Als ob es nur um Merkel ginge

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In den Medien wird der Schlagabtausch in den Unionsparteien als Story um die Kanzlerin erzählt, deren Macht dem Ende entgegenzubröckeln scheint. Die politischen Inhalte, um die es geht oder nicht geht, kommen kaum vor. Stattdessen wird eine Art Drama aufgeführt, das - so ist es nun mal beim Theater - recht wenig mit Wirklichkeit zu tun hat. Ein Kommentar.
Audio
06:45 min, 6333 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 21.06.2018 / 13:45

Dateizugriffe: 72

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Morgenradio
Entstehung

AutorInnen: Jan Keetman
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 21.06.2018
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der Showdown zwischen Seehofer und Merkel hat natürlich auch etwas medial unterhaltendes. Das sei hier frei eingeräumt. Im Spiegel war bereits der schöne Vergleich mit dem Game of Thrones zu lesen. Ja wirklich sehr unterhaltsam. Außerdem ist Merkel schon etwas lange an der Macht und wenn sich ihre CDU nicht genügend hinter sie stellt, warum sollen es dann andere tun? Aber mal abgesehen davon, dass Merkel ausgerechnet ihre vorübergehend humane und mutige Flüchtlingspolitik von den CSU-Männern um die Ohren gehauen wird, lenkt diese Personalisierung wie so oft nur von den politischen Inhalten ab. Was wir hier sehen ist ein ungebremster Angriff auf die Reste an Humanität im Asylsystem, ausgeführt von einer wild gewordenen Regionalpartei vor der Kulisse einer in der Asylfrage hysterisch gemachten Öffentlichkeit.

Da ist der sogenannte „Bamf-Skandal“, ob es einen Bamf-Skandal gegeben hat und welcher Art ist höchst fraglich. Wer näheres wissen will, kann sich ja mal die entsprechende Analyse des NDR ansehen. Jedenfalls wird einseitig belastendes Material an die Öffentlichkeit durchgestoßen, während den Anwälten der Verteidigung die Akteneinsicht mit einer nichtssagenden Begründung verwehrt wird. Dazu findet eine Vorverurteilung in der Öffentlichkeit statt. Wenn es einen Skandal überhaupt gab, dann läge die politische Verantwortung übrigens bei einem CSU-Minister, was de Maizière nicht einmal bestreitet, aber niemand hören will.

Wie bei der Behauptung, die Aufnahme von zahlreichen Flüchtlingen 2015 sei ein Rechtsbruch gewesen, gelingt es Seehofer schon wieder mit dem Bamf-Skandal eine Behauptung in der öffentlichen Meinung als Tatsache zu etablieren ohne jemals den Beweis nachliefern zu müssen.

Gleichzeitig ist es gelungen, im öffentlichen Diskurs eine Antiflüchtlingshaltung zu etablieren, indem Kriminalfälle hochgespielt werden. Dabei sagt Seehofers Ministerium selbst, dass es keinen Anstieg der Kriminalität in Deutschland gibt. Natürlich gibt es unter den Flüchtlingen auch Täter, wobei eine Rolle spielt, dass in dieser Gruppe viele junge, frustrierte Männer ohne Kontrolle durch ihre Familien enthalten sind. Aber nicht nur Täter sondern auch Opfer gibt es genauso unter Flüchtlingen. Alle Bevölkerungsgruppen stellen Täter und Opfer. Wenn man wollte könnte man anhand einer Reihe besonders schwerer Fälle genauso eine Debatte über Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung führen. Behördenversagen ließe sich da auch thematisieren. Aber das verspricht keine politische Nahrung und also findet diese Debatte einfach nicht statt.

