Zedern, Zeltstädte, Zivilgesellschaft. Ein Streifzug durch den Libanon. Teil 1
ID 96528
Der Libanon ist in unserer Wahrnehmung ein Teil des Nahostkonflikts, ein Land, in dem lange ein Bürgerkrieg tobte. Manchmal ist vom Libanon die Rede, wenn es um den hohen Anteil von Geflüchteten an der Einwohnerzahl geht. Aber sonst? Wie schaut das Land aus am östlichen Ende des Mittelmeers? Was bestimmt den Alltag der Bevölkerung? Welche Konflikte gibt es, welche Lösungsansätze? Und was hat der Westen damit zu tun? Das sind einige der Aspekte, die der Streifzug durch Gegenwart und Geschichte des Libanons beleuchtet. Autorin: Helga Ballauf
(Aus datentechnischen Gründen ist der Beitrag in zwei Teilen verfügbar.)
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Audio
21:49 min, 50 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 27.07.2019 / 22:28
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Klassifizierung
Beitragsart: Feature
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Kultur, Politik/Info
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
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Skript
Musik:
"Oxfam Arabia", "Fairuz. Lebanon Forever", "Fairuz", "Afkar Masaa"
(handelsübliche CDs, GEMA-pflichtig)
Zedern, Zeltstädte, Zivilgesellschaft.
Ein Streifzug durch den Libanon Teil 1
Musik (unter Text blenden)
Samstagabend, halb elf. Beirut. Stop-and-go-Verkehr im Ausgehviertel Hamra. Die Autofenster sind weit geöffnet, lautstark dringen Melodien und Rhythmen hinaus in die laue Abendluft, putschen die Feierfreudigen auf, auf ihrem Weg in angesagte Kneipen und Clubs. Vorglühen auf
Libanesisch. Auch auf den Gehsteigen ist Hochbetrieb: Eine verschleierte Frau im schweren, langen Mantel schlängelt sich durch die Autoparade hinüber auf die andere Straßenseite. Palavernde Männer stehen am Straßenrand, zwei junge Frauen mit Kopftuch und hipper Kleidung tragen abwechselnd ein schlafendes Kind. An den Tischen vor den Kneipen schauen gemischte Gruppen dem Treiben zu – und lassen die Wasserpfeife kreisen. Arabischer Frühling. Ein sanfter Einstieg in die raue Lebenswirklichkeit der Menschen im Libanon.
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Ansage
Zedern, Zeltstädte, Zivilgesellschaft. Ein Streifzug durch den Libanon. Von Helga Ballauf.
An Ostern liegt im Zedernwald auf 1600 Meter Schnee. Unten am Meer reifen derweil kleine schmackhafte Bananen an den Stauden. Der Libanon, ein Land der Gegensätze und des scheinbar Unvereinbaren. Umschlossen von Syrien und Israel. Und im Westen vom Mittelmeer. Der Libanon, Teil der Levante, Teil des Nahen Ostens, Teil des fruchtbaren Halbmonds. Ein Land mit einer verwegenen Topografie. Hinter der langen Mittelmeerküste geht es steil hinauf, bis zu den 3000 Meter aufragenden Gipfeln des Libanongebirges. Auf der anderen Seite liegt die fruchtbare Beeka-Ebene, weiter im Osten erneut begrenzt von einem Gebirgszug, dem sogenannten Antilibanon. Hinter dem erstreckt sich Syrien. Im Süden schließlich grenzt der Libanon an Israel.
*Akzent*
Der Libanon in Zahlen: Das Land ist halb so groß wie Hessen. Auf dieser Fläche leben rund 6 Millionen Einwohner. Gut die Hälfte von ihnen lebt oder arbeitet in der Hauptstadt Beirut. Von den 6 Millionen Menschen im Land gelten 2 Millionen als Flüchtlinge, etwa 1 ½ Millionen von ihnen sind vor dem syrischen Bürgerkrieg geflohen; etwa ½ Million vor 70 Jahren aus Palästina. Man stelle sich das einmal vor: Würden in der Bundesrepublik Deutschland anteilsmäßig so viele Geflüchtete leben wie im Libanon, wären das bei uns an die 27 Millionen Menschen. Der Libanon ist aber auch ein Land der Auswanderer: Geschätzt wird, dass sich etwa 6 bis 7 Millionen Libanesen und Libanesinnen anderswo in der Welt niedergelassen haben, also mehr Menschen als im Land selbst. Zur neuen Heimat der Ausgewanderten wurden vor allem Brasilien, Kanada, Australien oder Westafrika. Von ihren regelmäßigen Geldüberweisungen sind viele Familien im Libanon abhängig.
