"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Eisenbahnen und andere Unfälle

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Kennt ihr die Schweizer Stadt Luzern?
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11:22 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 28.03.2017 / 10:10

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 28.03.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Sie ist ein beliebtes Ziel für Touristinnen aus aller Welt mit einer pittoresken historischen Altstadt, dem Vierwaldstättersee und einem ganz anständigen Bergpanorama mit der Rigi und dem Pilatus, auf welch letzteren man sowohl durch die Luft per Seilbahn als auch terrestrisch mit einer Standseilbahn hoch fahren kann. Dass es sich in der ohnehin teuren Schweiz um ein sehr teures Pflaster handelt, versteht sich von selber; daneben ist Luzern die einzige größere Stadt in der Zentralschweiz mit einer eigenen kleinen Universität und einer originellen Hochschule für Gestaltung. Schließlich ist weniger die Stadt als der Kanton Luzern in der Schweiz berühmt für seinen Versuch, den Staatshaushalt mit Steuersenkungen auszugleichen, weshalb die Staatsangestellten jetzt eine Woche weniger Ferien haben, und auch sonst wird gespart, wo es nur geht. Touristisch erschlossen ist das Gebiet schon seit den Zeiten Goethes. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts logierte Mark Twain auf seiner Europareise in Luzern und berichtete, er hätte die legendären scheuen Gämsen dort gesehen, und zwar nicht nur eine, sondern hunderte davon, nicht etwa auf den Bergen, sondern ganz und gar in seinem Hotelzimmer. Sie seien ungefähr einen halben Zentimeter groß und würden ihn die ganze Nacht durch stechen und beißen...

Aber ich komme auf Luzern aus einem anderen Grund. Am vergangenen Mittwoch sprang nämlich ein Zug bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof Luzern aus den Gleisen und zerstörte bei dieser Gelegenheit die Anlagen derart massiv, dass der Bahnhof volle vier Tage lang geschlossen blieb, bis die Schäden an Geleisen, Weichen und Leitung behoben waren. Ein derartiger Totalschaden ist schon fast als Kunstwerk zu betrachten. Selbstverständlich sind die Abklärungen noch in Gange, und eigentlich sollte man den Untersuchungen nicht vorgreifen, aber in diesem Fall liegt die Sache anders. Es handelt sich nämlich nicht um irgendeinen Zug, sondern um einen ETR 610 von Trenitalia. Das sind jene Züge, die seinerzeit für die schweizerisch-italienische Gemeinschafts­unternehmung Cisalpino entworfen wurden; sie sollten die kurvenreichen Alpenstrecken dank der Neigetechnik schneller überwinden. Bis im Jahr 2000 entstanden sie in den italienischen Fiat-Werken, seither baut sie die Italien-Abteilung von Alstom. Die Neigetechnik konnte unglück­licherweise von Anfang an auf den Alpenstrecken nicht aktiviert werden, weil die Kompositionen zu schwer waren. Und auch sonst kann man die Entwicklung ungefähr so zusammenfassen: Die italienischen Produzenten und die staatliche Eisenbahngesellschaft griffen sich das Cisalpino-Budget und brauchten es für was auch immer, aber jedenfalls nicht zur Fertigstellung der vorgesehenen Zugtechnik, und seither dümpeln und humpeln diese Pannenfahrzeuge irgendwie und regelmäßig im alpenquerenden Verkehr herum. Nach Auflösung der Gemeinschaftsunternehmung wurden die Züge je hälftig auf die italienische und auf die schweizerische Staatsbahn aufgeteilt. In der Schweiz werden die Maschinen wenigstens noch regelmäßig gewartet, aber in Italien ist dies offenbar nicht der Fall. Die Italiener haben sowieso sämtliches Interesse an den Eisenbahnen verloren, mindestens sofern es sich nicht um Prestigeprojekte handelt wie die Schnell­verkehrs­verbindungen. Dort kann man sich ja auch immer wieder ein gutes Stück Geld herausschneiden, und die Strecke, welche Turin und Lyon verbinden soll, kostet unterdessen schon fast mehr pro Kilometer als ein Kilometer Autobahn in Süditalien, und das will etwas heißen. Ansonsten ist es den Italienern und insbesondere der Spitze der italienischen Eisenbahngesellschaft absolut schnurzegal, was mit Infrastruktur und Rollmaterial geschieht. Was den Alpentransit angeht, so haben sie auf die Eröffnung des neuen Basistunnels durch den Gotthard immerhin insofern reagiert, als sie die Frachttarife für die Zufahrtsstrecken zum Basistunnel massiv angehoben haben. Dabei ist noch anzufügen, dass der Ausbau dieser Zufahrtsstrecken in der Regel von der Schweiz aus finanziert wird. Und eben, die ETR oder Pendolino. Jedes Mal, wenn eine solche Komposition aufs Netz gelassen wird, muss man mit Pannen rechnen. Im besten Fall blockieren sie einfach ein Geleise oder vielleicht maximal einen Tunnel. Das hier in Luzern war jetzt wirklich der absolute Rekord. Vier Tage lang Komplettstillstand in einem sehr stark beanspruchten großen Bahnhof.

