"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Geistiges Ebola

ID 96664
 
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Ich weiß nicht mehr, auf welchem Wege ich in den Besitz des Büchleins «Die Werke der Barm­herzigkeit» von Mathieu Riboulet gekommen bin, aber da es nun mal bei uns herum liegt, blättere ich manchmal darin und lese zum Beispiel auf Seite 118 folgende Stelle ...
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11:50 min, 27 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 06.08.2019 / 09:36

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Religion, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 06.08.2019
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
... Im April 1985, anlässlich der Feierlichkeiten zum vierzigsten Jahrestag der Befreiung des Nazi-Konzentrationslagers in der Nähe von Besançon, versuchten die Mitglieder einer Vereinigung überlebender Homosexueller einen Kranz zum Gedenken an die Rosa Winkel niederzulegen, worauf sie sich als Reaktion auf ihre Initiative folgende Beschimpfung von einer Gruppe ehemaliger Deportierter anhören mussten: «Man sollte die Öfen wieder anmachen und die Schwulen drin verbrennen!»

Hmm. Wenn man sowas liest, ist man zunächst sprachlos. Man denkt wegen des Zusammenhangs mit Nazis und Kzs an die antijüdischen Pogrome in Krakau, die drei Monate nach der Befreiung des Lagers Auschwitz stattfanden, weil sich irgendwie die Nachricht verbreitet hatte, dass die Jüdinnen und Juden ein Christenkind geschlachtet und gegessen hätten. Das zum Naturgesetz geronnene Vorurteil war stärker als das größte und grauenhafteste Verbrechen der Neuzeit, die Krakauer Individuen im Kollektiv nicht fähig und willens zu einem Minimum an Reflexion. Anderseits denkt man auch, dass sich so etwas heute nicht mehr ereignen würde in einer Zeit, in der große europä­ische Städte von homosexuellen Bürgermeisterinnen regiert werden. Die Zeiten verändern sich. Was sich aber kaum verändert, das ist die Bereitschaft einiger Mitglieder der Gesellschaft, ihren Kopf mit besinnungs­losem Zorn zu fluten, heute bezeichnet man das in der Regel als Hass. Mathieu Riboulet schreibt weiter: «Ich weiß, von wie viel eingebildetem Groll sich unsere Leben nähren und dass manche daraus den unentbehrlichen Treibstoff ihrer Existenz, ihrer Daseinsberechtigung gemacht haben. Aber die Vereinigung solcher individueller Absonderlichkeiten im Rahmen von kollektivem Wiederkäuen, Identitätslamento, Parolen, Schmähungen, ob zu politischen oder taktischen Zwecken, stellt mich vor etwas Undenkbares und macht mich krank. Denn ich kann noch so viel wissen, wenn ich nicht denken kann, kann ich auch nicht wirklich wissen.»

Ein unerlässlicher Bestandteil dieses Grollens ist die Gewissheit, Recht zu haben.Von der Richtung her unterscheidet sich das nicht von meinem Grundsatz, dass es eine Wahrheit gibt, an diesem Grundsatz halte ich fest durch alle Bewusstseinsstürme hindurch; bloß bin ich etwas vorsichtiger, wenn es um konkrete Aussagen geht, ich bin oft zu Hypothesen gezwungen und gerade wegen meiner Wahrheitsliebe dazu, meine Hypothesen als solche zu deklarieren und auf Nachfrage anzugeben, was mich dazu bewegt, sie an- und aufzustellen. Ich muss im konkreten Fall stets die Möglichkeit einräumen, dass ich mich irren könnte, obwohl ich grundsätzlich keine Sekunde lang an der Existenz von Wahrheit zweifle. Bloß ist sie mir nicht in jedem Fall zugänglich. Das ist bei den grollenden Hassern und Brüllaffen anders. Sie haben nicht nur bedingungslos Recht, sondern sind auch der Pflicht entbunden, ihre Meinungen und Äußerungen zu überprüfen. Sie denken nicht und sind insofern in Riboulets Begriffen sogar doppelt undenkbar.