*Akzent*
Die Geografie des heutigen Libanon zwischen Meer und Hochgebirge bot von alters her Rückzugsmöglichkeiten für all jene, die Schutz suchten. Ein Beispiel ist das Kadishatal, im Norden des Libanongebirges. Weltkulturerbe seit 1998. Weltkulturerbe ist das Tal zum einen wegen der Zeder, dem Nationalsymbol des Libanon. Der Baum mit seinem wertvollen Holz ziert die Landesflagge ebenso wie Geldscheine und Münzen – und hat dem Land dereinst den Namen Zedernrepublik eingebracht. Vom Aussterben bedroht und deshalb in bestimmten Regionen wie dem Kadishatal besonders geschützt sind die Zedern auch ein Symbol für den Raubbau, der im Land jahrhundertelang an der Natur betrieben wurde.
Das Kadishatal gehört außerdem zum Weltkulturerbe, weil es einst ein Rückzugsort war für die christlichen Maroniten. Eine grüne und zugleich schroffe Gegend. Bei gutem Wetter sieht man das Meer, die Mündung des Kadishaflusses. Schaut man in die andere Richtung, fällt der Blick auf die höchsten Gipfel des Libanongebirges. Auf beiden Seiten des Tals sind Einsiedeleien und kleine Klöster auszumachen. An den Steilhängen des Kadishatals blühen Adonisröschen und Mohn, wachsen Ginstersträucher und Olivenbäume. Natürliche Höhlen in den Felswänden säumen den Weg, oft stehen kleine Heiligenfiguren in den Felsnischen. Von den Höhen schießen Wasserfälle herab. Hier und dort sind säuberlich angelegte Terrassen in der Landschaft zu erkennen, manche werden sogar noch bewirtschaftet. Denn ein paar der Einsiedeleien und Klöster im Kadishatal sind noch bewohnt. Etwa der frühere Sitz des maronitischen Patriarchen, das Kloster „Zu unserer lieben Frau von Kannoubine“. Eine einzelne Nonne hält das Ensemble in Schuss, das Handy stets zur Hand - ihr Draht zur Außenwelt. Die Kirche ist halb in den Fels geschlagen. Byzantinisch anmutende Fresken zieren die Wände. Die Maroniten kommen aus der Tradition der Ostkirche, erkennen aber den Papst in Rom an. Und im Gottesdienst wird selbstverständlich auf Arabisch gebetet und gesungen.
*Musik 1*
Wer erklären will, wie der Staat Libanon funktioniert, beginnt am besten im Jahr 1932. Damals fand die bisher letzte Volkszählung statt. Deren Ergebnisse prägen nach wie vor das staatliche Gefüge. Bis heute spielt eine entscheidende Rolle, wie viele Gläubige eine Religionsgemeinschaft damals hatte. Denn öffentliche Ämter werden nach dem konfessionellen Proporz vergeben. Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass sich in den fast 90 Jahren seit 1932 die zahlenmäßigen Anteile der Maroniten, Sunniten und Schiiten kräftig verschoben haben. Die christlichen Maroniten haben numerisch ihre Vormachtstellung längst verloren. Schätzungsweise ein Drittel der Bevölkerung ist inzwischen schiitisch. Und die Sunniten wären wohl die stärkste Kraft im Land, wenn Flüchtlinge zählen würden: Denn die allermeisten Menschen in den Palästinensercamps und sehr viele in den syrischen Flüchtlingslagern sind Sunniten. Doch dieses Fass macht niemand auf.
