"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Verfassungen
ID 92578
Und wenn eine Verfassung noch in Stein gemeißelt wäre – es gibt jederzeit und überall neue jungfräuliche Steine für einen neuen Text. Die Verfassungs-Steinhauerei ist gegenwärtig in verschiedenen Ländern in Mode, wo die Amtszeit des Präsidenten vom Grundgesetz eingeschränkt wird.
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09:47 min, 22 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 11.12.2018 / 15:32
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Klassifizierung
Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Religion, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung
AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 11.12.2018
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
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Skript
In Burundi zum Beispiel durfte Pierre Nkurunziza nur zwei Mandate lang an der Macht bleiben. Trotzdem kandidierte er im Jahr 2015 ein drittes Mal und änderte dafür halt die Verfassung. Selbstverständlich weckte dies einigen Unmut im Lande. Nkurunziza behauptet jetzt, die Proteste gegen seine Regierung und seine Person im ganzen Land seien die Folge feindlicher Aktivitäten des Nachbarstaates Rwanda, das auf seinem Boden junge Burunder politisch, ideologisch und militärisch ausbilde, um sie dann zurück nach Burundi zu senden, um das Land zu destabilisieren. Gleichzeitig klagt er die Regierung in Rwanda an, sie sei die Statthalterin der alten Kolonialmacht Belgien und der EU, kurz, der ganze antikolonialistische Sermon, den man in jedem Konflikt unverändert von sich geben und dem politischen Gegner vorwerfen kann. Jedenfalls betrachtet Nkurunziza Rwanda neuerdings nicht mehr als Nachbarland, sondern als Feind. Eine Vermittlerkonferenz Ende November wurde von Nkurunziza boykottiert, weil er nicht genügend Zeit zur Vorbereitung gehabt habe. Und so weiter.
Im anderen und unvergleichlich größeren Nachbarland Kongo hat Joseph Kabila die Verfassung nicht neu geschrieben, obwohl sie ihm wie in Burundi die Kandidatur für eine dritte Amtszeit verbietet. Kabila ließ nach Ablauf des zweiten Mandats im Jahr 2016 einfach keine Neuwahlen mehr ausschreiben. Nun soll es am 23. Dezember 2018 doch so weit sein, also mit zwei Jahren Verspätung; aber ob es tatsächlich so weit kommt, wollen wir dann noch sehen, Weihnachtsüberraschungen sind in diesem allerkatholischsten Lande nicht auszuschließen. Immerhin spricht Kabila von einer Rückkehr bei den Wahlen 2023, also könnte es ihm durchaus Ernst sein mit den Wahlen in diesem Jahr, welche in diesem Fall ein Interregnum einleiten täten, ähnlich wie in der Sowjetunion, äh, pardong, in Russland mit dem Duo Medwedew und Putin. Kabilas Kandidat heißt Emanuel Ramazani Shadari, der aber gegenwärtig in den Umfragen hinter seinen sieben Konkurrenten zurückliegt. Gegen ihn hat die Europäische Union Sanktionen verhängt wegen Menschenrechtsverletzungen, aber im Kongo werde ja nicht der Präsident Europas, sondern des Kongos gewählt, meinte Herr Kabila zu diesem Thema.
Eines steht aber auf jeden Fall fest: In Afrika ist Stabilität manchmal mehr wert als eine formvollendete demokratische Verfassung. Insofern wollen wir aus Albert Einsteins Relativitätstheorie und Albert Schweitzers humanitärem Engagement folgende Weisheit herausziehen: – Oh, pardong, es fällt mir gerade nichts Kluges ein. Jedenfalls ist der Kongo eines der reichsten Länder, was die Rohstoffe angeht, und eines der ärmsten, was die Bevölkerung angeht, und wiederum eines der reicheren, was den Staatschef angeht; der Spiegel schätzte Kabila vor zwei Jahren auf über 100 Millionen Dollar, aber in Tat und Wahrheit kann man mit dem Zehnfachen rechnen, denn der Präsident greift jeweils seinen Teil ab von den Verträgen, die er mit den internationalen Rohstoffkonzernen abschließt, zum Beispiel mit der Glencore mit Sitz im schweizerischen Kanton Zug. Übrigens hat die demokratische Republik Kongo ungefähr gleich viele Einwohnerinnen wie Deutschland, bei einer sechs Mal so großen Fläche. Und von einer inneren Ordnung kann selbstverständlich nicht die Rede sein.
