"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Die extreme Linke in Frankreich

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Die extreme Rechte in Frankreich habe bei den Präsidentschaftswahlen 2022 erstmals in ihrer Geschichte einen Stimmenanteil von über 40% erreicht, heißt es mehr oder weniger eintönig im sozialdemokratischen Medienkonsens in ganz Europa.
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11:54 min, 27 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 26.04.2022 / 10:55

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 26.04.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die extreme Rechte in Frankreich habe bei den Präsidentschaftswahlen 2022 erstmals in ihrer Geschichte einen Stimmenanteil von über 40% erreicht, heißt es mehr oder weniger eintönig im sozialdemokratischen Medienkonsens in ganz Europa. Unsereiner und unsereinem, den armen Schluckern, kleinen Flöhen, ja Flöhen von Flöhen bleibt gar nichts anderes übrig, als uns über die Medien über die Ereignisse in der Welt zu informieren, und zur Information gehört seit langem untrennbar die Meinungsstärke, also die Einordnung, also der Kommentar zur Information, welcher in seiner Stärke die Information oft übertrifft. Das ist ebenso oft unerfreulich, so auch hier. Die extreme Rechte in Frankreich hat für den Kandidaten Zemmour gestimmt; Stimmenanteil im ersten Wahlgang 7%. Für wen die extreme Linke gestimmt hat, entzieht sich meiner Kenntnis; angetreten sind Nathalie Arthaud für die Lutte Ouvrière, Fabien Roussel für die Kommunistische Partei Frankreichs und Philippe Poutou für die Neue Antikapitalistische Partei. Für diese hatte sich auch Annasse Kazib um eine Kandidatur beworben, ein trotzkistischer Eisenbahngewerkschafter von der Bewegung Permanente Revolution, die sich aber vor einem Jahr von der Neuen Antikapitalistischen Partei abgespalten hatte. Arthaud, Roussel und Poutou erreichten im ersten Wahlgang zusammen 2,6 Prozent der Stimmen. Allerdings bezweifle ich, dass diese Kandidaten wirklich der extremen Linken zuzuordnen sind. Ich bezweifle es auch im Fall von Jean-Luc Mélenchon, der im ersten Wahlgang satte 1,2% hinter Marine Le Pen zurücklag. Mélenchon ist ein Linker, zweifellos, auch wenn man heute nicht mehr weiß, was das beinhaltet, aber der Kampf gegen Privilegien und für die Emanzipation der einfachen Leute, der armen Schlucker, der kleinen Flöhe, ja der Flöhe von Flöhen ist und bleibt unbestritten; ebenso unbestritten ist, dass er eine nationalistische Komponente, die sich auf das Bild des unbeugsamen gallischen Dorfes von Astérix und Obélix abstützt, vereint mit der Einsicht, dass Kapitalismus, Imperialismus und die Folgesysteme keine nationalen Strukturen sind, auch wenn die Ausprägungen jeweils im Rahmen von Nationalstaaten erfolgt sind. Aber ein Linksextremer? – Quatsch. Jean-Luc Mélenchon und auch die anderen Präsident­schafts­kandi­dat:in­nen stehen fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundgesetze und wollen den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft mit den bestehenden demokratischen Instrumenten erreichen. Das gleiche gilt für Marine Le Pen, die eben längst keine rechtsextreme Kandidatin mehr ist. Man könnte sagen: Sie vermochte ihren Stimmanteil in den bisherigen Präsidentschaftswahlen in dem Maße zu steigern, in dem sie sich von einer rechtsextremen nationalistischen Hetzerin im Stile ihres Vaters wandelte zu einer schon fast staatstragenden Figur mit zweifellos nach wie vor stark ausgeprägten nationalistischen Tönen, aber eben in abnehmendem Maße. Stellt euch nur mal vor, Frau Le Pen wollte dem Agrarstaat Frankreich die Mittel aus dem europäischen Agrarfonds abdrehen! Nur schon die Vorstellung treibt jeder vernünftig denkenden Europäerin die Tränen in die Augen. Es ist schlicht und einfach unmöglich, das System ist stärker als seine Kritiker:innen, und das gilt auch für die angeblich extreme Linke: mir ist kein Plan bekannt, wie das aktuelle kapitalistische System bis hin in seine kapillaren Verästelungen umgekrempelt werden soll im Dienste der einfachen Leute, der armen Schlucker, der kleinen Flöhe und der Flöhe von Flöhen. So ist das nämlich.