Mit der Unabhängigkeit, nach dem Bürgerkrieg und vor der letzten Parlamentswahl wurde der Verteilungsschlüssel zwischen den Glaubensgemeinschaften allerdings leicht angepasst. Aber nach wie vor gilt: Der Präsident im Libanon ist ein maronitischer Christ, der Regierungschef ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit. Das klingt einfach. Doch es ist viel komplizierter, weil es im Libanon 18 anerkannte Religionsgemeinschaften gibt. Unter anderem: die griechisch-katholischen und die griechisch-orthodoxen Christen, die armenisch apostolische und die armenisch-katholische Kirche, die Syrisch-orthodoxen und die Syrisch-katholischen Christen, die syrischen Alawiten und die Drusen. Und sie alle wollen Stellen in Regierung und Staatsapparat besetzen. Streng nach Proporz und unter Berücksichtigung der jeweiligen Wahlergebnisse, versteht sich. Konkordanzdemokratie heißt das dann. Die Quadratur des Kreises. Kein Wunder, dass die Regierungsbildung nach der letzten Parlamentswahl fast neun Monate gedauert hat.
*Akzent*
Apropos Wahl: Libanesinnen und Libanesen wählen nicht an ihrem Wohnort, sondern dort, wo sie geboren wurden. Auch das zementiert die Verhältnisse. Und lässt kaum Spielraum für politisch neue Ansätze: Bei der Parlamentswahl im Mai 2018 kandidierte beispielsweise eine überkonfessionelle Liste, zu der sich 21 zivilgesellschaftliche Organisationen zusammengefunden hatten: Kollouna Watani. Eine Kandidatin in Beirut wurde tatsächlich ins Parlament gewählt, eine zweite verpasste den Sitz aber knapp. Was Wunder, denn viele Anhänger und Sympathisantinnen von Kollouna Watani konnten gar nicht in Beirut, sondern mussten am Geburtsort wählen. Einerseits ist der Libanon stolz auf das Prädikat, im Nahen Osten neben Israel die einzig funktionierende Demokratie zu sein. Andererseits leistet sich das Land aber eine Staatsverfassung, die eng und unbeweglich wie ein Korsett ist und uralte Strukturen und Mechanismen festschreibt. Dieses System passt den drei einflussreichen Kräften im Land, den Familienclans, den Warlords und den Kirchenfürsten, gut in den Kram. So können sie untereinander weitgehend ungestört die Zugänge zu Macht und Geld auskungeln. Noch.
*Musik 2*
Das Gebiet des heutigen Libanon ist biblisches Territorium. Das löst Assoziationen aus. Etwa zu dem Thema: Wählen am Geburtsort statt am aktuellen Wohnsitz. Gibt es da nicht die Geschichte von Josef und der hochschwangeren Maria, die einst nach Betlehem, der Herkunftsstadt Josefs, ziehen mussten, um sich eintragen zu lassen? Ja richtig, eintragen musste sich Josef schon, allerdings ging es in der Geschichte des Neuen Testaments nicht um eine Wahl, sondern um eine Volkszählung. Aber das Prinzip: zurück zu den Wurzeln, verbindet beides. Symbolisch. Sehr konkret dagegen werden die biblischen Bezüge in Sidon, arabisch Saida genannt, einer Hafenstadt südlich von Beirut. Bei den Propheten im Alten Testament taucht Sidon mehrfach als verfluchter Ort auf, der den Zorn des Herrn auf sich gezogen hat und dem Untergang nahe ist. Das Neue Testament dagegen hat erfreulichere Botschaften: Es wird berichtet, dass Jesus in der Gegend von Sidon Wunder wirkte. 2000 Jahre alte Geschichten.
*Akzent*
Sidon, Saida heute im 21. Jahrhundert. Eine gemischt-religiöse Stadt, eine, die diese Vielfalt auch pflegt. In der Liga der Wohlfahrtsverbände Saidas arbeiten Nichtregierungsorganisationen mit unterschiedlicher religiöser und politischer Ausrichtung zusammen. Sie kümmern sich um Rauschgiftabhängige und Drogenprävention, sie bieten Gesundheits- und soziale Dienste für Behinderte und Bedürftige an, sie veranstalten Jugendkurse zur Persönlichkeitsentwicklung oder zur Berufsorientierung. Und sie tun etwas für die interreligiöse Verständigung: Beispielsweise dann, wenn Jugendliche im benachbarten Dorf Wardaniyeh losziehen und Interviews mit Gläubigen verschiedener Religionsgemeinschaften machen. Anschließend wird das Erfahrene in einem Seminar ausgewertet: Was verbindet uns? Was trennt uns? Warum? Wie kommen wir raus aus der Sackgasse? In der Liga der Wohlfahrtsverbände von Saida nützen die Gruppen ihre jeweiligen Kontakte zu staatlichen Stellen und Stiftungen sowie zu Förderern im Ausland, um ihre Arbeit zu finanzieren. In enger Abstimmung mit dem Rathaus, wie es heißt. Bei Licht betrachtet übernimmt hier die Zivilgesellschaft kommunale Aufgaben. Aber auch das ist der Libanon. Was bleibt den Menschen anderes übrig, als selbst Hand anzulegen, in einem Land, in dem der tägliche Stoßseufzer heißt: Es gibt keinen Staat!