Übrigens habe ich kürzlich etwas gelesen vom Unmut zahlreicher Bewohnerinnen Sambias über die Chinesen, welche in diesem Land arbeiten, investieren, Eisenbahnen und Fabriken bauen. Ich verstehe diesen Unmut zu gewissen Teilen, aber die einzige Möglichkeit, daran etwas zu ändern, wäre halt schon die, dass die Afrikanerinnen, hier also die Sambierinnen, den ganzen Karsumpel mit den Verkehrswegen und den Produktionsstätten selber aufbauen täten. Und von so etwas ist mir bisher zwischen Tunesien und Südafrika noch nichts zu Ohren gekommen. Stattdessen erklingt das Lamento über die Dominanz der ehemaligen Kolonialherren aus Europa ungefähr so, als wäre es die Nationalhymne von ganz Schwarzafrika. Ich dagegen sage: Nur Mut! Es wird gar nicht mehr so lange dauern, und ihr habt tatsächlich eure eigenen Kapitalisten hervorgebracht, welche euch zeigen, wie der Mensch den Menschen so richtig nach Strich und Faden ausbeutet, also nicht als Sklaven hält, sondern ganz normal nach den Gesetzmäßigkeiten der Marktwirtschaft. Und dann könnt ihr euch dann auf eure nationalen Klassenkämpfe einlassen und am Schluss die Herrschaft der Sozialdemokratie auch auf eurem Kontinent feiern. Nur Mut!
Nicht so viel Mut hat es gebraucht, um den Blackrock-Manager Friedrich Merz nicht an die Spitze der CDU zu wählen. Das Ergebnis war für mich erstaunlich knapp, aber ich gebe es zu, ich hatte ja sowieso auf Jens Spahn gesetzt, denn dass die CDU wieder ein sogenannt konservativeres Profil braucht, auch im Interesse des großen Koalitionspartners SPD, das leuchtet mir ein. Wie gesagt: Meine Prognose geht fürs erste nicht in die Realisierungsphase, die CDU-Politik bleibt auch offiziell sozialdemokratisch, nicht nur in der Praxis. Umso dringender ist die Arbeit an einem politischen Programm, das auf die Zeit nach 2030 abzielt und das kein nationales, sondern ein, sagen wir mal: europäisches ist, mit Querschlüssen selbstverständlich zu anderen entwickelten Regionen wie China und Japan. Und immer wieder: Es kann nicht um Armutsbekämpfung gehen – die ist selbstverständlich, darüber braucht man sich nicht zu unterhalten. Was wollen wir? Ausreichend Knete für alle, funktionierende Infrastrukturen, eine schlanke Verwaltung, einen besseren Bildungsstand als im Moment sowie die Möglichkeit, sinnvolle oder kreativ sinnlose Tätigkeiten auszuüben. Dazu die Einsicht in die Mechanismen, welche das alles finanzieren, sowie gewisse Hebel, diese Mechanismen zu verändern, wenn möglich im Rahmen demokratischer Entscheidungsprozesse, immer unter der Voraussetzung, dass hinter diesen Entscheiden auch die tatsächlich entscheidungskompetenten demokratischen Subjekte stehen, also Menschen, welche eine volle Einsicht in die Verhältnisse haben. Der moderne Prometheus, kurz gesagt.
Dabei fällt mir auf, dass uns ein entscheidendes Stück fehlt, nämlich eben das Verständnis von und der Zugriff auf die internationale Wertschöpfung. Abgesehen von jeglicher ökonomischer Theorie kann man hier mit einer Arbeitshypothese arbeiten, die da lautet: Auch wenn es nicht den Anschein macht, so stecken doch hinter jedem Wirtschafts- und Wertschöpfungsprozess die dazu gehörigen Menschen. Wenn also die Menschen diese oder eine andere Form eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems wollen, dann haben sie durchaus die Kraft, ein solches auch einzurichten, ohne dass sie sich en gros und en détail um die Fürze der internationalen Agenturen, der Börsen in Frankfurt und in New York oder um was auch immer zu kümmern brauchen. Aber das ist eine gewagte Hypothese, vor allem stimmt sie zum Beispiel offensichtlich nicht für Länder, die sich im Krisenmodus befinden wie vor ein paar Jahren Griechenland. Da darf man schon noch ein wenig tiefer schürfen.