Mich regt das ungeheuer stark auf, und zwar deshalb, weil es den grundlegenden Mangel an Verständnis für eine öffentliche Aufgabe zeigt. Scheiß drauf, sagen die zuständigen Manager und damit letztlich auch die zuständigen Minister in Italien von Mal zu Mal. Es ist denen einfach egal, ob und wie die Züge fahren. Vermutlich ist es ihnen ebenso egal, ob und wie die Autobahnen funktionieren, die sind ja eh schon in privatem Besitz. Und das unterscheidet den italienischen Staat im Kern vom schweizerischen, und ohne den schweizerischen Staat übers grüne Klee loben zu wollen, ist er in der Beziehung doch um vierhundert Qualitätsstufen besser als der italienische: In der Schweiz haben die Bewohnerinnen und Bewohner mehrfach über Bahnprojekte abgestimmt, unter anderem über die 20 Milliarden Franken, welche der Gotthard-Basistunnel gekostet hat, aber auch über andere Finanzierungsvorlagen für die Eisenbahn, und das hängt damit zusammen, dass man hier versteht, welche Bedeutung ein funktionierendes Transportsystem für die gesamte Gesellschaft und natürlich auch für die Wirtschaft hat. Für die Wirtschaft in dem Sinne, dass die Pendlerinnenströme schwergewichtig mit dem öffentlichen Verkehr verarbeitet werden müssen, wenn man in den Städten nicht den kompletten Verkehrsinfarkt herstellen will, aber auch in dem Sinne, dass noch die entlegensten Bergdörfer mit regelmäßigen Postauto-Anschlüssen bedient werden, welche unter anderem den Bergkanton Graubünden ein gutes Viertel seines Gesamtbudgets kosten. Aber das führt dann auch dazu, dass in diesen Bergdörfern überhaupt noch Menschen wohnen und dass es immer mal wieder Leute gibt, welche den Weg dorthin finden. Raumplanung und Sozialpolitik hängen ganz eng mit Verkehrspolitik zusammen. Und wenn die Italiener darauf regelrecht scheißen, dann haben sie eben geschissen.

