"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Aktualitäten und anderes

ID 88086
 
AnhörenDownload
Im Jahr 1998 verkaufte der Erdölminister Dan Etete die Bohrrechte für ein gewaltiges Erdölfeld in Nigeria für zwei Millionen Dollar an die Firma Malabu Oil and Gas. Im Jahr 2011 erwarben Shell und die italienische Eni diese Rechte für 1.3 Milliarden Dollar.
Audio
10:33 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 20.03.2018 / 17:14

Dateizugriffe: 2478

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Religion, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 20.03.2018
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Bestechungsgelder in Höhe von mehreren hundert Millionen Dollar wurden daraus abgezweigt und flossen auf verschiedene Konten, unter anderem vermutlich von Goodluck Johnson, der vor zehn Jahren Präsident von Nigeria war. Die Sache wird im Moment in Mailand vor Gericht verhandelt. Shell behauptete zunächst, von nichts nichts zu wissen; jetzt gibt die Firma immerhin zu, von der Beteiligung von Dan Etete gewusst zu haben, und die Geschichte geht weiter, während ein paar Millionen Bestechungsgelder unterdessen gerichtlich eingefroren wurden.

So läuft das auf dieser Welt: Shell und Eni dürfen mit dieser Konzession Erdöl fördern im Wert von tausenden von Milliarden Dollars, derart groß ist das Feld. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Nigeria müssen sich mit den Umweltschäden begnügen. Klügere beziehungsweise weiter entwickelte Länder haben ihre Erdölvorkommen verstaatlicht, von Venezuela über Norwegen bis zum Iran und zu Saudiarabien; in Afrika kann man nach wie vor machen, was man will, und was die westlichen Firmen wollen, ist nicht ungewöhnlich respektive liegt in der Natur des Systems: Geld für die Führungsspitze, aber auch Geld für die Aktionäre, im Fall von Shell zum Beispiel für das niederländische Königshaus, aber sicher auch für zahlreiche Pensionskassen.

Ebenfalls in Mailand findet ein anderer Prozess statt gegen das Luxusgüterhaus Gucci, die zum französischen Kering-Konzern gehört, der ehemaligen Pinault-Gruppe. Gucci hat ihren Steuersitz im Schweizer Kanton Tessin, und eine Voraussetzung dafür ist es hier, im Gegensatz zu den richtig schönen Steuerparadiesen, dass das Management auch tatsächlich seine Aktivitäten vom Steuersitz aus erledigt. Die Mailänder Staatsanwaltschaft hat Gucci nun nachgewiesen, dass die Geschäfte effektiv von Mailand aus geführt werden, weshalb das Unternehmen wegen Steuerbetrugs angeklagt wird.

Im Tessin sind zahlreiche italienische Firmen beheimatet; zum Teil haben sie dort sogar eigene Logistikzentren eingerichtet, womit die Geschäftstätigkeit tatsächlich auf Schweizer Boden stattfindet, aber im Prinzip geht es immer nur darum, dem italienischen Staat Steuern zu entziehen. Die Modebranche zählt zu den bevorzugten Nutznießern dieses Steuerstandortes. Gleichzeitig hat sich in diesem Kanton Tessin in den letzten dreißig Jahren die fremdenfeindliche Lega dei Ticinesi derart breit gemacht, dass sie unterdessen die stärkste Partei ist und mit Slogans wie «Prima i nostri», also «Die Einheimischen zuerst» Stimmung macht gegen die Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus der Lombardei, welche im Tessin wegen des starken Frankens viel besser verdienen als in Italien, auch wenn sie deutlich tiefere Löhne verlangen als die Tessinerinnen und Tessiner. Der Kommunikationsstil der Lega dei Ticinesi ist vergleichbar jenem der Allianz für Deutschland. Ihr Gründer, der unterdessen gestorbene Giuliano Bignasca, war nicht nur ein primitiver Polterer der AfD-Klasse, sondern auch Bordellbetreiber und, wenn nicht bekennender, so doch bekannter Kokain-Schnupfer. Wir haben im Tessin auf jeden Fall ein Paradebeispiel für politische Realitäten: Die Bevölkerung folgt den fremdenfeindlichen Idioten mit ihren Primaten-Slogans und wählt sie in die Regierung, welche dann Finanzpolitik macht mit dem Steuerbeschiss am Nachbarland.

