"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Der ewige soziale Winter

ID 82572
 
AnhörenDownload
Ken Loach greift in seinen Filmen immer wieder die Missstände im britischen Sozialstaat bezie­hungsweise das Elend der arbeitslosen Klassen in England auf und manchmal auch in Schottland und Irland, ähnlich wie andere Regisseure, zum Beispiel Danny Boyle oder Peter Cattaneo oder auch Stephen Frears.
Audio
12:13 min, 28 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 19.04.2017 / 14:35

Dateizugriffe: 2353

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 19.04.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die Wurzel der gesamten Problempackung liegt im Untergang der Metall- und Stahlindustrie und des Bergbaus; die jungen und manchmal auch alten Männer plagen sich durch die Tage mit endlosen Versuchen, Arbeit oder Geld oder immerhin einen Scheck vom Sozialamt zu kriegen und dabei einigermaßen anständig zu bleiben. Im ewigen Winter der strukturellen Arbeits­losigkeit liegt zweifellos ein dauerhaft sprudelnder Quell des kritisch-anklagenden Film­schaf­fens, im Fall von Ken Loach zuletzt mit «Ich, Daniel Blake», und spätestens seit der Wahl von Jeremy Corbyn zum Chef der Labour-Partei haben wir auch bei den Sozialdemokraten wieder einen klas­si­schen Winter-Politiker an der Spitze. Die Parallelen zu Martin Schulz in Deutschland sind zwar auffällig, werden aber durch die Strukturdaten nicht bestätigt. In Deutschland waren die Arbeits­kosten im Jahr 2016 laut der OECD zu Kaufkraftparität die dritthöchsten weltweit, nämlich 73 683 US-Dollars für einen ledigen Arbeitnehmer, und das heißt nichts anderes, als dass der deutschen Wirtschaft der Ausstieg aus Bergbau und Eisen gelungen ist, sie ist auf den Weltmärkten so stark nachgefragt, dass sie sich solche Kosten leisten kann, im Gegensatz zu England, wo in erster Linie der Londoner Finanzsektor für das Bruttoinlandprodukt zuständig ist, während der Rest des Landes den Strukturwandel nach wie vor nicht abgeschlossen hat.

Der ewige britische soziale Winter wird aber noch durch andere Phänomene geprägt. Eines davon ist die Zuwanderung, welche vermutlich den Ausschlag gegeben hat beim Entscheid, aus der Euro­päischen Union auszutreten. Und zwar geht es um die Zuwanderung aus den Ländern ebendieser Euro­päischen Union. Von der Zuwanderung aus den Ländern des Commonwealth, also des ehe­ma­ligen britischen Empires war gar nie so richtig die Rede; diese Sorte von Immigration haben das Land und die Bevölkerung von Anfang an mehr oder weniger als Sachzwang und als logische Folge aus dem ehemaligen Kolonialverhältnis angesehen und akzeptiert. Aber die Polinnen und Polen? So ein durchschnittlicher Engländer oder eine durchschnittliche Engländerin sagen sich: Die Polen, die hatten wir doch gar nie so richtig erobert? Also haben die auch kein Recht, bei uns in den Pflege­heimen die Kloschüsseln zu putzen und den englischen Seniorinnen und Senioren den Arsch ab­zu­wischen. Raus mit ihnen und raus mit uns aus einem Europa, das einfach die Grenzen abschafft! Was wäre schließlich der Mensch insgesamt und somit auch der Engländer ohne Unterschied zwischen innen und außen!

Es liegt hier ein ähnliches Dilemma vor, wie es sich rund um die Automobilarbeiter in den Ver­ei­nig­ten Staaten ausgebildet hat: Hunderttausende von qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeit­nehmern haben aufgrund der technologischen Entwicklung, mag sein auch aufgrund von Fehlern in der Industrie-, Unternehmens- oder Gewerkschaftspolitik ihre Stelle verloren. Zunächst springen noch die Sozialversicherungen ein, namentlich die Arbeitslosenversicherung, aber mit der Zeit zieht eben auch hier der soziale Winter ein. Gleichzeitig strömen im Süden Millionen von Arbeitskräften ins Land, um schlecht bezahlte Arbeiten in der Gastronomie oder im privaten Pflegebereich aus­zu­führen. Wenn es sich um Illegale handelt, ist die Entlohnung vollends unter aller Sau. Und trotzdem schaffen es noch die Illegalen, ihre Familien im Ursprungsland mit ihren Remissen über Wasser zu halten. In Großbritannien wiederum stehen die Chancen ziemlich schlecht, dass die seit drei Gene­ra­tionen im Winter der Arbeitslosigkeit fest steckenden Sozialhilfebezüger sich scharenweise in den Gesundheitsbereich verschieben werden, denn diese Tätigkeiten wären vermutlich unter dem, was die englischen Filmemacher in der ganzen Trostlosigkeit als letzte Instanz noch zelebrieren: unter ihrer Würde.

