VeRa 178: Aufbrüche in der Tourismusbranche

ID 130268
 
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Wie verantwortungsvolles Reisen möglich ist?

Der Tourismus boomt, besonders Kreuzfahrten und Strandurlaube ziehen die Massen an. Gleichzeitig werden Stimmen lauter, die für ein verantwortungsvolles und nachhaltiges Reisen einstehen. Wie wollen wir heute und in Zukunft reisen? Welche Möglichkeiten gibt es bereits jetzt. Darüber sprechen wir in unserer aktuellen Sendung.
Audio
46:12 min, 59 MB, mp3
mp3, 177 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 16.08.2024 / 15:21

Dateizugriffe: 580

Klassifizierung

Beitragsart: Reportage
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, in anderen Sprachen, Umwelt, Wirtschaft/Soziales
Serie: Verquer Radio VeRa
Entstehung

AutorInnen: VeRa - verquer. Radio
Radio: LOHRO, Rostock im www
Produktionsdatum: 29.07.2024
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
1 Hallo zur Sendung (Sendungsverantwortung, Rückblick) 01:02
2 Musikmoderation: Ick heff mol en Hamborger Veermaster sehn 00:43
3 Seefahrt & Kreuzfahrtschiffe 12:15
4 Musikmoderation: Moby - Porcelain 01:33
5 Massentourismus in der Türkei 10:07
6 Musikmoderation: Gülden Karaböcek 00:32
7 Nachhaltiges Reisen, Interview mit Janina Dannenberg mit einem Bsp. auf den Philippinen 11:21
8 Musikmoderation: Sarah Edelmann 00:17
9 Nachhaltiger Tourismus 07:20, english mit deutschem Voiceover
10 Abmoderation 01:02