Kollege Erdogan dagegen macht mit seinem Nachbarland keine Finanzpolitik. Jetzt hat er nach der Eroberung von Afrin die Freie Syrische Armee zur Statthalterin der Südzone erkoren. Die FSA gilt schon seit längerem nur noch als Markenzeichen, unter welchem sich bewegen kann, wer das gerade möchte. Diese Fraktion hier übernimmt die Macht von den Kurden, während eine andere Fraktion bei der Schlacht um Kobane noch mit ihnen zusammen gekämpft hatte. Erdogan benutzt den Namen einfach, um seinen eigenen Zugriff notdürftig zu kaschieren.

Allerdings bräuchte er ihn gar nicht zu kaschieren, meiner Meinung nach. Wenn wir diesem Möchtegern Pascha alle Vorwürfe anhängen, die uns gerade durch den Kopf rauschen, von der Unterdrückung der Pressefreiheit über Korruption bis hin zu psychiatrischen Diagnosen, und auch wenn diese Vorwürfe alle in der Substanz sogar richtig sind, so sollte man nie außer Acht lassen, dass die Türkei seit sieben Jahren eine Grenze hat mit einem verheerenden Krieg. Dass der Erdogan selber einen Beitrag zu diesem Krieg geleistet hat, versteht sich von selber, aber das hat er sich wohl anders vorgestellt, seine Interpretation des Arabischen Frühlings war wohl die gleiche wie jene der Central Intelligence Agency und zum Teilen auch von mir, mindestens solange ich davon ausging, dass die Bevölkerung in diesen Ländern einen Schritt in Richtung Moderne einfordern würde. Da habe ich mich gewaltig getäuscht. Und man geht sicher nicht fehl, wenn man die Radikalisierung von Erdogan parallel setzt zur Entwicklung in Syrien und zum Teil auch im Irak. Die türkische Regierung hat mit einer solchen Nachbarschaft tatsächlich andere Sorten von Pro­ble­men zu lösen als gerade die Pressefreiheit. Ich will mit diesem Hinweis nichts entschuldigen, und schon gar nicht den Putsch vor zwei Jahren, welcher dem Erdogan-Pascha sämtliche Vollmachten in die Hände spielte, welche dieser auch in psychotischer Art und Weise ausnutzte; aber objektiv gesehen ist für Ankara der Krieg in Syrien längst nicht mehr das freudige Ereignis, das man sich zu Beginn erträumt hatte.

Die Wiederbelebung des Kalten Krieges wurde am Wochenende auch anlässlich der Wahlen in Russland ausgiebig betrieben. Seit meinem letzten Kopfschütteln über die antirussischen Aus­fälle, welche nicht zuletzt geprägt sind vom radikalen Unwillen, irgendwelches Verständnis für politische und historische Prozesse aufzubringen, hat sich zwar nichts verändert, aber das ist ja auch nicht erfreulich. Immerhin hat wenigstens der Sportredakteur und Wochen-Satiriker des ZDF, Oliver Welke, gemerkt, dass die Politik Russlands vielleicht einen gewissen Zusammenhang haben könnte mit der Osterweiterung der Nato. Zum Beispiel. Nicht angeführt hat er die Annexion der Krim, zu welcher man immer wieder anmerken muss, dass bei der Westintegration der Ukraine analog zu den anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks nach der EU dann wohl auch die Nato gekommen wäre, was bedeutet hätte, dass Russlands Zugang zum Schwarzen Meer und zu seinen Flottenstützpunkten mehr oder weniger direkt im Zugriffsbereich des US-amerikanischen Oberkommandos gelegen wären. Dies nach dem Versuch der US-Amerikaner, den Russen ihren letzten Flottenstützpunkt im Mittelmeer abzunehmen. Wie gesagt: Ich wundere mich schon, dass nicht wenigstens ein Hauch von Verständnis für solche Prozesse durch die Chefredaktionen weht.

