"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Gejammer

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Dass die Demokratien im Westen nicht wirkliche Demokratien seien, sondern nur Schauspiele einer Demokratie, habe ich schon verschiedentlich erwähnt; aber in diesem Schauspiel gaben sich über längere Zeiträume alle Beteiligten doch immer Mühe, ihre Rollen anständig zu spielen, vom grummelnden Wahlvolk bis hin zur ewigen Bundeskanzlerin. Jetzt ist das vorbei....
Audio
10:31 min, 19 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 05.11.2024 / 16:18

Dateizugriffe: 11

Klassifizierung

Type: Kommentar
Language: deutsch
Subject area:
Series: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

Author/s: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Production Date: 05.11.2024
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
In den Vereinigten Staaten versammelt ein hunds-oberlausiger Wrestler-Simulant die halbe Wählerschaft hinter sich, die Evangelikalen laufen dem obersten Hurenbock und Gotteslästerer hinterher, der sich sogar ans Geschäft mit der Bibel gemacht hat; in Deutschland hat die Regierung selber all das verloren, was jeden Organismus ausmacht, nämlich, sagen wir mal: optional eine Wirbelsäule, aber mindestens eine Epidermis, sogar der Zellkern bewegt sich in einer Zell-Haut, alles benötigt einen Oberflächen-Sack, der das zusammenhält, was darunter plodert, fettet und wuselt. Aber auch damit ist es vorbei! Man erinnert sich durchaus mit Wehmut an die Zeiten, als man wusste, dass man verarscht wird, als die Oberen sich aber immerhin bemühten, die Verarsche als Notwendigkeit, wo nicht im Interesse der Verarschten darzustellen. Es ist dahin, in der Demokratie hat man nicht mal mehr das Recht darauf, als blöd verkauft zu werden!

Das Theater der Demokratie ist zerfallen, die Kulissen abgebrannt. Dahinter aber findet nach wie vor das richtige Leben statt, und das schaut gar nicht immer so schlecht aus. Im Gegensatz zu anderen Grundsätzen gilt jener vom Sein, welches das Bewusstsein bestimmt, immer noch, und in diesem Sein haben sich enorm viele Dinge verändert und verändern sich noch. Die Wirtschaft, welche wir nach wie vor als das Gelbe vom Ei unserer Gesellschaften ansehen, durchläuft schon wieder eine Transformation, diesmal unter dem Titel Künstliche Intelligenz, worunter das gesamte Potenzial der ins Unermessliche und stets weiter wachsenden Rechner-, Speicher- und Über­tragungskapazitäten der digitalen Apparate gefasst wird. Es haut einem tatsächlich fast an jedem Tag den Schnuller aus dem Maul, welche Territorien die Mikroelektronik wieder neu sich ange­eig­net oder neu umgepflügt hat. Man fühlt sich hin und her gerissen; einerseits erleben wir einen weiteren Fortschritt in der Produktivität, der den allgemeinen Wohlstand und das Wohlbefinden weiter ansteigen lässt; anderseits gruseln wir uns vor einer diffusen Vorstellung darüber, dass die im digitalen Netz zusammengefügten Daten nicht nur schlauer sein werden als die Menschen, min­des­tens die einzelnen Individuen; dies ist bereits heute eine Tatsache. Aber das Gruseln betrifft eher jenes Gebiet, wo Entscheidungen fallen. Da sind wir wieder zurück beim politischen Prozess, und da entsteht bereits die erste Vermutung: Wenn ich als Voraussetzung für einen wirklich demo­kra­tischen Prozess definiere, dass alle Individuen der betreffenden Gemeinschaft in der Lage sein müssen, den Gegenstand ihrer Entscheidungen zu verstehen und darüber in Abstraktion von ihren eigenen Interessen zu beschließen, dann ergibt das wüste Gezerre nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in der Slowakei und in Ungarn, aber auch das abartige Schauspiel, das eure Regierung zeigt, einen anderen Sinn; nämlich kann man diese Orgien der Irrationalität inter­pre­tieren als Einsicht, dass man selber diese Voraussetzung für eine wirkliche Demokratie nie schaffen wird. Wenn das nämlich so wäre, dann könnten wir uns jeden Tag die Köpfe einschlagen zu wel­chen Themen auch immer, hinten dran würde die Maschinenintelligenz trotz allem die notwendigen Entscheidungen fällen, umso leichter, als sich die Menschen auf der Bühne des Politischen nur noch mit Käse, Quatsch und Nationalismus beschäftigen.

