Albert Jörimann - Karl Lauterbach

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Das Fazit der Regierungszeit von Angela Merkel habe ich schon vor mehr als zehn Jahren gezogen, nämlich dass sie die weiblichste sozialdemokratische Kanzlerin war, die Deutschland je hatte, mehr habe ich nicht zu sagen. Wenn man mich fragt, wie es nun mit der neuen Dreier­koa­li­tion steht, muss ich mir wieder eine gewisse Bedenkzeit ausbedingen, in welcher diese Dreier­koali­tions-Regierung keine Programme und Deklarationen, sondern Beschlüsse auf den Tisch legt. Viel­leicht sieht man das am besten anhand der Personalie des neuen Gesundheitsministers:
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11:11 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 17.12.2021 / 12:01

Dateizugriffe: 77

Klassifizierung

Genre: Kommentar
Langue: deutsch
rubrique: Internationales, Arbeitswelt, Politik/Info
Series: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

Auteur: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Date de production: 14.12.2021
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Das Fazit der Regierungszeit von Angela Merkel habe ich schon vor mehr als zehn Jahren gezogen, nämlich dass sie die weiblichste sozialdemokratische Kanzlerin war, die Deutschland je hatte, mehr habe ich nicht zu sagen. Wenn man mich fragt, wie es nun mit der neuen Dreier­koa­li­tion steht, muss ich mir wieder eine gewisse Bedenkzeit ausbedingen, in welcher diese Dreier­koali­tions-Regierung keine Programme und Deklarationen, sondern Beschlüsse auf den Tisch legt. Viel­leicht sieht man das am besten anhand der Personalie des neuen Gesundheitsministers: Karl Lauter­bach ist vom Fach und hat seine Kompetenz ununterbrochen im deutschen Staatsfernsehen darlegen können, aber die Umsetzung dieser Kompetenz in die Realität einer Gesundheits- und zunächst vor allem Corona-Politik kann je nachdem ein ganz anderes Paar Schuhe, Hosen oder Handschuhe sein. Da gibt es zwischen dem Minister und der Talkshow ein riesiges dunkles Gebiet von bundes­staat­li­chen und länderspezifischen Eigenheiten, die nicht mit Fachwissen zu überbrücken oder auszu­leuch­ten sind; ich bin gespannt, ebenso wie alle anderen neugierigen Menschen im Land und auch im interessierten und objektiven Ausland.

Die Mutter der Lüge im politischen Bereich, und zwar einer Lüge, die bis hin zur Wahrheit geht, ist für mich nach wie vor Silvio Berlusconi. Dass sich der jetzt im Ernst für das Amt des italienischen Staatspräsidenten bewirbt, ist konsequent, haben ihn doch die Italienerinnen und Italiener zirka zwan­zig Mal gewählt und wiedergewählt, und zwar im vollen Wissen um seine Lügen, um die Betrü­gereien, mit denen er sein Vermögen vermehrt hat, um die Bestechung von Richtern, um die Zusammenarbeit mit der Mafia und sowieso um sein Geschlechtsorgan, um welches er viele bezahlte Frauen viele Mythen erzählen ließ. Er wird verschiedene Lügen-Vorfahrinnen gehabt haben, auf jeden Fall gab es zahlreiche Nachahmerinnen und Nachfahren, unter welchen der Leucht­turm zweifellos Donald Trump ist. Ebenfalls fruchtbares Gebiet für Berlusconi-Imitatorinnen sind einige Länder des ehemaligen Ostblocks und vor allem der Balkan. Der Präsident der serbi­schen Republik in Bosnien und Herzegowina gehört dazu. Im Moment will der wieder mal diese höchst künstliche staatliche Einheit auflösen. Während ihm dafür eigentlich eher Lob als Tadel gebührt, weil es schlicht und einfach unsinnig ist, solche politischen Einheiten am Leben zu erhalten, welche allen Beteiligten auf den Sack gehen und deren einziger Existenzgrund die internationalen Geldströme sind, welche ausdrücklich dem Zwecke der Korruption, niemals aber der Funktion der politischen Einheiten dienen, ist die Begründung von Milorad Dodik für die Abspaltung der reinethnischen Serben aus dieser zwecklosen Zweckeinheit idiotisch, um sie nicht skandalös zu nennen, aber man muss in Zeiten steigender Inflation auch mit den Begriffen etwas haushälterisch umgehen. Dodik will in erster Linie nichts zu tun haben mit dem Massaker von Srebrenica. In zweiter Linie will er, wie alle Serbinnen und Serben, nichts zu tun haben mit dem Wahn von Großserbien, der die serbischen Berlusconis unter Milosevic in den jugoslawischen Bürger- und Schwesternkrieg getrieben hat, in welchem allerdings nach einer kurzen Aufwärme­phase alle Beteiligten nach Maßgabe ihrer Kräfte mit unübersehbarer Lust ihre Nachbarinnen und Verwandten, noch viel mehr aber die nicht benachbarten Mit-Jugoslawinnen und Jugoslawen abgemurkst, gefoltert, vergewaltigt, verstümmelt haben in einem Blutrausch, wie die Welt ihn wenige Monate später in Rwanda erlebte. Hier muss man dann den Berlusconi wieder in Schutz nehmen. Dazu war er nicht in der Lage, das war aber in Italien auch gar nie nötig, während es in Jugoslawien offenbar auf eine völlig unergründliche Art und Weise nötig war. Immerhin kann ich Milorad Dodik dorthin noch folgen, wo er bestreitet, dass das Massaker von Srebrenica ein Genozid war; auch hier sollte sich die vernünftige Welt der Inflation der Begriffe entgegen stellen und sagen, es reicht doch, dass es ein Massaker war, verübt von den serbischen Truppen an unbewaffneten Zivilistinnen. Nein, das war kein Genozid, es war nur ein normales, für ein normales menschliches Hirn schlicht unvorstellbares Kriegsverbrechen, für welches man, wenn man der eigenen Gefühls­lage folgen täte, den Verantwortlichen die Hoden einzeln herausschneiden hätte müssen. Aber wie die Geschichte, die Erfahrung und das internationale Recht lehren, kann man seine Gefühlslagen nicht zur Grundlage der internationalen Gerichtspraxis machen.

