"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Moderner Mensch

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Die zwei Grundfragen der Politik lauten: Wie organisiert sich die moderne Gesellschaft, und wie konstituiert sich das moderne Individuum?
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09:55 min, 23 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 18.07.2017 / 10:04

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Jugend, Kultur, Politik/Info, Arbeitswelt, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 18.07.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Ich beginne mit dem Individuum. Der moderne Mensch ist in zentralen Bereichen frei geworden, in erster Linie frei von materieller Not. Als ob ihm dies Angst einflößte, hat er die alten Einschränkungen umgeformt in neue, anhand derer er ein scheinbar urtümliches Verhalten replizieren kann: Wenn er früher überhaupt keine Schuhe hatte, so war dies noch fast angenehmer, als wenn er heute keine Nike-Schuhe besitzt; früher war ein Fahrrad unerschwinglich, aber dass sich das Individuum heute mit einem Kia-Sports-Utility-Verhicle mit nur zweihundertfuffzich Pferdestärken abfinden muss, ist im Vergleich dazu gleichzusetzen mit Folter und anderen Menschenrechtsverstößen. Nun sind solche Wahrnehmungen, die ich hier selbst­verständlich verzerrt wiedergebe, sowieso übertrieben, aber in ihrer einfachen Erscheinung weit verbreitet und bilden einen wesentlichen Bestandteil des Selbstverständnisses des modernen Men­schen. Und das Selbstverständnis sollte man auf keinen Fall unterschätzen; wenn die Belange der materiellen Existenz einmal geklärt sind – wie dies heute der Fall ist, wie gesagt –, dann wird das Selbstverständnis geradewegs zur zentralen Substanz des Individuums. Das Selbstverständnis begründet per Saldo sogar die Ära des Politischen. Ein Mensch ohne Selbstverständnis ist kein politisches Wesen, und wer in der Politik keine Repräsentanz von Selbstverständnis anzubieten hat, der kann sich seine Ambitionen an den Hut stecken. Selbstverständnis kann dabei die erwähnte Verkrümmung des Automobilismus ebenso betreffen wie den verkrümmten Begriff des Steuerzahlers oder, historisch betrachtet, die Proletarierinnen, die heute moderner als Lohn­ab­hän­gige daher kommen; es gibt durchaus verschiedene und zum Teil sogar gegensätzliche Formen der Bündelung von Selbstverständnis, von denen mir seit je und erneut auch aus historischen Gründen jene des Nationalismus die ekelhafteste erscheint.

Aber zurück. Ist die materielle Existenz gesichert? In der modernen Gesellschaft ja, jawoll, un­be­dingt und in jedem Fall, und die Folgeaussagen, die sich einem hier geradezu aufdrängen, nämlich zu den entwürdigenden Prozeduren und Lebensbedingungen, die nach wie vor existieren und ver­bunden sind mit niedrigen Einkommen oder Sozialhilfe, die muss man sich hier zunächst mal ver­klemmen und es noch einmal laut und deutlich sagen: Die materielle Existenz ist gesichert. Wenn man auf dieser Grundlage dann weiter geht und sagt, dass das Leben nicht allein aus der materiellen Existenz besteht, dann hat man absolut recht, und da setzen dann die wirklich inter­essanten Fragen ein: Was hat es auf sich mit den bekannten Formulierungen vom guten Leben und von der Men­schen­würde, welche ungefähr den über die materielle Existenz hinaus gehenden Bedürfnisse abdecken? – Wir, die wir mit diesen Begriffen operieren, können uns in der Regel etwas darunter vorstellen, zum Beispiel öffentliche Bibliotheken; ob dies auch für die direkt Betroffenen gilt, kann hier offen bleiben. Wichtig und richtig ist, dass der moderne Mensch ganz offensichtlich Eigen­schaf­ten und Bedürfnisse hat, die über die materielle Existenz hinaus reichen, und zwar weit.

In diesem Punkt unterscheidet er sich übrigens nicht besonders stark vom vormodernen Menschen.