Naja, Wladimir Putin ist auf dieses Verständnis natürlich nicht angewiesen. Unsereins interessiert sich bei Russland eigentlich nur für einen Aspekt: Zielt die Politik nicht endlich mal darauf ab, mit der Zeit bei der Bevölkerung Kaufkraft zu schaffen, anstatt das ganze Kapital der kleptokratischen Elite in den Arsch zu schieben, welche sich dann erst noch mit ebendiesem Kapital nach London absetzt? Dies ist der echte Systemwechsel, der sich in Russland irgendwann mal vollziehen sollte, und davon hat man weder bei Putin noch bei Medwedew bisher so richtig toll etwas vernommen. Was nicht unbedingt heißen muss, dass es nicht trotzdem eine Entwicklung in diese Richtung gibt, bloß sehen tut man im Moment nichts davon. Was allerdings auch mit der De-facto-Nachrichten­sperre zu Russland von unseren Haus- und Leibmedien zusammenhängen kann. Wirklich, eine derart jämmerliche Informationslage zu einer so großen Weltregion findet sich sonst nirgends.

Die Russen bedienen uns dafür mit sonderbaren Geschichten wie jüngst diesem Einsatz von Nervengift beim ehemaligen Spion Skripal. Waren das wirklich die Russen, und wenn ja, weshalb? Mich dürstet in dieser Angelegenheit nach einem Motiv. Der Typ war doch schon längst enttarnt als Doppelagent und saß in Russland hinter Gittern, bis er ausgetauscht wurde gegen ein paar Agenten von der Gegenseite, was für mich tönt wie normales Spionagebusiness. Was sollte dementsprechend so ein Nervengasanschlag bezwecken? Weshalb dem Töchterchen ein mit Gift verseuchtes Kleidungsstück ins Gepäck mischeln, und zwar erst noch so, dass es sonst niemand bemerkt und dass das Gift zwar einen Polizisten k.o. schlägt, der die Wohnung durchsucht, ansonsten aber grad mal in der Pizzeria nachzuweisen ist, wo Vater und Tochter gespiesen haben? Ich sehe da nichts. Anderseits sehe ich auch keinen Zweck für die andere Variante, dass nämlich das Nervengift aus der 20 Kilometer entfernten Giftgas-Produktionsstätte der Engländer stamme. Wenn das Ganze eine Botschaft war, dann von wem für wen? Bloß einen Vorwand, damit der blondgelockte Boris Johnson seinem Antikommunismus Auslauf gewähren kann, brauchte es nicht, das tut der auch ohne Vorwand. Lassen wir diese Fragen mal offen. Grundsätzlich zutrauen tut man das dem russischen Geheimdienst natürlich auf jeden Fall – und dem US-amerikanischen und dem britischen und dem französischen ebenso, bloß dem deutschen Geheimdienst würde so etwas nie einfallen.

Die Leute vom deutschen Geheimdienst haben ja genug zu tun mit den Antifaschisten in Thüringen, welche nicht nur Sprengstoff herstellen, sondern sich dabei auch erwischen lassen. Ich muss zugeben, dass mich diese Nachricht erstaunt hat. Bisher waren die sogenannten Linksextremen nicht besonders bekannt für die Vorbereitung und Durchführung von Anschlägen, zum Beispiel auf Asylbewerberheime. Die Meldung hier erfüllt auf jeden Fall einen feuchten Traum der Rechts­nationalisten, denen es jetzt mindestens einen Moment lang erlaubt ist, die bekannte Gleichstellung von linkem und rechtem Extremismus zu zelebrieren. Im neutralen Ausland fragt man sich, ob die KollegInnen vielleicht die letzten Container der Wismut-Mine in Gera in die Luft sprengen wollten. Einen Angriff auf die Polizei oder auf die Regierung schließen wir als unwahrscheinlich aus. Das passt unter den aktuellen Umständen nicht zum Beute- und Handlungsschema von Antifaschisten. Allenfalls denkbar ist die Eskalation der Auseinandersetzung zwischen Neonazis und Linken, aber davon habe ich noch nichts gehört. Wir werden ja sehen.