Milorad Dodik ist im Moment die prächtigste Blüte aus der Wurzel des serbischen Nationalstolzes, und eigentlich ist damit nicht er es, welcher in Berlusconis Tradition steht, sondern Alexander Vucic, der Präsident des echten Serbien, der durch die Gegend schreit und eine Lüge an die andere reiht, welche mit Vorliebe das Gegenteil der ersten besagt. Er möchte Serbien sehr gerne an die Geldtöpfe der Europäischen Union heran führen, was allerdings mit Milorad Dodik gerade noch einmal ein paar politischer Lichtjahre unwahrscheinlicher geworden ist; der einzige Trost besteht für die Serben darin, dass politische Lichtjahre wegen der Krümmung des Raums manchmal sehr kurz dauern. Aber auch andere balkanische politische Existenzen quaken im öffentlichen Raum herum, als hätten sie ein eigenes Medienimperium. Die lustigste Meldung der letzten Zeit habe ich jene gefunden, dass der Kosovo und Albanien bereit stehen, um die Ukraine im Kampf gegen Russland zu unterstützen. Eigentlich wäre es formvollendet, wenn der Kosovo Russland gerade jetzt formell den Krieg erklären täte. Politik als Darbietung aus einer Klapsmühle – daran werde ich mich noch länger nicht gewöhnen. Insofern bin ich Olaf Scholz dankbar dafür, dass er für die Fortsetzung der Langeweile in der deutschen Politik steht. Für Unterhaltung sollen doch lieber die zuständigen Fachleute im Kino sorgen.