*Musik 3*
Shatila im Süden Beiruts. Eines von insgesamt zwölf offiziellen Flüchtlingslagern für Palästinenser im Libanon. Seit 1949 sorgt eine eigene UN-Organisation, die UNWRA, für das Notwendigste zum Überleben. 70 Jahre nach Flucht und Vertreibung aus Palästina leben die Menschen immer noch im Wartestand. Eine halbe Million etwa in libanesischen Camps. Hier in Shatila türmen sich die immer wieder erweiterten und überbauten Behausungen wie überdimensionale Legosteine in die Höhe, bis zu sieben Stockwerke hoch. Die Gassen zwischen den Häusern sind manchmal so schmal, dass nur eine Person durchkommt. Kein Motorrad, kein Karren. Und kaum Licht. Fast pittoresk mutet der Kabelsalat zwischen den Häusern an: Ein Anblick, wie er sich in vielen Fotos oder Filmen über Elendsquartiere findet. Der Kabelwust, ein Symbol für bittere Armut und Ideenreichtum gleichermaßen. In den breiteren Gassen herrscht Markttreiben. Alles und jedes wird feilgeboten - zumeist von Männern. Frauen tauchen als Kundinnen auf. Auffällig, wie viele kleine Friseurläden es speziell für Männer gibt. Hier sitzen die jungen Herren und lassen sich stylen. Coole Haarschnitte und gepflegte Fönfrisuren sind gefragt, auch im Camp. Up-to-date wollen sie sein, elende Behausung hin oder her. Up-to-date.
*Akzent*
Gibt es eine Perspektive im sogenannten Flüchtlingslager für die Nachgeborenen oder gar einen Weg hinaus? Wer im Libanon als palästinensischer Flüchtling geboren wurde, hat so gut wie keine Chance, diesen Status loszuwerden. Es gibt Schulen in Shatila und den anderen Camps, ja, selbst ein Studium ist möglich. Vorausgesetzt, sie oder er findet Sponsoren, die Studium und Lebensunterhalt bezahlen. Aber selbst ein Hochschulabschluss garantiert keinen guten Job. Berufsständische Regelungen im Libanon verwehren den Flüchtlingen den Zugang zu vielen anspruchsvollen Tätigkeiten. Zumindest die angemessene Bezahlung. Denn die diplomierte palästinensische Architektin kann zwar Arbeit in einem Architekturbüro finden; sie kann für den Kunden das Traumhaus entwerfen. Unterschreiben aber darf sie den Bauplan nicht. Das müssen libanesische Kollegen tun. Mit der Folge, dass sie nie über den Status und das Gehalt einer Zuarbeiterin hinauskommt. Für die Mehrheit der Menschen in den palästinensischen Flüchtlingscamps bleibt ohnedies nur die Beschäftigung in schlecht bezahlten Einfachjobs. Arbeitslosigkeit und Armut sind groß. Ein Volk ohne Perspektive.
*Akzent*
Palästinensische Flüchtlinge im Libanon – ein Volk im Wartestand. Aber warten worauf? Im Flüchtlingscamp Shatila im Süden Beiruts sind alle paar Meter riesengroße Porträts von Jassir Arafat zu sehen, als junger Kämpfer der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO oder als alter Führer, der sich ganz dem politischen Kampf verschrieben hatte, und für einen Ausgleich mit Israel 1994 sogar den Friedensnobelpreis erhielt. Der Mythos Arafat scheint bei vielen Menschen in Shatila nach wie vor zu wirken. Die PLO jedenfalls ist in den Flüchtlingslagern die tonangebende Kraft. Sie koordiniert die Arbeit der diversen politischen Fraktionen in der Camp-Verwaltung. Sie hält den Traum von einer Rückkehr in die Heimat Palästina aufrecht. Dass viele gern an dem Traum festhalten, die inzwischen mehr als 70jährige Vertreibung rückgängig zu machen, hängt direkt mit der Perspektivlosigkeit in den libanesischen Lagern zusammen. Das Leben im Ghetto, ein fataler Dauerzustand. Nicht alle Palästinenser und Palästinenserinnen wollen, dass es so weitergeht. Es gibt Stimmen, die für eine Integration in die libanesische Gesellschaft plädieren, für Rechte, wie sie die Palästinenser in Jordanien und Syrien durchaus haben. Es sind Stimmen, die bisher weder bei den eigenen Autoritäten der Palästinenser noch in der libanesischen Politik wirklich Gehör finden.