Es gibt nicht nur die Hetzer, es gibt auch diejenigen, die sich wegducken. Ja, der Kommentar kommt gerade auf die SPD zu sprechen. Mal abgesehen von Idealen wie Solidarität, für die die SPD ja auch stehen will, könnte sich das Wegducken der SPD auch als taktischer Fehler erweisen. Es führt dazu, dass die Partei politisch immer überflüssiger wird. Oder meinen die GenossInnen wirklich, dass die CSU erst Merkel abschießt, das Asylsystem ausweidet und wenn das alles erreicht ist, auf die SPD zukommt und sagt: Und jetzt reden wir wieder über Themen, über die ihr auch reden wollt?

Apropos Themen. Warum steht eigentlich diese hysterische Antiasyldebatte so im Mittelpunkt der Politik als ginge es da um Sein oder Nichtsein? Ein Nebeneffekt ist nämlich dass wirklich dringende Themen ganz außerhalb der Agenda bleiben. Nur mal so eine kleine Zusammenschau ohne Rücksicht auf politische Befindlichkeiten:

Da ist zunächst einmal die demographische Entwicklung. Es gibt bereits Bundesländer, in denen jährlich doppelt so viele Menschen in Rente gehen wie erstmals eine Arbeit aufnehmen. In den nächsten Jahren wird sich die Situation noch erheblich zuspitzen. Kräht in Berlin ein Hahn danach? Hat jemand in München einen Lösungsvorschlag, außer vielleicht noch ein paar Kreuze aufzuhängen?

Die bessere Integration von Millionen Menschen in Deutschland ist weiter eine Mega-Aufgabe, die sich nicht dadurch erledigt, dass man versucht, die Grenzen dicht zu machen. Das derzeitige politische Klima ist da auch nicht unbedingt hilfreich. Welche Partei kümmert sich drum?

Weltweit rollt eine neue Digitalisierungswelle an. Wie bereitet man sich hierzulande auf die technischen aber auch sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen vor? Ich würde mal sagen, zumindest was die Politik betrifft gar nicht.

Da gibt es dann noch diese Umweltprobleme die mal in sind mal out: Insektensterben, Dieselluft, Energiewende, Klimawandel, Plastikmeere. Alles schon mal gehört, aber gerade out.

Europapolitik wäre auch so eine dringende Baustelle. Der Zustand der EU ist ja auch wirklich nicht vollschön.

Da hätten wir dann noch diesen tweetenden US-Präsidenten, seine Handelskriege und generelle Unzuverlässigkeit. Sollte man da nicht ein bisschen nach politischen Ausweichstrategien suchen? Nur weil wir eine solche Situation in unseren Lebzeiten noch nicht erlebt haben und daher auch gerade keine unserer Standardantworten passt, heißt das noch lange nicht, dass da nicht irgendwo Handlungsbedarf besteht. Doch die Regierung treibt anderes um, bzw. sie wird mit anderem umgetrieben.

Dann gäbe es da noch weitere gesellschaftliche Themen, etwa die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen. Wäre vielleicht auch mal so ein Thema.

Und wie steht es mit der Gesundheitsversorgung aus? Ärztemangel, endlose Wartezeiten bei der Fachärztin, völlig überlastetes Klinikpersonal. Dazu eine alternde Bevölkerung, die künftig eher mehr als weniger Gesundheitsversorgung bräuchte. Wen kümmert's?

Das und sicher vieles wichtiges mehr geht einfach in dieser überdrehten, fremdenfeindlichen Asyldebatte unter. Gerade die Leute, die vorgeben uns in ihrem Sinne schützen zu wollen, verschweigen die wirklichen Probleme und wenn sie noch ganz an die Macht kommen, wird das nicht besser werden.

Ob sich Merkel als Kanzlerin halten kann, hat wirklich einige Bedeutung, aber im Grunde geht es nicht um ihre politische Zukunft, so wie es den „Merkel-muss-weg“-Schreiern nicht eigentlich um Merkel geht, sondern um die Macht im Lande für ihr politisches Milieu. Auch wenn uns Merkel nichts angeht, das geht uns etwas an.