Wozu haben wir einen Kopf? Oder anders: Was ist unsere Welt, von der sozialen Organisation bis hin zu den Gütern des täglichen Gebrauchs, anderes als das Ergebnis von unzähligen Denkpro­zessen? Wieso, mit anderen Worten, versetzt das Mobiltelefon oder der Computer, mit welchem die Hassbotschaften abgesetzt werden, nicht umgehend dem Autor und der Autorin einen Stromschlag, weil sie sich gegen das Denken und somit gegen das Mobiltelefon und den Computer selber wenden?

Das ist eine dumme Frage, ich weiß, aber angesichts der radikalen Opposition der Brüller, Hasser und Groller gegen jegliche Form von Denken und Intellekt kommen einem halt kaum etwas Gescheites in den Sinn. Wie will man mit solchen Leuten kommunizieren? Sie hören ja sowieso nicht zu. Sie vernageln ihren Kopf freiwillig. Man muss die Diagnose stellen, dass diese Leute nicht etwa rechts oder politisch sind; vielmehr handelt es sich ganz offensichtlich um eine Krankheit, welche den Kopf befällt und die in unseren Ländern durchaus ansehnliche Teile der Bevölkerung infiziert hat. Wer will, kann die islamistischen Eiferer auch zu dieser Gruppe rechnen, wobei zu diskutieren wäre, ob religiöser Fanatismus tatsächlich zur gleichen Krankheitssorte gehört wie das aktuelle Brüllen, Geifern und Hassen.

Die Reaktionen auf den Angriff auf zwei Frauen und ein Kind im Bahnhof Frankfurt am Main letzte Woche stellten einen einsamen Höhepunkt dar unter den Ausbrüchen dieser Krankheit. Der ur­sprüng­lich aus Eritrea stammende Täter hatte zuerst in der Schweiz seine Familie und eine Bekannte bedroht, bevor er nach Deutschland reiste. Nun musste die Polizei diese Familie an einem sicheren Ort verstecken, weil sie zahlreiche Ernst zu nehmende Morddrohungen erhalten hatte. Nicht unerwartet, aber nichtsdestotrotz spektakulär die Reaktion von Politikerinnen der Allianz für Deutschland, zum Beispiel der in der Schweiz wohnhaften Alice Weidel, von der man eigentlich gerade wegen des rosa Winkels eine etwas höhere Zurückhaltung gegenüber ihren Neonazi-Kumpels erwarten müsste. So oder so ist das Bemühen der Rechtsnationalistinnen, den Angriff in Frankfurt auf die Migrationspolitik der Bundesregierung zurückzuführen, in seiner umfassenden Tatsachenleugnung einfach nur widerlich. Man muss davon ausgehen, dass Figuren wie die Weidelalice selber genau wissen, dass da nicht der geringste Zusammenhang besteht, und damit steht fest, dass die Weidelalice und Konsorten die erwähnte Geisteskrankheit vorsätzlich bewirtschaften beziehungsweise dass sie den entsprechenden Virus, der durchaus dem Ebola-Virus in Afrika vergleichbar ist, mit Absicht weiter verbreiten.

Es ist übrigens gut möglich, dass das Gejaule der Groller und Brüller aus dem Grund so heftig ausfiel, weil sie endlich mal wieder einen mindestens entfernt in ihr Weltbild passenden Vorfall gefunden hatten, nachdem seit dem Massenmord in Utoya über jenen in Christchurch und den Einzelfall des selbst ernannten und ermächtigten Selbstrichters an Walter Lübcke in Kassel bis hin zu den jüngsten rechtsextremen Anschlägen in den Vereinigten Staaten immer wieder und ausschließlich ihresgleichen als Täter exzelliert hatten. Aber es ist selbstverständlich unnütz, solche Dinge aufzurechnen, auch wenn gerade die Weidelalice immer wieder und gerade nach dem Mord an Lübcke zu beweisen versucht, dass die eigentlichen Opfer nicht die Ermordeten, sondern die AfD-Mitglieder sind. Das ist wirklich krank.