Beitrag: 40 Jahre Massentourismus in der Türkei (10 Min.)
Es ist der 16. August 1987. Im Spiegel erscheint ein Artikel mit dem fragwürdigen Titel: „Türkei-Tourismus: »Anatolien entjungfern«“. In dem Artikel steht, dass der Massentourismus nun die Türkei erobere und noch nicht abzuschätzen sei, welche Auswirkungen das haben würde. Wow, 1987. Da war Bonn noch die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und die türkische Mittelmeerküste unberührt vom deutschen Pauschaltourismus. Zwei Dinge, die ich mir als im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsenes Mittelklasse-Kind nur schwer vorstellen kann. Damals, im Sommer 87, kommen laut Spiegel-Angaben um die 3 Millionen Urlauber*innen an die türkischen Strände und in die Städte. Klingt gar nicht mal so wenig, finde ich. Allerdings schon deutlich weniger im Vergleich mit
8 Millionen Tourist*innen in Griechenland und sogar 30 Mio. in Spanien im selben Jahr! 36 Jahre später hat sich die Zahl der Türkei-Besucher*innen allerdings fast verzwanzigfacht: 2023 wählen 56 Millionen Tourist*innen das Land zwischen Europa und Asien als Urlaubsziel. Das sind 10 Millionen mehr Menschen als die komplette Bevölkerung von Spanien heute.
Erst Kürzlich bin ich aus einem Erasmus-Semester zurückgekommen, das ich in Izmir, der drittgrößten Stadt der Türkei am Mittelmeer verbracht habe. Den Menschen in der Türkei geht es nicht gut. Das Land steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise, die Inflation liegt bei ca. 75% im Vergleich zum Vorjahr. 1 Euro sind mittlerweile 35 türkische Lira wert, vor ein paar Jahren waren es noch 1 Euro zu 5 türkische Lira. Dennoch boomt der Tourismus im Land, denn ausländische Währungen sind wertvoller als die Lira, mit Euros oder Dollars kann man sich mehr kaufen. In der Türkei habe ich große Unterschiede erlebt zwischen Orten, die durch den europäischen Massentourismus geprägt sind und Gegenden, in die kaum ausländische Besucher*innen kommen. In diesem Beitrag soll es um die Auswirkungen dieses Tourismus gehen, die in der Türkei deutlich spürbar sind.
Welche Auswirkungen des Tourismus sind das, die der Spiegel-Artikel noch offenließ? Zumindest die ökonomischen Auswirkungen erscheinen erst einmal recht eindrucksvoll. Der Tourismus-Sektor hatte im Jahr 2023 einen Anteil von 11,5% am BIP der Türkei und die Einnahmen aus dem Gastgeschäft erreichten einen Rekordwert von 54,3 Milliarden USD. Was davon jedoch bei den Beschäftigten und bei der lokalen Bevölkerung hängenbleibt, ist eine andere Frage. Laut Mustafa Yahyaoglu, Vorsitzender der Tourismus-Gewerkschaft Dev Turizm, arbeiten 60% der Angestellten in der türkischen Tourismus-Branche für den Mindestlohn. Dieser beträgt zurzeit 17.000 türkische Lira im Monat. Das sind umgerechnet 485€, was übrigens weniger ist als die monatliche Standardförderung für Erasmus-Studierende in der Türkei. Mit der horrenden Inflationsrate in der Türkei können die meisten von dem Mindestlohn gerade einmal die Miete bezahlen. Hinzu kommt, dass die Angestellten im Tourismus dort meist auch nur wenige Monate im Jahr beschäftigt sind.
Neben dem Wertverlust der Türkischen Lira gegenüber ausländischen Währungen ist das auch der Grund, warum Urlaub in der Türkei trotz globaler Inflation immer noch so günstig ist für Touristen aus der EU, Russland oder den Golfstaaten. Sandstrand, warmes Wasser und garantierter Sonnenschein, gleichzeitig niedrige Löhne und eine schwache Währung: ein Paradies für Pauschaltouristen. Dass es v.a. der Massentourismus ist, der die schädlichsten Auswirkungen haben kann, hat schon der Spiegel-Artikel aus den 80ern erkannt. Hier heißt es, die türkische Regierung wolle aus den Fehlern der Spanier lernen, die Strände nicht mit riesigen Hotels dicht an dicht zuzupflastern, sondern maximal 4-stöckige Gebäude zulassen. Schaut man sich heute die Strände bei Antalya an der südlichen Mittelmeerküste an, wurde da wohl einige Ausnahmen gemacht.
Oder auch in Marmaris, wo ich vor ein paar Wochen noch zu Besuch war. Dort ist ein neues Luxushotel an einer abgelegenen Bucht im Bau. Die Touristen, die sich dort einbuchen, erwartet ein unvergleichlicher Ausblick aufs Meer. Von Marmaris und seinen Einwohner*innen, ihren lokalenHandwerken und Köstlichkeiten werden sie jedoch wenig mitbekommen. Das Hotel wird für All-Inclusive gebaut, ohne direkten Zugang zu einer Ortschaft. All das Geld der Touristen bleibt im Hotel und bei den Anteilseignern, die nicht selten in Europa oder Amerika sitzen. Allein in Marmaris gehören 2 der großen Luxus-Hotels ausländischen Konzernen. In diesem Fall der FTI Gruppe und TUI Gruppe, die beide in Deutschland ansässig sind. In Marmaris gibt es einen großen sog. Volksstrand, auf Türkisch „halk plaj“. Dort können sich auch Einheimische an ihrer Küste sonnen - umsonst. Klingt absurd, aber das ist nicht überall so. In den angrenzenden kleineren Buchten drängen sich die Privatstrände aneinander, eine Liege oder ein Sonnenschirm kostet dort um die 200 TL. Bis vor einigen Jahren gab es in Kemer, 300 km östlich von Marmaris und eines der Epizentren des türkischen Massentourismus, nicht einmal einen Volksstrand oder eine Promenade. Nur Privatstrände für die Touristen oder diejenigen Einheimischen, die es sich leisten konnten. Das hat der neue Bürgermeister geändert, und ist dadurch zu einem Art Lokalhelden geworden.