Wie ich es mir eigentlich nicht vorstelle, illustriert im Moment gerade der politische Prozess in Frankreich, wobei man sicher gut daran tut, die Gelbwesten-Bewegung nicht so zu überschätzen, wie dies zu Beginn ihres Auftretens der Fall war. Vierhunderttausend Gelbwesten machen noch keinen Umsturz aus, nicht mal in Frankreich; sie sind zunächst nur der Ausdruck eines recht massiven Unbehagens, das sich offenbar vor allem auf die Kaufkraft der unteren Schichten bezieht. Aber ein einfaches Unbehagen bringt noch keine politische Erleuchtung. Vom rechten Rand des ideologischen Spektrums ist eine solche ebensowenig zu erwarten, die projizieren einfach irgendeine Form der Vergangenheit auf die Zukunft, das ist sowieso Quatsch. Liefern müsste eigentlich die Linke, und der Skandal besteht effektiv darin, dass sie dies nun seit Jahrzehnten einfach nicht tut. Möglicherweise ist sie dazu auch gar nicht mehr in der Lage, weil ihr Programm so stark auf die Punkte ausgerichtet war, die nun in der sozialdemokratischen Praxis laufend abgehakt werden. Jetzt müssten neue Horizonte gemalt werden, Horizonte des digitalen Zusammenlebens oder was weiß denn ich.
Es gibt natürlich auch einen anderen Modus, die aktuellen Verwirrungen zu überleben, nämlich ein einfaches Genießen. Wenn man sich mal anschaut, wie sich die Menschen in England ganz langsam bewusst werden darüber, wie ihr ganzes Leben bei einem schulbuchmässig chaotischen Austritt aus der EU ins Wanken geraten würde, dann ist hier eine ordentliche Portion Unterhaltung garantiert, da brauche ich kein Netflix mehr. Wie bitte, die Aspirintabletten drohen auszugehen? Jedes Schräubchen an meinem privaten Bentley-Park muss in Zukunft separat verzollt werden? Englische Kühe liefern nicht genügend Milch für englische Babies, das wussten wir, aber dass der Import so schwierig wird, wenn wir unsere Handelspartner ohne Verträge in die Wüste schicken, das konnte doch keine Sau wissen! – Die Engländerinnen erleben im Moment stellvertretend für uns alle, welche Tiefe die internationale Verflechtung mittlerweile angenommen hat, gegen welche sie unter dem, antikontinental antikolonialen Titel gestimmt haben. Für eine unbeteiligte Betrachterin ein wunderbares Spektakel, in welchem nicht zuletzt die Konsequenzen sichtbar werden, die einträten, wenn sich die rechtsnationalen Wahnvorstellungen auch in Deutschland in eine politische Praxis umsetzen täten. Ein wirklicher Anarchist, also ein Gegner jeglicher Form von Struktur, erlebt im Moment sehr schöne Zeiten.
Im anderen und unvergleichlich größeren Nachbarland Kongo hat Joseph Kabila die Verfassung nicht neu geschrieben, obwohl sie ihm wie in Burundi die Kandidatur für eine dritte Amtszeit verbietet. Kabila ließ nach Ablauf des zweiten Mandats im Jahr 2016 einfach keine Neuwahlen mehr ausschreiben. Nun soll es am 23. Dezember 2018 doch so weit sein, also mit zwei Jahren Verspätung; aber ob es tatsächlich so weit kommt, wollen wir dann noch sehen, Weihnachtsüberraschungen sind in diesem allerkatholischsten Lande nicht auszuschließen. Immerhin spricht Kabila von einer Rückkehr bei den Wahlen 2023, also könnte es ihm durchaus Ernst sein mit den Wahlen in diesem Jahr, welche in diesem Fall ein Interregnum einleiten täten, ähnlich wie in der Sowjetunion, äh, pardong, in Russland mit dem Duo Medwedew und Putin. Kabilas Kandidat heißt Emanuel Ramazani Shadari, der aber gegenwärtig in den Umfragen hinter seinen sieben Konkurrenten zurückliegt. Gegen ihn hat die Europäische Union Sanktionen verhängt wegen Menschenrechtsverletzungen, aber im Kongo werde ja nicht der Präsident Europas, sondern des Kongos gewählt, meinte Herr Kabila zu diesem Thema.