Trotzdem: Überreste von Existenzangst bleiben eine gesellschaftliche Realität und manifestieren sich in eigenartigen Formen, zum Beispiel im Waren-Uni­ver­sum, noch viel stärker aber rund um den Erwerb von Geld, der in der Regel unter den Bedingungen einer bezahlten Anstellung erfolgt. Hier werden fast alle Rituale weiter und gleichzeitig zelebriert, die sich im Lauf der Zeit bei der Entstehung der kapitalistischen Lohnarbeit entwickelt haben, und hier befinden sich auch Kern­berei­che des Selbstverständnisses, hier wird soziale Stellung in zahlreichen Beziehungen koloriert.

Gleichzeitig mit solchen Relikten der Unfreiheit bestimmen neuere Formen eines Bewusstseins von Freiheit das Individuum. Bereits zur Selbstverständlichkeit geworden ist das Selbstverständnis als Konsumentin oder Konsument, und zwar gleichzeitig mit den erwähnten Ressentiments. Noch ein magerer Geldbeutel tritt im Warenhaus einem Angebot gegenüber, das ihm ganz oder teilweise unterlegen ist, sie oder er kann fast alles kaufen, wenn auch nicht alles auf einmal, was aber sowieso Nonsense wäre, und hat als Ausdruck dieser Freiheit, welche nicht wenigen Menschen bereits als die gesamte Freiheit erscheint, sogar noch eine Auswahl an konkurrierenden Produkten im Regal, in gewissen Abteilungen oder ganzen Kaufhäusern sogar mehr als eine Auswahl, sondern ein kleines Universum an, zum Beispiel Nature-Joghurt. Aber auch in anderen Bereichen hat sich das Bewuss­t­sein der Freiheit entwickelt, welches der tatsächlichen Freiheit entspricht, zum Beispiel bei der Mobilität oder bei der Wahl des Wohnsitzes oder des Urlaubsziels, insgesamt über weite Strecken bei der Gestaltung der Freizeit und sogar des Lebens.

Es gehört zum Spiel, dass sich das moderne Individuum bei der Ausbildung des eigenen Bewusstseins von den neuen Freiheiten bestimmter Muster bedient. Sie entstammen zum Teil aus der Pro­duktion der Angebote beziehungsweise der Einrichtung dieser Freiheit, vor ein paar Jahrzehnten zum Beispiel der Erwerb einer Waschmaschine oder eines Farbfernsehgerätes, aber moderne Schab­lonen wirken eher auf die Produktion zurück, als dass sie daraus entstehen, denn die Produktions­mit­tel erlauben mittlerweile praktisch alles – davon aber ein andermal wieder mehr. Jedenfalls rich­ten die Individuen in der Regel ihr eigenes Leben nicht ein anhand eines korrekten Freiheits­begrif­fes ein, obwohl die meisten ihre Freiheit das höchste Gut nennen würden, über welches sie ver­fü­gen, sondern gemäss einer Vorstellung, die übertrieben wäre, sie als ihre eigene zu bezeichnen; allzu viele andere Individuen verfügen über die gleichen Vor­stel­lun­gen, und hier geht es gleich weiter: Nicht nur die Vorstellungen, sondern auch die Informationen in den Köpfen der Menschen und ebenso ihre Anordnung und Gewichtung sind weitgehend identisch.

Identisch womit? Mit der Masse? Der moderne Mensch, das moderne Individuum sträubt sich mit Händen und Füßen dagegen, ein Massenmensch zu sein, und dafür soll man sie loben. Und tat­säch­lich: Wenn auch unglaubliche Mengen des Inhalts eines durchschnittlichen Kopfes identisch ist mit den Inhalten anderer Menschen, so bleiben doch immer noch unendlich viele Eigenheiten übrig, welche sie unterscheidbar machen und ihre Individualität prägen. Manchmal muss man schon sehr genau hinkucken, um diese Eigenarten zu entdecken, aber in der Regel manifestieren sie sich sehr schnell. In Bezug auf die Gesellschaft dagegen, also im politischen Bereich sind die Gemein­sam­keiten wichtiger, also die Bedürfnisse, Ziele und Vorstellungen, welche das moderne Individuum hat bezüglich der Welt, in der es lebt und die es gestalten möchte.

