutieren, seelsorgerisch betreut von Hitlers Gast al-Husseini. Wenn es unter den bosnischen Muslimen weniger Vorbehalte gegen Juden gibt, dann kann das also nicht daran liegen, dass sie die Nazi-Propaganda zufällig nicht erreicht hätte.

Sicherlich waren 8 Jahre Judenhetze via Rundfunk aus Deutschland dem Antisemitismus in der muslimischen Welt förderlich. Aber es hing nicht alleine daran.

Ein Kapitel überschreibt Küntzel mit „Israels Schuld?“ mit Fragezeichen. Hier setzt sich Küntzel kritisch mit einigen Vorwürfen gegen Israel auseinander. Was Küntzel in diesem Kapitel schreibt ist nicht falsch, lässt aber Dinge aus, die sich nicht so einfach wegdiskutieren lassen.

Es gab auch eine israelische Terrororganisation, die Irgun aus der später der Kern des heutigen Liqud hervorging. Hinzuzusagen wäre allerdings, dass sich die Irgun erst nach Pogromen wie dem von Hebron formierte und dass sie die Antwort einer Minderheit darstellte.

Wenn man Küntzels Ausführungen in diesem Kapitel liest, so hat man den Eindruck, ein Teil der arabischen Bevölkerung sei halt während des Krieges davongelaufen und nicht wiedergekommen. Einige Vertreibungen hat es aber tatsächlich gegeben. Das sollte nicht verschwiegen werden. Von den Pauschalkritikern Israels werden diese Vertreibungen nicht erfunden, wohl aber aus dem Kontext gerissen. Der wäre, dass es die arabische Seite war, die 1947 den Teilungsplan der UNO ablehnte und stattdessen das kleine jüdische Siedlungsgebiet von allen Seiten angriff. Unerwähnt bleibt normalerweise, dass auch fast die gesamte jüdische Bevölkerung aus den Arabischen Ländern vertrieben wurde. Viele Palästinenser*innen konnten hingegen in Israel bleiben und erhielten volle Bürgerrechte, während aus Palästina geflohene Araber*innen in den arabischen Staaten außer Jordanien kein volles Bürgerrecht erhielten. All diese Umstände werden gerne unterschlagen. Trotzdem sollte der Autor nicht so tun, als habe es überhaupt keine Vertreibungen gegeben.

In weiteren Kapiteln setzt sich der Autor mit der Frage des Umgangs mit muslimischem Antisemitismus unter Migrant*innen und in Deutschland aufgewachsenen Muslimen auseinander. Er zitiert verschiedene Stimmen, die dafür plädieren, die hiesigen Muslime, etwa in Schulklassen doch ja nicht mit der deutschen Vergangenheitsbewältigung zu konfrontieren. Küntzel sieht darin eine Weigerung, die Muslime als mündige Bürger zu betrachten, einen „Rassismus der reduzierten Erwartung“. Das sieht der Rezensent nicht anders. Wie soll man denn über Antisemitismus reden, wenn man wegen dem ach so schlimmen Israel muslimischen Menschen in Deutschland die Geschichte des Holocaust nicht zumuten will? Es ist eine seltsame Art von „Rücksicht“, die vermutlich vorallem mit uneingestandenen Problemen der Mehrheitsgesellschaft zu tun hat.

Auf jeden Fall ist „Nazis und der Nahe Osten – wie der islamische Antisemitismus entstand“ eines von den politischen Büchern, die man gelesen haben sollte.