Eines steht aber auf jeden Fall fest: In Afrika ist Stabilität manchmal mehr wert als eine formvollendete demokratische Verfassung. Insofern wollen wir aus Albert Einsteins Relativitätstheorie und Albert Schweitzers humanitärem Engagement folgende Weisheit herausziehen: – Oh, pardong, es fällt mir gerade nichts Kluges ein. Jedenfalls ist der Kongo eines der reichsten Länder, was die Rohstoffe angeht, und eines der ärmsten, was die Bevölkerung angeht, und wiederum eines der reicheren, was den Staatschef angeht; der Spiegel schätzte Kabila vor zwei Jahren auf über 100 Millionen Dollar, aber in Tat und Wahrheit kann man mit dem Zehnfachen rechnen, denn der Präsident greift jeweils seinen Teil ab von den Verträgen, die er mit den internationalen Rohstoffkonzernen abschließt, zum Beispiel mit der Glencore mit Sitz im schweizerischen Kanton Zug. Übrigens hat die demokratische Republik Kongo ungefähr gleich viele Einwohnerinnen wie Deutschland, bei einer sechs Mal so großen Fläche. Und von einer inneren Ordnung kann selbstverständlich nicht die Rede sein.
Übrigens habe ich kürzlich etwas gelesen vom Unmut zahlreicher Bewohnerinnen Sambias über die Chinesen, welche in diesem Land arbeiten, investieren, Eisenbahnen und Fabriken bauen. Ich verstehe diesen Unmut zu gewissen Teilen, aber die einzige Möglichkeit, daran etwas zu ändern, wäre halt schon die, dass die Afrikanerinnen, hier also die Sambierinnen, den ganzen Karsumpel mit den Verkehrswegen und den Produktionsstätten selber aufbauen täten. Und von so etwas ist mir bisher zwischen Tunesien und Südafrika noch nichts zu Ohren gekommen. Stattdessen erklingt das Lamento über die Dominanz der ehemaligen Kolonialherren aus Europa ungefähr so, als wäre es die Nationalhymne von ganz Schwarzafrika. Ich dagegen sage: Nur Mut! Es wird gar nicht mehr so lange dauern, und ihr habt tatsächlich eure eigenen Kapitalisten hervorgebracht, welche euch zeigen, wie der Mensch den Menschen so richtig nach Strich und Faden ausbeutet, also nicht als Sklaven hält, sondern ganz normal nach den Gesetzmäßigkeiten der Marktwirtschaft. Und dann könnt ihr euch dann auf eure nationalen Klassenkämpfe einlassen und am Schluss die Herrschaft der Sozialdemokratie auch auf eurem Kontinent feiern. Nur Mut!
Nicht so viel Mut hat es gebraucht, um den Blackrock-Manager Friedrich Merz nicht an die Spitze der CDU zu wählen. Das Ergebnis war für mich erstaunlich knapp, aber ich gebe es zu, ich hatte ja sowieso auf Jens Spahn gesetzt, denn dass die CDU wieder ein sogenannt konservativeres Profil braucht, auch im Interesse des großen Koalitionspartners SPD, das leuchtet mir ein. Wie gesagt: Meine Prognose geht fürs erste nicht in die Realisierungsphase, die CDU-Politik bleibt auch offiziell sozialdemokratisch, nicht nur in der Praxis. Umso dringender ist die Arbeit an einem politischen Programm, das auf die Zeit nach 2030 abzielt und das kein nationales, sondern ein, sagen wir mal: europäisches ist, mit Querschlüssen selbstverständlich zu anderen entwickelten Regionen wie China und Japan. Und immer wieder: Es kann nicht um Armutsbekämpfung gehen – die ist selbstverständlich, darüber braucht man sich nicht zu unterhalten. Was wollen wir? Ausreichend Knete für alle, funktionierende Infrastrukturen, eine schlanke Verwaltung, einen besseren Bildungsstand als im Moment sowie die Möglichkeit, sinnvolle oder kreativ sinnlose Tätigkeiten auszuüben. Dazu die Einsicht in die Mechanismen, welche das alles finanzieren, sowie gewisse Hebel, diese Mechanismen zu verändern, wenn möglich im Rahmen demokratischer Entscheidungsprozesse, immer unter der Voraussetzung, dass hinter diesen Entscheiden auch die tatsächlich entscheidungskompetenten demokratischen Subjekte stehen, also Menschen, welche eine volle Einsicht in die Verhältnisse haben. Der moderne Prometheus, kurz gesagt.