Da ich hier nicht einfach ein paar elementare Wünsche auflisten möchte, was ich für ebenso doof wie bedeutungslos halte, kann und muss ich dem Individuum seine Wünsche quasi andichten. Dies ist natürlich ein Akt vollständiger Freiheit, sprich Willkür von meiner Seite, aber schaun wir mal. Ich würde also in den Vordergrund stellen den Wissens- und Tatendrang, den ich ausnahmslos allen Individuen kreditiere – Nebenbemerkung: ohne diese Voraussetzung könnte ich mich auch nicht für ein bedingungsloses Grundeinkommen stark machen, versteht sich –, ein Wissens- und Tatendrang, welcher grundsätzlich alle Bereiche des Lebens – beschlagen müsste. Das setzt in erster Linie eines voraus: Bildung, Ausbildung, Fortbildung an breitester Front, mit all den Ingre­dien­zien, die dazu notwendig sind, in erster Linie die Vermittlung der Lust an den entsprechenden Inhalten, die Neugierde und eine grundsätzlich offene Haltung. So ein modernes Individuum muss eine Eier legende Wollmilchsau sein, auf den Menschen umgelegt ein mehrsprachiges Pro­gram­mie­rer­genie, das beim Ingenieursstudium noch ein Konzertdiplom in Violincello erworben hat und vielleicht am Abend als Nebenverdienst in einem Nackttanzschuppen arbeitet.

Selbstverständlich übertreibe ich hier und lasse es den Individuen völlig offen, sich auch auf ihre Vorlieben zu konzentrieren und sich zu spezialisieren – aber eben, neben oder auf der Grundlage einer sehr breiten Allgemeinbildung. Tatsächlich ist die breite Bildungsgrundlage die echte Vor­aussetzung dafür, sämtlicher Genüsse, welche die Zivilisation anbietet, auch tatsächlich habhaft zu werden; sie ist mehr oder weniger das Synonym für all das, was über die materielle Existenz­si­che­rung hinaus geht. Und damit wäre in der Politik bereits ein erstes, wo nicht das wichtigste Ziel formuliert: Alles, was zufällig oder strukturell der massenhaften Grund-, Aus- und Weiterbildung der Menschen im Wege steht, ist zu beseitigen.
Das scheint mir schon ein Fundament für ein recht breites politisches Programm zu sein, denn man muss hier nicht zuletzt in den Affekthaushalt der Menschen eingreifen, welche sich unter ver­schie­denen Titeln gegen so etwas sperren. Manchmal sind es zum Beispiel Menschen, die einfach nicht begreifen wollen, dass sich Alkohol und Bildung ganz ausgezeichnet vertragen können. Andere verdichten die tatsächliche schlechte Erfahrung früherer Generationen mit den Bildungsinstituten, welche auch heute noch zum Teil eher moderne Disziplinierungs- und Konditionierungs­kasernen sind, zu einer Ablehnung von Bildung insgesamt. Schließlich fühlen sie sich sowieso von den gebildeten Eliten unterdrückt und hinters Licht geführt, was dann am Rand auch zu Schlagworten wie der Lügenpresse führt, in welchem die unstrukturierte Erfahrung komprimiert ist, systematisch angelogen zu werden. Da haben diese Leute nicht mal so unrecht, aber unrecht haben sie da, wo sie sich dagegen sträuben, selber mal nach Informationen zu suchen, sich um Einsichten zu bemühen, kurz, sich selber zu bilden.

Abgesehen von allem anderen reicht das herkömmliche Schulprogramm sowieso nicht aus, weder in der Qualität noch in der Breite noch insgesamt in der Struktur. Bildung muss im Leben zum wiederkehrenden Element werden, egal, ob an einem Tag pro Woche oder an einem Monat pro Jahr oder während einem Jahr von fünfen, und auch neue Formen sind zu entwerfen. Sie dienen dazu, den modernen Menschen fit zu machen für die Modernität.