Dies geschieht, wie gesagt, ohnehin, und ich komme nicht darum herum, wieder mal den Roman 2017 von Olga Slavnikowa zu erwähnen, in welchem anlässlich der 100-Jahr-Feier der russischen Revolution die Darstellerinnen der historischen Weißgardistinnen auf die Darstellerinnen der historischen Rotgardistinnen zu schießen beginnen, mehr oder weniger, weil ihnen nichts anderes einfällt und weil die Situation jeglicher Kontrolle entgleitet. Und tatsächlich handelt es sich um eine Spielart, um eine Entwicklungsmöglichkeit der Geschichte der Menschheit, nämlich dass sich auf der Grundlage des allgemeinen Wohlstandes durchaus nicht das allgemeine Wohlbefinden und das Ergehen in kulturellen, ehrenamtlichen und sonstwie sauschön menschlichen Tätigkeiten zu entwickeln brauchen, sondern genauso gut die dumpfbräsigen Ausstülpungen von kleinen Kollektiven oder größeren Interessengruppen bilden können, die dann im Verbund mit den entsprechend dumpfbräsigen verkrüppelten Argumentenketten in den Krieg zwischen diesen Kollektiven und Interessengruppen führen können, ohne dass deswegen die Welt geradewegs unterzugehen braucht; im Gegenteil ist dies eine relativ vitale Form der Weiterentwicklung, wie ich leider einräumen muss. Da meine Phantasie durch einen recht stabilen Fortschrittsglauben eingeengt wird, bin ich auf diesen Gedanken eigentlich nie verfallen, aber wenn ich mir die Entwicklungen, natürlich im Moment vor allem in den Vereinigten Staaten so ansehe, drängt er sich leider auf.

Es gibt auch Gegenbewegungen, ich weiß. In Polen wurde die PiS-Partei von der liberalen Opposition bei den letzten Wahlen besiegt. Der ungarische Mops Viktor Orban scheint sein System zwar recht stabil etabliert zu haben, aber wenn ich mir den so anschaue, möchte ich keinen Cent auf seine Gesundheit wetten; der platzt uns mitten im Amtsgeschäft, und dann ist es in Ungarn vorbei mit der Fidesz-Herrlichkeit. Der Fleisch gewordenen Korruption in der Slowakei stelle ich auch keine dauerhaften Erfolgsprognosen, und so weiter, und so fort. Allerdings gehen die Alternativen nicht in jene Richtung, wie ich sie mir vorgestellt habe, wie gesagt, geprägt durch meinen Fortschrittsglauben. Aber was soll's – auch die Ansichten darüber, was Fortschritt ist oder sein soll, gehen auseinander und unterliegen ebenso historischen Veränderungen wie alles andere auch. Dies wiederum ist einer der Grundsätze der philosophischen Thermodynamik.

Hinter den abgebrannten Kulissen der Demokratie sind aber noch andere Dinge zu beobachten. Die Verhältnisse der Menschen untereinander haben sich in den letzten Jahren, sagen wir seit einer oder zwei Generationen dramatisch verbessert. Die Zuwendung, Aufmerksamkeit und die materiellen Mittel, welche zum Beispiel für die Kinder aufgewendet werden, sehen heute völlig anders aus als vor ein paar Jahrzehnten, in erster Linie dank dem gestiegenen Wohlstand, aber auch aufgrund einer grundlegenden Verbesserung der Einstellung gegenüber dem Kindergut; nicht zuletzt haben die Väter herausgefunden, dass die eigenen Kinder nicht nur ein Karrierehindernis darstellen, sondern dass es enorm Spaß macht, mit den Knirpsen Zeit zu verbringen, in sie zu investieren, ihre Entwicklung mitzumachen und zu fördern. Das führt eben dazu, dass heute auf dem Erdball Menschenwesen herum wandern, die sich recht stark unterscheiden von ihren Vorgängerinnen. Dies wiederum schafft Raum für Hoffnungen.