Dabei fällt mir auf, dass uns ein entscheidendes Stück fehlt, nämlich eben das Verständnis von und der Zugriff auf die internationale Wertschöpfung. Abgesehen von jeglicher ökonomischer Theorie kann man hier mit einer Arbeitshypothese arbeiten, die da lautet: Auch wenn es nicht den Anschein macht, so stecken doch hinter jedem Wirtschafts- und Wertschöpfungsprozess die dazu gehörigen Menschen. Wenn also die Menschen diese oder eine andere Form eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems wollen, dann haben sie durchaus die Kraft, ein solches auch einzurichten, ohne dass sie sich en gros und en détail um die Fürze der internationalen Agenturen, der Börsen in Frankfurt und in New York oder um was auch immer zu kümmern brauchen. Aber das ist eine gewagte Hypothese, vor allem stimmt sie zum Beispiel offensichtlich nicht für Länder, die sich im Krisenmodus befinden wie vor ein paar Jahren Griechenland. Da darf man schon noch ein wenig tiefer schürfen.
Wie ich es mir eigentlich nicht vorstelle, illustriert im Moment gerade der politische Prozess in Frankreich, wobei man sicher gut daran tut, die Gelbwesten-Bewegung nicht so zu überschätzen, wie dies zu Beginn ihres Auftretens der Fall war. Vierhunderttausend Gelbwesten machen noch keinen Umsturz aus, nicht mal in Frankreich; sie sind zunächst nur der Ausdruck eines recht massiven Unbehagens, das sich offenbar vor allem auf die Kaufkraft der unteren Schichten bezieht. Aber ein einfaches Unbehagen bringt noch keine politische Erleuchtung. Vom rechten Rand des ideologischen Spektrums ist eine solche ebensowenig zu erwarten, die projizieren einfach irgendeine Form der Vergangenheit auf die Zukunft, das ist sowieso Quatsch. Liefern müsste eigentlich die Linke, und der Skandal besteht effektiv darin, dass sie dies nun seit Jahrzehnten einfach nicht tut. Möglicherweise ist sie dazu auch gar nicht mehr in der Lage, weil ihr Programm so stark auf die Punkte ausgerichtet war, die nun in der sozialdemokratischen Praxis laufend abgehakt werden. Jetzt müssten neue Horizonte gemalt werden, Horizonte des digitalen Zusammenlebens oder was weiß denn ich.
Es gibt natürlich auch einen anderen Modus, die aktuellen Verwirrungen zu überleben, nämlich ein einfaches Genießen. Wenn man sich mal anschaut, wie sich die Menschen in England ganz langsam bewusst werden darüber, wie ihr ganzes Leben bei einem schulbuchmässig chaotischen Austritt aus der EU ins Wanken geraten würde, dann ist hier eine ordentliche Portion Unterhaltung garantiert, da brauche ich kein Netflix mehr. Wie bitte, die Aspirintabletten drohen auszugehen? Jedes Schräubchen an meinem privaten Bentley-Park muss in Zukunft separat verzollt werden? Englische Kühe liefern nicht genügend Milch für englische Babies, das wussten wir, aber dass der Import so schwierig wird, wenn wir unsere Handelspartner ohne Verträge in die Wüste schicken, das konnte doch keine Sau wissen! – Die Engländerinnen erleben im Moment stellvertretend für uns alle, welche Tiefe die internationale Verflechtung mittlerweile angenommen hat, gegen welche sie unter dem, antikontinental antikolonialen Titel gestimmt haben. Für eine unbeteiligte Betrachterin ein wunderbares Spektakel, in welchem nicht zuletzt die Konsequenzen sichtbar werden, die einträten, wenn sich die rechtsnationalen Wahnvorstellungen auch in Deutschland in eine politische Praxis umsetzen täten. Ein wirklicher Anarchist, also ein Gegner jeglicher Form von Struktur, erlebt im Moment sehr schöne Zeiten.