*Musik 4*
"Oxfam Arabia", "Fairuz. Lebanon Forever", "Fairuz", "Afkar Masaa"
(handelsübliche CDs, GEMA-pflichtig)
Zedern, Zeltstädte, Zivilgesellschaft.
Ein Streifzug durch den Libanon Teil 1
Musik (unter Text blenden)
Samstagabend, halb elf. Beirut. Stop-and-go-Verkehr im Ausgehviertel Hamra. Die Autofenster sind weit geöffnet, lautstark dringen Melodien und Rhythmen hinaus in die laue Abendluft, putschen die Feierfreudigen auf, auf ihrem Weg in angesagte Kneipen und Clubs. Vorglühen auf
Libanesisch. Auch auf den Gehsteigen ist Hochbetrieb: Eine verschleierte Frau im schweren, langen Mantel schlängelt sich durch die Autoparade hinüber auf die andere Straßenseite. Palavernde Männer stehen am Straßenrand, zwei junge Frauen mit Kopftuch und hipper Kleidung tragen abwechselnd ein schlafendes Kind. An den Tischen vor den Kneipen schauen gemischte Gruppen dem Treiben zu – und lassen die Wasserpfeife kreisen. Arabischer Frühling. Ein sanfter Einstieg in die raue Lebenswirklichkeit der Menschen im Libanon.
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Ansage
Zedern, Zeltstädte, Zivilgesellschaft. Ein Streifzug durch den Libanon. Von Helga Ballauf.
An Ostern liegt im Zedernwald auf 1600 Meter Schnee. Unten am Meer reifen derweil kleine schmackhafte Bananen an den Stauden. Der Libanon, ein Land der Gegensätze und des scheinbar Unvereinbaren. Umschlossen von Syrien und Israel. Und im Westen vom Mittelmeer. Der Libanon, Teil der Levante, Teil des Nahen Ostens, Teil des fruchtbaren Halbmonds. Ein Land mit einer verwegenen Topografie. Hinter der langen Mittelmeerküste geht es steil hinauf, bis zu den 3000 Meter aufragenden Gipfeln des Libanongebirges. Auf der anderen Seite liegt die fruchtbare Beeka-Ebene, weiter im Osten erneut begrenzt von einem Gebirgszug, dem sogenannten Antilibanon. Hinter dem erstreckt sich Syrien. Im Süden schließlich grenzt der Libanon an Israel.
*Akzent*
Der Libanon in Zahlen: Das Land ist halb so groß wie Hessen. Auf dieser Fläche leben rund 6 Millionen Einwohner. Gut die Hälfte von ihnen lebt oder arbeitet in der Hauptstadt Beirut. Von den 6 Millionen Menschen im Land gelten 2 Millionen als Flüchtlinge, etwa 1 ½ Millionen von ihnen sind vor dem syrischen Bürgerkrieg geflohen; etwa ½ Million vor 70 Jahren aus Palästina. Man stelle sich das einmal vor: Würden in der Bundesrepublik Deutschland anteilsmäßig so viele Geflüchtete leben wie im Libanon, wären das bei uns an die 27 Millionen Menschen. Der Libanon ist aber auch ein Land der Auswanderer: Geschätzt wird, dass sich etwa 6 bis 7 Millionen Libanesen und Libanesinnen anderswo in der Welt niedergelassen haben, also mehr Menschen als im Land selbst. Zur neuen Heimat der Ausgewanderten wurden vor allem Brasilien, Kanada, Australien oder Westafrika. Von ihren regelmäßigen Geldüberweisungen sind viele Familien im Libanon abhängig.