Es gibt in der modernen Welt zu meinem Erstaunen sehr starke autoritäre Bewegungen, die in erster Linie von der Energie der Empörung befeuert werden. Der Populismus ist zu meinem Bedauern eine sehr starke und sehr moderne Dampfmaschine und beruht im Wesentlichen auf dem schönen Prinzip, dass die Volksmassen mit brüllendem Eifer ihre eigene Entmachtung fordern zugunsten von Führer:innen, welche dumme, aber wohltönende Versprechungen machen. Der Vollständigkeit halber muss ich anfügen, dass sie diese Versprechungen oft auch einhalten, weil sie sie einhalten müssen, wenn sie mehr als einen politischen Tag lang an der Macht bleiben müssen; insofern bewegen auch die Führer:innen sich im sozialdemokratischen Konsens der ausgleichenden Verteilung von Geld und Gütern an die breiten Massen. Dass es hinter den populistischen Kulissen genauso gut um die wahre Macht und um die wirklichen Mittel geht wie bei den modernen sozialdemokratischen Staatswesen, versteht sich von selber. Allerdings beschädigt die populistische Dampfmaschine zahlreiche Strukturen, welche der modernen Gesellschaft im Lauf der Aufklärung und mit den nachhaltigen Erfahrungen von Weltkriegen und auch der Kämpfe gegen Diskriminie­rung und so weiter eingezogen wurden. Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit und solche Dinge gehen im Gebrüll des Populismus unter, wenn die Führerin einen ansehnlichen Teil der Gesellschaft erst einmal in einen Mob verwandelt hat. Wenn dies aber gelingt, ist sehr vieles möglich.

Nichts deutet darauf hin, dass dies in absehbarer Zeit in Europa gelingen sollte. Es gibt immer wieder Ausschläge in diese Richtung, aber die kapillare Selbstorganisation des Systems steht einer dauerhaften autoritären Ausrichtung ebenso komplett entgegen, wie sie eine radikale anti­kapita­listische Frontenbildung unmöglich macht. Ihr erlaubt, dass ich zur Illustration die Biographie des versuchten französischen Präsidentschaftskandidaten Annasse Kazib beiziehe: Bekannt wurde Kazib durch die Sendung «Les Grandes Gueules», ungefähr «Menschen mit großer Klappe» von Radio Monte Carlo, in der er sich als Eisenbahngewerkschafter für die alternative Gewerkschaft SUD profilierte, welche einen deutlich radikaleren Kurs fährt als die offiziellen CGT und CFDT. Wie gesagt ist er ein Anhänger der trotzkistischen Theorie der permanenten Revolution, wobei ich hier anmerken will, dass mir nicht bekannt ist, wie diese permanente Revolution das erwähnte System der kapillaren Verästelung umkehren will, ein System übrigens, das seit der Deindustrial­i­sie­rung in den 1990-er Jahren einem Prozess der permanenten Revolution unterworfen ist. Aber dies nebenbei. Interessant dünkt mich seine Biographie: Er wurde 1987 geboren in eine Familie, die im Jahr 1970 aus Marokko nach Frankreich gekommen ist, nachdem der Grossvater im Zweiten Weltkrieg in der französischen Armee gekämpft hatte. Auch der Vater arbeitete für die SNCF, erhielt aber aufgrund seiner Herkunft nie die arbeitsrechtliche Gleichstellung wie seine französischen Kollegen; diese Diskriminierung wurde erst 2018 gerichtlich anerkannt. Kazib wurde früh politisiert und in einem gewissen Sinne radikalisiert, weil ihm die Kompromisspolitik der Gewerkschaftsspitzen missfiel. Die Sendung Grandes Gueules verhalf ihm vorübergehend zu einer gewissen Bekanntheit, aber in den Vorbereitungen für die Präsidentschaftswahlen vermochte er nicht genügend Unterstützer:innen zu mobilisieren. Er selber beklagte sich über rassistische Vorurteile, zum Beispiel weil ihm in den Medien zu wenig Platz eingeräumt wurde, abgesehen davon, dass sogar an der Sorbonne rassistische Plakate gegen ihn geklebt wurden, als er dort an einer Wahlkampf-Veranstaltung teilnahm.

Ich finde diese Biographie insofern interessant, weil hier die Erfahrung der Diskriminierung in eine Präsidentschaftskandidatur mündet, und zwar dergestalt, dass sie auch nach der ersten Enttäuschung immerhin in die Spalten der Zeitung «Jeune Afrique» geführt hat. Dort sagt er unter anderem zur Kandidatur von Mélenchon: «Wenn Mélenchon, der den linksten Flügel der institutionellen Linken vertritt, vom Vaterland spricht oder wenn er stolz darauf hinweist, dass Frankreich die zweitstärkste Kriegsflotte auf der Welt führt und dabei nicht erwähnt, dass dies das Ergebnis der kolonia­lis­ti­schen und imperialistischen Vergangenheit ist, dann habe ich ein Problem!» – Und da hat der Mann einfach nur recht.