Mir kommt noch eine dritte Region in den Sinn, wo die Menschen angeblich seit Generationen von der Sozialhilfe oder von Strukturprogrammen leben, nämlich Wallonien, der französischsprachige Teil von Belgien, der schon früher unter die Räder der Deindustrialisierung beziehungsweise der Einstellung der Aktivitäten im Bergbau gekommen ist. Ich habe keine Zahlen präsent, aber die entsprechenden Hinweise sind mir von früher aus den Grundeinkommens-Diskussionen bekannt. Nämlich werden sie jeweils von den Grundeinkommens-Gegnern aufgeführt, welche in Wallonien den Beweis dafür sehen, dass die Menschen, welche ein garantiertes Grundeinkommen erhalten, sich in ihrer kleinen Welt wohnlich einrichten und alle innovativen Aktivitäten fahren lassen.

Ich kann und will das nicht bestätigen, aber eine Tendenz sehe ich klar: Der Winter der ewigen Arbeitslosigkeit oder der Strukturschwäche setzt voraus, dass er den Menschen als gottgegeben verkauft wird, beziehungsweise im Jargon des 20. Jahrhunderts: als systemgegeben. Der Kapita­lis­mus ist schuld mit seiner Profitgier, welche dazu führt, dass die unrentablen Minen geschlossen werden und die veralteten Fabriken geschlossen, die Massenproduktion in Billiglohnländer trans­fe­riert wird und überhaupt und insgesamt. Die Menschen selber tragen keine Schuld an ihrem Zu­stand, den Unglück zu nennen man zögert, weil die Einrichtung im eigenen Unglück immer eine seltsame Sache ist, auch wenn wir wissen, dass sich zahlreiche Ehepaare über Jahrzehnte in diesem Zustand über die Runden kämpfen. Auf jeden Fall steht diese Einstellung in enger Verwandtschaft zum bekannten dummen Spruch von Adorno, wonach es kein richtiges Leben im falschen gäbe. Dieser exkulpiert die Individuen tatsächlich von jeglicher eigenen Schuld und damit aber auch von jeder eigenen Initiative. So war das nicht gemeint mit dem eigenen Leben.

Eine weitere Komponente dieses Winters ist jene, dass man stillschweigend eine Sorte der Nie­der­las­sungsfreiheit als Unterform der Menschenrechte voraussetzt, welche das Recht zum Verbleib an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Umgebung, kurz: das Verharren im seit ewig be­kann­ten Umfeld unterstellt. Niederlassungsfreiheit heißt hier die Freiheit, sich nicht von der Stelle zu rühren, auch wenn es keine Erwerbsmöglichkeiten mehr gibt. Wer in seinen Gewohn­heiten stecken bleiben will wie der Gipfel auf dem Berg, ist mitten in seinem vollen Menschenrecht. Die Bewohnerinnen und Bewohner des ewigen sozialen Winters der Arbeitslosigkeit formieren sich so zu einer neuen Ethnie, sozusagen zu den Eskimos der Moderne.

Witzigerweise sind die Arbeitskosten in Belgien sogar noch höher als in Deutschland, Belgien liegt in dieser Beziehung geradezu an zweiter Stelle in der OECD, hinter der Schweiz natürlich. Offenbar gibt es Alternativen zu dieser Wallonien- oder England-Ge­schich­te, wie man es auch in Deutsch­land sieht. Auch bei euch sind zahlreiche Stellen im Ge­sund­heits­sektor mit ausländischen Fach­kräf­ten besetzt, während sich die ehemalige Fach­ar­bei­ter­schaft aus der Montanindustrie heute in an­deren industriellen und handwerklichen Bereichen tummelt und häufig die berufliche Qualifikation erhöht hat. Von der geografischen Mobilität könnt ihr im Osten Deutschlands sowieso ganze Kan­taten singen. Jedenfalls ist eine der einzigen Optionen, welche von allen Seiten anerkannt wird, die berufliche Aus- und Weiterbildung bezie­hungsweise eine ent­sprechende Verbesserung des Bil­dungs­standes bereits in der Volksschule. Tatsächlich leuchtet es ein, dass die Ausbildung Schritt halten muss mit dem ungeheuren Zuwachs an Erkenntnissen und Wissen in sämtlichen Bereichen. Übrigens kann die Aus- und Weiterbildung ja unterdessen auch zurückgreifen auf den ungeheuren Zuwachs an Instrumenten zur Vermittlung dieser Erkenntnisse und des Wissens; was allein auf YouTube für sämtliche Belange der menschlichen Existenz und Produktion zur Verfügung steht, sprengt alle bekannten Dimensionen.