Das absichtliche Verbreiten von ansteckenden Krankheiten ist ein Straftatbestand, soviel ich weiß, und da ich durchaus kein Anhänger der Selbstjustiz bin, im Gegensatz zu den Brüllern und Grollern, warte ich gespannt darauf, ob sich der Justizminister und der Gesundheitsminister zu einer entsprechenden Untersuchung zusammen tun werden. Und soweit es sich um eine Krankheit handelt, welche das Hirn zerstört, wäre auch die Bildungsministerin gefordert, weil dieses Hirn bekanntlich zuvörderst in den Bildungsinstitutionen geformt und eben ausgebildet wird – hier sollte eigentlich das selbständige Denken erworben werden, das bei gut fünfzehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland vollständig zerstört wurde.

In der Zwischenzeit können wir uns eben mit Büchern und ihren Inhalten befassen wie den erwähnten «Werken der Barmherzigkeit» von Mathieu Riboulet. Die Religionskritik ging im 19. und 20. Jahrhundert stets davon aus, dass die Menschen nach der Überwindung des Hilfs- und Unterdrückungsmittels der institutionalisierten Transzendenz automatisch zu einer rationalen Rasse würden, welche sich aus eigenem Antrieb nach einem höchstmöglichen Wissensstand unter Einhaltung idealer Moralvorgaben bemühen würde. Im 19. Jahrhundert erschien das Proletariat ja sowieso als neue, unbefleckte Klasse voll reiner Hoffnung. So kam es offensichtlich nicht heraus. Die Klassiker der Religionskritik haben es zu dieser Zeit versäumt, nachhaltig auf die wesentlichen moralischen Grundlagen zu verweisen, die im Lauf der Jahrhunderte mit der Religion immer auch weitergegeben wurden und die in der Religionskritik eine unausgesprochene, aber ebenfalls zentrale Komponente darstellen, nämlich ein Element, das als selbstverständlich angenommen wurde, sozusagen ausserreligiös; wenn wir uns allerdings die Nazis und ihre Vorgänger, aber auch ihre Nachfahren in der AfD und so weiter anschauen, stellen wir fest, dass dies durchaus nicht selbstverständlich war, sodass man heute hin und wieder auf solche Grundlagen zurückverweisen muss, gerade zuhanden von Menschen und Gruppen, welche sich auf ein christliches Bekenntnis berufen, zum Beispiel wenn sie sich gegen die Islamisierung Europas wehren. Hier kommen die Werke der Barmherzigkeit ins Spiel. Riboulet zitiert sie im Prolog: «Die Hungrigen speisen, Durstigen zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, die Kranken besuchen, die Gefangenen besuchen, die Toten begraben – die Werke der Barmherzigkeit bilden eine Einheit kirchlich erlassener moralischer Gebote, die die Christen in die Pflicht nehmen und mit all ihrem Gewicht in die Waagschale des Jüngsten Gerichts fallen sollen.» Und er zitiert auch die entsprechende Bibelpassage, nämlich Kapitel 25, Verse 34–40 im Matthäus-Evangelium: «Dann wird der König denen zu seiner Rechten sagen: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, und erbt das Reich, das euch bereitet ist seit Grundlegung der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist; ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich beherbergt; ich bin ohne Kleidung gewesen, und ihr habt mich bekleidet; ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht; ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. – Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dich gespeist, oder durstig, und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremdling gesehen und haben dich beherbergt, oder ohne Kleidung, und haben dich bekleidet? Wann haben wir dich krank gesehen, oder im Gefängnis, und sind zu dir gekommen? – Und der König wird ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!» –

Und es versteht sich in dieser oft pur zweigeteilten Welt der Bibel, dass dieser König des Himmels und der Erde die anderen, welche all dies nicht getan haben, verflucht und sie in das ewige Feuer sendet, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist.

Ich möchte hier nicht besonders christlich tun oder etwa missionieren, aber dass das Neue Testament eine der moralischen Grundlagen des Handelns in den modernen Gesellschaften, und zwar gerade in den aufgeklärten modernen Gesellschaften darstellt, ist mir ebenso klar wie den Brüllaffen von der AfD und der Pegida, und aus diesem Grund ist es manchmal sachdienlich, den Originaltext in Erinnerung zu rufen.

Kommentare
07.08.2019 / 13:38 Tagesredaktion, free FM, Ulm
wird gesendet
Um 13:30 Uhr gespielt, Vielen Dank!