*Akzent*
Die Geografie des heutigen Libanon zwischen Meer und Hochgebirge bot von alters her Rückzugsmöglichkeiten für all jene, die Schutz suchten. Ein Beispiel ist das Kadishatal, im Norden des Libanongebirges. Weltkulturerbe seit 1998. Weltkulturerbe ist das Tal zum einen wegen der Zeder, dem Nationalsymbol des Libanon. Der Baum mit seinem wertvollen Holz ziert die Landesflagge ebenso wie Geldscheine und Münzen – und hat dem Land dereinst den Namen Zedernrepublik eingebracht. Vom Aussterben bedroht und deshalb in bestimmten Regionen wie dem Kadishatal besonders geschützt sind die Zedern auch ein Symbol für den Raubbau, der im Land jahrhundertelang an der Natur betrieben wurde.
Das Kadishatal gehört außerdem zum Weltkulturerbe, weil es einst ein Rückzugsort war für die christlichen Maroniten. Eine grüne und zugleich schroffe Gegend. Bei gutem Wetter sieht man das Meer, die Mündung des Kadishaflusses. Schaut man in die andere Richtung, fällt der Blick auf die höchsten Gipfel des Libanongebirges. Auf beiden Seiten des Tals sind Einsiedeleien und kleine Klöster auszumachen. An den Steilhängen des Kadishatals blühen Adonisröschen und Mohn, wachsen Ginstersträucher und Olivenbäume. Natürliche Höhlen in den Felswänden säumen den Weg, oft stehen kleine Heiligenfiguren in den Felsnischen. Von den Höhen schießen Wasserfälle herab. Hier und dort sind säuberlich angelegte Terrassen in der Landschaft zu erkennen, manche werden sogar noch bewirtschaftet. Denn ein paar der Einsiedeleien und Klöster im Kadishatal sind noch bewohnt. Etwa der frühere Sitz des maronitischen Patriarchen, das Kloster „Zu unserer lieben Frau von Kannoubine“. Eine einzelne Nonne hält das Ensemble in Schuss, das Handy stets zur Hand - ihr Draht zur Außenwelt. Die Kirche ist halb in den Fels geschlagen. Byzantinisch anmutende Fresken zieren die Wände. Die Maroniten kommen aus der Tradition der Ostkirche, erkennen aber den Papst in Rom an. Und im Gottesdienst wird selbstverständlich auf Arabisch gebetet und gesungen.
*Musik 1*
Wer erklären will, wie der Staat Libanon funktioniert, beginnt am besten im Jahr 1932. Damals fand die bisher letzte Volkszählung statt. Deren Ergebnisse prägen nach wie vor das staatliche Gefüge. Bis heute spielt eine entscheidende Rolle, wie viele Gläubige eine Religionsgemeinschaft damals hatte. Denn öffentliche Ämter werden nach dem konfessionellen Proporz vergeben. Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass sich in den fast 90 Jahren seit 1932 die zahlenmäßigen Anteile der Maroniten, Sunniten und Schiiten kräftig verschoben haben. Die christlichen Maroniten haben numerisch ihre Vormachtstellung längst verloren. Schätzungsweise ein Drittel der Bevölkerung ist inzwischen schiitisch. Und die Sunniten wären wohl die stärkste Kraft im Land, wenn Flüchtlinge zählen würden: Denn die allermeisten Menschen in den Palästinensercamps und sehr viele in den syrischen Flüchtlingslagern sind Sunniten. Doch dieses Fass macht niemand auf.
Mit der Unabhängigkeit, nach dem Bürgerkrieg und vor der letzten Parlamentswahl wurde der Verteilungsschlüssel zwischen den Glaubensgemeinschaften allerdings leicht angepasst. Aber nach wie vor gilt: Der Präsident im Libanon ist ein maronitischer Christ, der Regierungschef ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit. Das klingt einfach. Doch es ist viel komplizierter, weil es im Libanon 18 anerkannte Religionsgemeinschaften gibt. Unter anderem: die griechisch-katholischen und die griechisch-orthodoxen Christen, die armenisch apostolische und die armenisch-katholische Kirche, die Syrisch-orthodoxen und die Syrisch-katholischen Christen, die syrischen Alawiten und die Drusen. Und sie alle wollen Stellen in Regierung und Staatsapparat besetzen. Streng nach Proporz und unter Berücksichtigung der jeweiligen Wahlergebnisse, versteht sich. Konkordanzdemokratie heißt das dann. Die Quadratur des Kreises. Kein Wunder, dass die Regierungsbildung nach der letzten Parlamentswahl fast neun Monate gedauert hat.