So oder so muss heute schon ein Hilfsarbeiter praktisch mehr wissen als vor hundert Jahren noch ein Professor, ähnlich wie heute ein Hilfsarbeiter mehr und bessere Waren zu seiner Verfügung hat als derselbe Professor vor hundert Jahren, einmal abgesehen davon, dass auch seine medizinische Versorgung heute um Welten besser ist und dass er seine sechs Wochen Urlaub nicht nur auf Sylt, sondern auch auf den Seychellen oder in Hawaii verbringen kann. Und dann entstehen ja auch laufend neue wirtschaftliche Tätigkeitsfelder, nach wie vor in der Industrie aufgrund neuer Ver­fah­ren und Materialien und daneben in der Beratung, in der Kommunikation oder auch im Medien­sektor, wo ebenfalls eine Umschichtung in vollem Gange ist, die praktisch nichts zu tun hat mit dem Allerwelts-Vorwurf der Lügenpresse. Alles ist möglich beziehungsweise es ist nicht nur möglich, sondern es tritt auch ein, und wenn die Gesellschaft flexibel genug ist, sich an die laufenden Veränderungen anzupassen, dann braucht sie sich um ihre Zukunft keine großen Sorgen zu machen.

Diesem Optimismus entgegen stehen zwei Kräfte. Zum einen ist bei all diesen Entwicklungen die Frage nach den Machtverhältnissen vollständig in den Hintergrund getreten. Die zweite Kraft besteht in der allgemeinen Tendenz des wirtschaftlichen Fortschrittes, das aktuelle, kapitalistische Modell mit dem Arbeitseinkommen als innerstem Heiligtum der Wertschöpfung, vor allem aber der Kaufkraftverteilung komplett auszuhöhlen. Über kurz oder lang wird die Maskerade der wirt­schaft­lichen Notwendigkeit fallen, hinter welcher gegenwärtig noch tausende von sinnlosen Tätigkeiten ausgeübt werden, viele davon sogar zu anständigen Löhnen. Es kommt gar nicht drauf an, ob es die Industrie 4.0 sein wird oder erst die Industrie 6.0 oder gar die Industrie 10.0, irgendwann lässt sich selbst für die Beschäftigten die These nicht mehr aufrecht erhalten, dass sie noch entfernt einen effektiven Beitrag zur Wertschöpfung leisten. Das tun heute schon 50% aller Arbeitnehmenden nicht mehr. Sie leisten einen effektiven Beitrag zur Verteilung von Kaufkraft, aber ihre wertvollen Beiträge zum Projektmanagement und zur Optimierung von was weiß ich nicht allem sind bei genauem Hinsehen lauter Tand. Das ist natürlich der Hauptgrund dafür, dass sich wirklich niemand dafür interessiert, genau hinzuschauen. Die Frage bleibt trotzdem bestehen: Was tun wir, was tut eine voll ausgebaute und voll versorgte Gesellschaft, wenn es ökonomisch nichts mehr zu tun gibt?

Nun braucht man solche Fragen gar nicht theoretisch zu beantworten; in der Praxis ergeben sich die Antworten mindestens zum Teil von selber. Auf jeden Fall nützlich ist der Hinweis auf die globale Dimension der Entwicklung. Wenn es bei uns nichts mehr zu tun gibt, können wir unsere Aktivitäten auf die Modernisierung der Verhältnisse in den ärmeren Weltregionen konzentrieren. Auch hier muss sogleich angefügt werden, dass dies bereits ein Teil unseres Wohlstandes ist, indem die meisten Waren, die wir konsumieren, bereits dort gefertigt werden, nach Fernost jetzt zunehmend in Afrika. Aber das soll uns nicht am Engagement hindern, sondern es vielmehr erst recht befeuern.

Nun zählen zu dieser zweiten Kraft auch die Begleitumstände, unter anderem das ganze Gebäude rund um das Heiligtum der vermeintlichen Wertschöpfung aus Lohnarbeit mit all den schönen Leitsätzen des gerechten Lohns und so weiter. Hier organisieren sich auch verschiedene nationale und nationalistische Ideologien und Interessen, bis hin zur Einrichtung der sozialen Sicherung, welche selbstverständlich beim Einstieg in die vollautomatisierte Welt eine zentrale Rolle spielt. Die Vereinheitlichung oder eben nicht von Steuersystemen, die Harmonisierung der sozialen Sicherung und solche Sachen wären eigentlich eine der zentralen Aufgaben von größeren politischen Einheiten wie zum Beispiel der Europäischen Union. Dass sie ausgerechnet in diesem Punkt, der zugegebenermaßen nicht einfach ist angesichts der erheblichen Unterschiede innerhalb dieser EU, aber dass sie trotzdem ausgerechnet in diesem Punkt noch nicht mal Ansätze zur Vereinheitlichung entwirft oder auch nur schon diskutiert, ist einer der Kardinalfehler dieses Organismus, neben dem größten Mangel, nämlich der Ausstattung des europäischen Parlamentes mit den Befugnissen eines echten europäischen Parlamentes, selbstverständlich zulasten der nationalen Parlamente und der nationalen Regierungen. Aber das wisst ihr ja alle schon längst.