Die türkische Regierung selbst hat sich als Hauptziel für die Entwicklung der Tourismus-Branche in den 70er-/80er-Jahren den Massentourismus gesteckt. Und hat viel dafür getan, ausländische Investoren für den Bau großer Hotels und Infrastruktur anzulocken. Unter anderem ein Gewerkschaftsgesetz, das richtige Gewerkschaftsarbeit bis heute fast unmöglich macht. Der Gewerkschafter Mustafa Yahyaoglu beklagt, dass der gewerkschaftliche Organisierungsgrad im
Tourismus-Sektor einen der niedrigsten in der Türkei aufweise. Schließen Angestellte sich einer Gewerkschaft an, würden sie gekündigt. Dagegen könnten sie zwar klagen, und bekämen wahrscheinlich auch Recht. Aber gekündigt würden sie trotzdem und die Gewerkschaft wäre weiterhin schlecht organisiert. In einem anderen Artikel lese ich, dass die türkische Regierung die Landeswährung Lira während der immer weiter steigenden Inflation in den letzten Jahren nicht gestützt hat, um für ausländische Investor*innen und Reisende weiterhin attraktiv zu sein. Das aber mit den bekannten schlimmen Folgen für die Kaufkraft der Lira und die inländische Bevölkerung. Dass die Regierung nicht unbedingt die Interessen der niedrig-entlohnten Angestellten vertritt, wird auch dadurch offenbar, wenn man sich die Neben-Aktivitäten des Tourismus-Ministers Nuri Ersoy anschaut. Er besitzt selbst mehrere große Luxus-Hotels an der Mittelmeer-Küste sowie eine Reiseagentur.
Gespräche mit der Tourismus-Gewerkschaft hat er bisher immer abgelehnt. Das Traurigste am All-Inclusive-Pauschaltourismus ist für mich, dass die Reiseorte mehr oder weniger austauschbar sind. Ein paar Voraussetzungen gibt es: garantierte Sonne und Strand, günstig soll es sein. Aber die Kultur vor Ort, die Menschen außerhalb der Hotels bleiben unsichtbar. Ihr Produkte werden nicht gekauft, denn es gibt ja alles im Hotel. Sie bekommen nichts ab von den Gewinnen, die die Hoteliers einstreichen. Den Wunsch, sich um nichts kümmern zu müssen, im Urlaub einfach nur zu entspannen, kann ich nachvollziehen. Man sollte sich jedoch darüber im Klaren sein, dass diese Art des Fremdenverkehrs in Niedriglohnländern ein ausbeuterisches System finanziert. In der Türkei gibt
es schon lange Stimmen, die eine andere Art von Tourismus fordern. Kleinere Hotels, die nur Frühstück oder Halbpension anbieten, damit Urlauber*innen auch lokale Restaurants unterstützen.
Eine bessere Integration der Bauten in die kulturelle und natürliche Landschaft. Mehr kulturellen Austausch zwischen Urlaubern und Einheimischen, über den obligatorischen Besuch beim Bazaar hinweg. Und was würden Türkei-Besucher*innen dadurch gewinnen! Die Gastfreundschaft in dem Land am Bosporus ist auf einem anderen Niveau. So höfliche und hilfsbereite Menschen habe ich noch nirgendwo anders getroffen. Gerade als Deutsche wird man meistens strahlend in Empfang genommen, weil viele Türkinnen und Türken Verwandte in Deutschland haben und nur Gutes über Deutschland zu erzählen wissen. Wie sieht das eigentlich andersrum aus? Für den Spiegel-Artikel wurden damals auch Interviews geführt. 1987 berichtet ein Türkei-Urlauber nach seiner Rückkehr von
seiner Erfahrung: »Das sind unglaublich nette Menschen. Man bekommt ein schlechtes Gewissen, wenn man daran denkt, wie wir zu Hause mit den türkischen Gastarbeitern umspringen.« Auch wennsie mittlerweile keine Gastarbeiter mehr sondern türkischstämmige Deutsche sind, hat diese Aussage leider nichts an Aktualität verloren. Ein Hoffnungsschimmer hält der Spiegel-Artikel jedoch bereit: er berichtet von dem Hotelkomplex „Kaunos Beach“, der sich 1987 gerade im Bau befand. Und zwar am unberührten Delta des Dalya-Flusses, wo jedes Jahr unzählige Baby-Karret-Schildkröten nachts aus ihren Eiern schlüpfen und ihren
Weg ins Meer finden. In dem Artikel wird auch der Protest von Anwohner*innen und Umweltschutzverbänden erwähnt, die den Bau des Hotels zu verhindern versuchten. Der Artikel endet mit der Prognose, dass das Hotel gegen jeden Protest gebaut werden würde, da Ankara das bereits so entschieden habe. 37 Jahre später versuche ich herauszufinden, was aus Kaunos Beach geworden ist. Beim Blick auf eine Kartenapp stelle ich fast überrascht fest, dass der Strand am Dalya-
Delta weiterhin unberührt aussieht. Ein Artikel bestätigt das: das Hotel wurde nicht gebaut, zum Schutz der Karettschildkröte. Die Ausbeutung durch Tourismus hat Grenzen, die am Dalya-Delta erfolgreich verteidigt wurden.

Kommentare
11.09.2024 / 14:53 Redaktion Stoffwechsel Radio Z, Radio Z, Nürnberg
Vielen Dank!
Wurde gesendet im Stoffwechsel bei Radio Z :)