*Akzent*
Apropos Wahl: Libanesinnen und Libanesen wählen nicht an ihrem Wohnort, sondern dort, wo sie geboren wurden. Auch das zementiert die Verhältnisse. Und lässt kaum Spielraum für politisch neue Ansätze: Bei der Parlamentswahl im Mai 2018 kandidierte beispielsweise eine überkonfessionelle Liste, zu der sich 21 zivilgesellschaftliche Organisationen zusammengefunden hatten: Kollouna Watani. Eine Kandidatin in Beirut wurde tatsächlich ins Parlament gewählt, eine zweite verpasste den Sitz aber knapp. Was Wunder, denn viele Anhänger und Sympathisantinnen von Kollouna Watani konnten gar nicht in Beirut, sondern mussten am Geburtsort wählen. Einerseits ist der Libanon stolz auf das Prädikat, im Nahen Osten neben Israel die einzig funktionierende Demokratie zu sein. Andererseits leistet sich das Land aber eine Staatsverfassung, die eng und unbeweglich wie ein Korsett ist und uralte Strukturen und Mechanismen festschreibt. Dieses System passt den drei einflussreichen Kräften im Land, den Familienclans, den Warlords und den Kirchenfürsten, gut in den Kram. So können sie untereinander weitgehend ungestört die Zugänge zu Macht und Geld auskungeln. Noch.
*Musik 2*
Das Gebiet des heutigen Libanon ist biblisches Territorium. Das löst Assoziationen aus. Etwa zu dem Thema: Wählen am Geburtsort statt am aktuellen Wohnsitz. Gibt es da nicht die Geschichte von Josef und der hochschwangeren Maria, die einst nach Betlehem, der Herkunftsstadt Josefs, ziehen mussten, um sich eintragen zu lassen? Ja richtig, eintragen musste sich Josef schon, allerdings ging es in der Geschichte des Neuen Testaments nicht um eine Wahl, sondern um eine Volkszählung. Aber das Prinzip: zurück zu den Wurzeln, verbindet beides. Symbolisch. Sehr konkret dagegen werden die biblischen Bezüge in Sidon, arabisch Saida genannt, einer Hafenstadt südlich von Beirut. Bei den Propheten im Alten Testament taucht Sidon mehrfach als verfluchter Ort auf, der den Zorn des Herrn auf sich gezogen hat und dem Untergang nahe ist. Das Neue Testament dagegen hat erfreulichere Botschaften: Es wird berichtet, dass Jesus in der Gegend von Sidon Wunder wirkte. 2000 Jahre alte Geschichten.
*Akzent*
Sidon, Saida heute im 21. Jahrhundert. Eine gemischt-religiöse Stadt, eine, die diese Vielfalt auch pflegt. In der Liga der Wohlfahrtsverbände Saidas arbeiten Nichtregierungsorganisationen mit unterschiedlicher religiöser und politischer Ausrichtung zusammen. Sie kümmern sich um Rauschgiftabhängige und Drogenprävention, sie bieten Gesundheits- und soziale Dienste für Behinderte und Bedürftige an, sie veranstalten Jugendkurse zur Persönlichkeitsentwicklung oder zur Berufsorientierung. Und sie tun etwas für die interreligiöse Verständigung: Beispielsweise dann, wenn Jugendliche im benachbarten Dorf Wardaniyeh losziehen und Interviews mit Gläubigen verschiedener Religionsgemeinschaften machen. Anschließend wird das Erfahrene in einem Seminar ausgewertet: Was verbindet uns? Was trennt uns? Warum? Wie kommen wir raus aus der Sackgasse? In der Liga der Wohlfahrtsverbände von Saida nützen die Gruppen ihre jeweiligen Kontakte zu staatlichen Stellen und Stiftungen sowie zu Förderern im Ausland, um ihre Arbeit zu finanzieren. In enger Abstimmung mit dem Rathaus, wie es heißt. Bei Licht betrachtet übernimmt hier die Zivilgesellschaft kommunale Aufgaben. Aber auch das ist der Libanon. Was bleibt den Menschen anderes übrig, als selbst Hand anzulegen, in einem Land, in dem der tägliche Stoßseufzer heißt: Es gibt keinen Staat!