Übrigens gelten diese Bemerkungen zur Hauptsache für die entwickelten Gebiete des Erdballs, also die westlichen Industriemächte, aber auch jene Schichten in den übrigen Ländern, in welche diese Veränderungen ebenfalls vorgestoßen sind. Daneben gibt es in unterschiedlichen Ländern und Weltgegenden nach wie vor unterschiedliche Formen, mit der technischen Entwicklung umzugehen, wie man vor allem in der Volksrepublik China sieht, und in anderen Weltgegenden beschäftigt man sich sowieso mit völlig anderen Fragen aus dem Bereich Krieg und Frieden.

Solche schwermütige Überlegungen drängen sich auf in jenen Tagen, in denen die Wahlen in den Vereinigten Staaten möglicherweise jene zufällige Zusammenballung von Eigenschaften und Parolen wieder an die Macht bringen, wie sie diesen Donald Trump nun mal ausmacht. Von einem Menschen kann man in diesem Zusammenhang längstens nicht mehr sprechen; es ist ein Vollautomat aus einer sehr, sehr frühen Produktionsreihe, ein vollautomatischer Idiot, der selber nicht weiß, was er sagt, weil es ihn auch nicht kümmert; er produziert immer gerade das, was ihm die neuesten Umfragewerte des Tages in den Mund legen, ganz ähnlich wie der bayrische Marsmensch Markus Söder, wobei der niemals jene Ausgereiftheit und Radikalität erringen wird wie der Trump-Automat. Wie gesagt, es ist nicht die Aussicht auf eine zweite Amtszeit dieser menschenähnlichen Ansammlung von Molekülen, sondern die Tatsache, dass in den Vereinigten Staaten fast die Hälfte der Stimmenden ihn wählen werden. Das ist einfach unfassbar. Die Politik selber, sollte er tatsächlich noch einmal an die Macht kommen, wird sich nicht wirklich ändern, es sei denn, man betrachte die politische Rhetorik selber bereits als einen Bestandteil der Politik; das ist sie in der Regel nicht, respektive sie ist es je länger, desto weniger, auch wenn sich immer wieder Politikerinnen und Politiker daran erinnern, dass da früher mal ein Zusammenhang bestanden hat, im Moment zum Beispiel gerade die Labour-Partei in England mit ihrem neuen Budget, das mindestens Ansätze zur Finanzierung dringend nötiger Verbesserungen im englischen Staat enthält. Wie weit im weiteren Verlauf das Vokabular mit der Praxis übereinstimmen, werden wir noch sehen, aber im Moment ist da kein grober Schnitzer zu erkennen, auch wenn man sicher lieber sähe, wenn der ganze Londoner Finanzplatz enteignet würde; aber solange der Londoner Finanzplatz als einziger liquidiert würde, würden die entsprechenden Aktivitäten und Reichtümer einfach nach New York abwandern, und so kann die Lösung auch nicht aussehen. Will sagen: Wenn man enteignen will, muss man auf globaler Ebene enteignen, und so wünschbar dies auch wäre, so unrealistisch erscheint es in nächster Zeit; man müsste fast meinen, dass es wieder mal einen Krieg braucht, um die Gruppenegoismen für ein paar Jahre wieder zur Einsicht zu bringen oder zu zwingen. Anderseits kann man nicht im Ernst für einen Krieg sein, außer jenem gegen die Dummheit, der aber in der Regel nicht mit Bomben und Granaten gewonnen wird, sondern mit den Waffen des Geistes. Umgekehrt nährt die Diskussion um die künstliche Intelligenz Zweifel an den Waffen des Geistes wie an der menschlichen Intelligenz selber.

Ach, wären diese US-Wahlen doch endlich vorüber! Da können wir wieder in Ruhe schlafen.