Linksextrem und Rechtsextrem – es ist beides nicht mehr wie früher, noch nicht mal die normale Linke verhält sich normal, also mindestens verbal antikapitalistisch. Vielmehr ist sie mindestens in Deutschland gegenwärtig damit beschäftigt, sich selber zu demontieren – mindestens hat man diesen Eindruck im neutralen Ausland. Dabei geht es weniger um die Vorwürfe wegen sexueller
Übergriffe in Hessen als um die massiven Verluste bei den letzten Bundestagswahlen. Ich bin kein intimer Kenner dieser Partei und hatte mit ihr nur über die Grundeinkommens-Diskussion zu tun, bei der ich immer sehr kompetente und vernünftige Gesprächspartner fand; gleichzeitig verwirrte mich aber die jahrelange Unentschlossenheit der Linken beziehungsweise die offensichtliche Ablehnung ebenso maßgeblicher wie unsichtbarer Fraktionen in dieser Partei, das bedingungs­lose Grundeinkommen definitiv ins Programm aufzunehmen – oder aber es definitiv fallen zu lassen. Mit Katja Kipping war sogar eine Befürworterin des Grundeinkommens Parteivorsitzende. Aber irgendwie hatte man die ganze Zeit über den Eindruck, die Idee würde zwar nicht so richtig offen bekämpft, aber hintertrieben. Angesichts der recht zahlreichen Untergruppen in der Partei schließe ich auf ähnliche Prozesse auch in anderen Fragen. Dies wird eine Rolle gespielt haben; aber die entscheidende Rolle spielt wohl auch hier der Kapitalismus beziehungsweise die ihm zugeord­nete Sozialdemokratie, welche sich als Gespann einfach immer weiter bewegen, während die Positionen der Linken oft am gleichen Punkt stehen bleiben, wie sie vor dreißig, fünfzig oder sogar hundertfünfzig Jahren schon waren.

Wie auch immer, beziehungsweise wie immer ein Wort zum Krieg Russlands gegen die Ukraine: Abgesehen davon, dass die Medienberichterstattung bei mir langsam schon fast toxische Reaktionen auslöst – ein Beispiel dafür ist der ernsthaft und unwidersprochen abgedruckte Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung vom Montag, wonach sich das Asow-Regiment, dessen Rolle in der orangenen Revolution auf dem Maidan vor 2014 wohl nicht mehr besonders ausgeleuchtet zu werden braucht, nun von seinen rechtsextremen Wurzeln getrennt habe und als heroische Verteidiger von Mariupol heilig gesprochen werden müsse –, abgesehen davon also habe ich zur Kenntnis genommen, dass in der Ukraine auch Einheiten der englischen Streitkräfte, also Nato-Truppen operieren, was einen klaren Bruch der Abmachungen zwischen Russland und der Nato darstellt. Vor einer Woche las ich in der französischen L'Opinion, was mehr oder weniger ein Ableger des Wall Street Journal ist, dass die Nato seit dem Maidan-Jahr 2014 in der Ukraine bereits über 100'000 Militärpersonen ausgebildet habe, von einfachen Truppeneinheiten bis hinauf zur Heeresführung. Instruktion der Heeresführung durch Nato-Personal? Ich brauche gar nicht auszudeutschen, was das bedeutet. Ich kann es aber machen: Es ist absolut nachvollziehbar, wenn der Russe so etwas als Kriegsgrund ansieht. Man wird zur ideologischen Verteidigung der ukrainischen Streitkräfte anführen, dass nach der Annexion der Krim und der Pseudo-Nicht-Annexion der Ostukraine die Anlehnung an die Nato ein vernünftiger Schritt war. Zur ideologischen Verteidigung im Nachhinein der russischen Seite wird man wiederum geltend machen, dass die Annexion der Krim eine Folge der Destabilisierungsversuche des Westens waren, welche im Jahr 2014 zur orangenen Revolution, in westlicher Mediensprache: zum Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Janukowitsch geführt hatte. Von der Qualität dieses Präsidenten ist hier nicht die Rede, ebensowenig wie von der seiner Vorgänger Juschtschenko und Kutschma oder seiner Nachfolger Poroschenko und Selenski. Fest steht, er wurde gestürzt, unter anderem vom Asow-Regiment und von einem quisi-quasi Volksaufstand, und über die Berichterstattung der Medien bereits in diesem Zusammenhang will ich auch nicht sprechen, sie war schon damals so toxisch wie heute.

Kommentare
26.04.2022 / 18:01 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 26.04.. Vielen Dank !