*Musik 3*
Shatila im Süden Beiruts. Eines von insgesamt zwölf offiziellen Flüchtlingslagern für Palästinenser im Libanon. Seit 1949 sorgt eine eigene UN-Organisation, die UNWRA, für das Notwendigste zum Überleben. 70 Jahre nach Flucht und Vertreibung aus Palästina leben die Menschen immer noch im Wartestand. Eine halbe Million etwa in libanesischen Camps. Hier in Shatila türmen sich die immer wieder erweiterten und überbauten Behausungen wie überdimensionale Legosteine in die Höhe, bis zu sieben Stockwerke hoch. Die Gassen zwischen den Häusern sind manchmal so schmal, dass nur eine Person durchkommt. Kein Motorrad, kein Karren. Und kaum Licht. Fast pittoresk mutet der Kabelsalat zwischen den Häusern an: Ein Anblick, wie er sich in vielen Fotos oder Filmen über Elendsquartiere findet. Der Kabelwust, ein Symbol für bittere Armut und Ideenreichtum gleichermaßen. In den breiteren Gassen herrscht Markttreiben. Alles und jedes wird feilgeboten - zumeist von Männern. Frauen tauchen als Kundinnen auf. Auffällig, wie viele kleine Friseurläden es speziell für Männer gibt. Hier sitzen die jungen Herren und lassen sich stylen. Coole Haarschnitte und gepflegte Fönfrisuren sind gefragt, auch im Camp. Up-to-date wollen sie sein, elende Behausung hin oder her. Up-to-date.
*Akzent*
Gibt es eine Perspektive im sogenannten Flüchtlingslager für die Nachgeborenen oder gar einen Weg hinaus? Wer im Libanon als palästinensischer Flüchtling geboren wurde, hat so gut wie keine Chance, diesen Status loszuwerden. Es gibt Schulen in Shatila und den anderen Camps, ja, selbst ein Studium ist möglich. Vorausgesetzt, sie oder er findet Sponsoren, die Studium und Lebensunterhalt bezahlen. Aber selbst ein Hochschulabschluss garantiert keinen guten Job. Berufsständische Regelungen im Libanon verwehren den Flüchtlingen den Zugang zu vielen anspruchsvollen Tätigkeiten. Zumindest die angemessene Bezahlung. Denn die diplomierte palästinensische Architektin kann zwar Arbeit in einem Architekturbüro finden; sie kann für den Kunden das Traumhaus entwerfen. Unterschreiben aber darf sie den Bauplan nicht. Das müssen libanesische Kollegen tun. Mit der Folge, dass sie nie über den Status und das Gehalt einer Zuarbeiterin hinauskommt. Für die Mehrheit der Menschen in den palästinensischen Flüchtlingscamps bleibt ohnedies nur die Beschäftigung in schlecht bezahlten Einfachjobs. Arbeitslosigkeit und Armut sind groß. Ein Volk ohne Perspektive.
*Akzent*
Palästinensische Flüchtlinge im Libanon – ein Volk im Wartestand. Aber warten worauf? Im Flüchtlingscamp Shatila im Süden Beiruts sind alle paar Meter riesengroße Porträts von Jassir Arafat zu sehen, als junger Kämpfer der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO oder als alter Führer, der sich ganz dem politischen Kampf verschrieben hatte, und für einen Ausgleich mit Israel 1994 sogar den Friedensnobelpreis erhielt. Der Mythos Arafat scheint bei vielen Menschen in Shatila nach wie vor zu wirken. Die PLO jedenfalls ist in den Flüchtlingslagern die tonangebende Kraft. Sie koordiniert die Arbeit der diversen politischen Fraktionen in der Camp-Verwaltung. Sie hält den Traum von einer Rückkehr in die Heimat Palästina aufrecht. Dass viele gern an dem Traum festhalten, die inzwischen mehr als 70jährige Vertreibung rückgängig zu machen, hängt direkt mit der Perspektivlosigkeit in den libanesischen Lagern zusammen. Das Leben im Ghetto, ein fataler Dauerzustand. Nicht alle Palästinenser und Palästinenserinnen wollen, dass es so weitergeht. Es gibt Stimmen, die für eine Integration in die libanesische Gesellschaft plädieren, für Rechte, wie sie die Palästinenser in Jordanien und Syrien durchaus haben. Es sind Stimmen, die bisher weder bei den eigenen Autoritäten der Palästinenser noch in der libanesischen Politik wirklich Gehör finden.
*Musik 4*