Und damit also nochmals zurück nach Deutschland und zur ersten Bundesregierung ohne bayrische Vertretung seit der Erfindung der Bundesrepublik Deutschland. Wir stehen historisch offensichtlich an einem anderen Punkt als im Jahr 1998, in einer Zeit als die neue Sozialdemokratie in England und in Frankreich und eben auch in Deutschland an den Schalthebeln der Macht herumwerkelte. Abgesehen von verschiedenen Skandalen und persönlichen Unzulänglichkeiten oder mindestens Eigenarten, wie man sie zum Beispiel in der nachträglichen Konversion von Tony Blair zum Katholizismus beobachtet hat, bestand die Aufgabe dieser Sozialistinnen des dritten Weges in erster Linie in einer Modernisierung des Staates, das heißt Steuersenkungen und Liberalisierungen für das Kapital und, mindestens in Deutschland, die Kujonierung der Armen durch die Hartz-4-Gesetze. Erst die Ersetzung dieser ehemaligen Jungsozialisten durch die vorherigen Konservativen führte zu einer Wiederherstellung der sozialdemokratischen Regierungs- und Staatsform. Heute ist das anders. Wir befinden uns vor allem wirtschaftlich in einer völlig neuen Phase, in welcher die Digitalisierung den Untergang der bisherigen Industrieökonomie vorantreibt und seltsamerweise unter anderem zur Auferstehung einer gesellschaftlichen Gattung führt, die man ausgestorben wähnte: die Arbeiterinnen und Arbeiter! Das ist allerdings ein Paradox, eine wahre Zirkusnummer, dass die Arbeiterklasse ausgerechnet aus der Zerstörung ihrer Entstehungs- und Existenzgrundlage, nämlich der Fabriken neu entsteht. Die Rahmenbedingungen haben sich natürlich geändert, vielleicht am besten sichtbar in den Vereinigten Staaten, wo Amazon unterdessen ein riesiger Anbieter für wenig qualifizierte Arbeit ist und das Dreifache des Mindestlohnes zahlt, nachdem sich die Klagen über miese Arbeitsbedingungen bei schlechtem Entgelt gehäuft hatten, was wiederum schlecht für das Geschäftsmodell ist. Die Pflegeberufe haben nicht nur durch Corona, sondern auch durch den Brexit eine Aufwertung erfahren. Auch die Anstellungsverhältnisse im öffentlichen Sektor, namentlich im Schulbereich müssen krass verbessert werden. Bis vor wenigen Monaten lag die öffentliche Wahrnehmung in all diesen Bereichen immer noch im auslaufenden Sturmtief des neoliberalen Diskurses, wenn ich mir diesen ungenauen Begriff einmal erlauben darf, sowie der verschiedenen ausgelutschten Mantras der Ökonominnen-Riege aus allen Ecken, vom IFO über Werner Sinn bis zu allen anderen Wirtschaftssachverständigen; es ging in erster Linie um die Beschwörung der katastrophalen Auswirkungen der Staatsverschuldung, um die verheerenden Folgen von Steuererhöhungen für Reiche, um die Schädlichkeit von Lohnforderungen und so weiter. All das ist mehr oder weniger über Nacht verschwunden. Man reibt sich die Augen und fragt sich, welcher Nonsense die öffentliche Diskussion so lange beherrscht hat, während die Wirtschaft schon längstens an einem völlig anderen Ort wirkt und Geld in Hülle und Fülle in die Märkte geleitet wurde – unglücklicherweise in erster Linie an jene, welche bereits genug hatten. Aber von der Gesamtwirkung, nämlich der weitgehenden Stabilität der Haushalte auf allen Ebenen trotz den massiven Verstößen gegen jede Budgetdisziplin, profitieren auch die normalen Menschen.

Was also sind die Aufgaben des Staates in jener Epoche, die zweifellos einen Fortschritt aus der sozialdemokratischen Gesellschaftsform hinaus bringen muss? Ja, welches wird die post-sozialdemokratische Gesellschaftsform wohl sein? Wir kennen zur Genüge die Kräfte, welche sich schon gegen die sozialdemokratische Gesellschaftsform wenden, namentlich die Nationalistinnen und Rassistinnen und Möchtegern-Faschistinnen vor allem im Osten der Republik. Aber an ihnen orientieren sich weder der Verlauf der Geschichte noch unser eigenes Interesse, abgesehen von kurzen Intermezzi, wenn die Allianz-Frau Alice Weidel ganz einfach Zahlen aus der Statistik bestreitet. Das, Frau Weidel, das ist noch nicht mal Berlusconi-Niveau! Man muss dann schon auch noch eigene alternative Zahlen liefern! – Aber Frau Weidel ist halt eh ein Fall für sich, nicht für uns. Für uns ist interessant, wie sich die Entstehung neuer Möglichkeiten zum Geldverdienen gestaltet, einmal abgesehen vom Grundeinkommen. Es sollte sich dabei um Möglichkeiten handeln, die nicht nur Alibi-Funktionen haben mit einer Million von Ich-AGs, die letztlich nicht mal genug Knete einbringen, um die Miete zu bezahlen. Nein, diese im steten Wandel begriffene Wirtschafts- und Gesellschaftsform mit dem Namen Kapitalismus dürfte in der Lage sein, auf der Grundlage der voll automatisierten, globalisierten und digitalisierten Warenproduktion neue Geschäftsfelder zu erschließen, zusätzlich zu jenen, die weiter geführt werden und an Bedeutung noch zunehmen, eben im Bereich der Pflege, der Schulung und Ausbildung und so weiter. Unter der Bedingung, dass genug Geld auch in die breite Bevölkerung gepumpt wird, egal, ob durch höhere Löhne oder durch steigende Kapitaleinkommen auch der unteren Schichten, was allerdings ein schwer handzuhabendes Paradox ist, aber egal: Unter dieser Voraussetzung steht einem Aufblühen aller möglichen Arten von Wirtschaftswunder, und zwar nicht nur in den Städten, sondern auch in abgelegenen Regionen, eigentlich nichts im Wege. Neuerdings scheint mir so etwas tatsächlich eine realistische Option zu sein.

Kommentare
17.12.2021 / 18:11 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 17.12.. Vielen Dank !