In dem Bereich kann man sich wirklich tüchtig ärgern, auch über die deutsche Bahn, was sowieso ein eigenes Kapitel ist; aber in Deutschland besteht jedenfalls noch ein Bewusstsein dafür, was die Deutsche Bahn eigentlich zu sein hätte, sogar bei den Automobilisten. Dabei war ja die deutsche Automobilindustrie und vor allem Mercedes Benz mit AD Tranz in den 1990-er Jahren feder­führend daran beteiligt, die europäische Eisenbahnindustrie zu zertrümmern. Ganz gelungen ist es nicht, aber die ganze Cisalpino- und Pendolino- und Fiat- und Alstom-Geschichte gehört am Rand in diesen Kontext. Dass das ganze aber in die komplette Stilllegung des Bahnhofs Luzern münden muss, das ist doch eine Pointe. «400 Meter Gleis mussten neu verbaut, vier Weichen ersetzt und zwei Weichen umgebaut werden. Außerdem wurde die Fahrleitung wieder instand gestellt sowie zwei Masten und ein Joch über mehreren Gleisen ersetzt. Am Sonntag mussten schließlich noch bis zu 200 Tonnen Schotter bewegt werden», schreibt die Neue Zürcher Zeitung, und sie schreibt weiter, dass die Ursache nach wie vor unklar sei, man habe bisher keine Hinweise auf Unregelmäßigkeiten gefunden, weder an der Bahninfrastruktur noch am Zug von Trenitalia. «Die Gleisanlagen im Bahnhof Luzern seien am vergangenen Montag zum letzten Mal inspiziert worden. Auch die Weichen, die vom Unfallzug befahren wurden, seien dabei untersucht worden. Die Inspektoren hätten keinerlei Unregelmäßigkeiten festgestellt. Auch Trenitalia habe am Zug wenige Tage vor dem Unfall Unterhaltsarbeiten durchgeführt», schreibt die Zeitung weiter. Achso, «Unterhaltsarbeiten» nennt man das neuerdings. Ich kann mir diese Aktivitäten ganz genau und plastisch vorstellen. Am 19. Januar dieses Jahres fuhr ich mit einer Stunde Verspätung in einem Eisenbahntunnel vor der Stadt Zürich vorbei an einem solchen ETR der italienischen Eisenbahn, der da ganz stumm auf seinem Gleise stand und die Verspätung nicht nur unseres S-Bahn-Zuges ausgelöst hatte. Auch den hatte vermutlich kurz zuvor eine Eisenbahn-Gewerkschafter-Brigade in Mailand «unterhalten».

Soviel hierzu. Daneben habt ihr wohl den erneuten Freundschaftsdienst von Wladimir Putin an Alexej Nawalni vernommen, er wurde schon wieder festgenommen und nicht einfach erschossen. Das ist ja schon eine richtige Manie, man könnte von einer Amour fou sprechen. Anders erging es einem ausgebüxten russischen Parlamentsabgeordneten, dessen Name mir entfallen ist, der sich aber in die Ukraine abgesetzt hat ins Exil; dem hat Wladimir Putin letzte Woche den Garaus gemacht. Vielleicht war das aber auch nur eine Retourkutsche dafür, dass die Ukraine die rollende russische Vertreterin am European Song Contest nicht einreisen lässt, weil sie kürzlich mal einen Auftritt auf der Krim gehabt habe. Die Knallköpfe in Kiew und in Moskau soll man sich austoben lassen, soviel steht fest, und wir fragen uns nach wie vor nur eines, nämlich wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass die Goldman-Sachs-Brühwurst José-Manuel Barroso jemals der Ukraine so etwas wie einen EU-Beitritt in Aussicht gestellt hatte, was diese gesamte aktuelle Ukraine-Krise mit Garantie erst auf jenes Niveau gehoben hat, welches wir im Moment erleben. Zuvor war das Geknatsche noch zwischen Juschtschenko und Timoschenko und Januschenko ausgetragen worden, was einen interessieren oder amüsieren konnte oder aber eben auch nicht; aber jetzt sind die Oligarchen schon derart massiv ineinander verbissen, dass nur noch eine Explosion für Ordnung sorgen könnte. Naja, vielleicht geht es auch ohne. Und für den European Song Contest hätte ich noch eine klitzekleine Idee: Die fast-Verlobte der Klitschko-Brothers Hayden Pannettiere könnte doch für die Ukraine an den Start gehen und den Sieg zum zweiten Mal in Folge nach Kiew holen? Vielleicht ginge es auch für Minsk, also für Weißrussland. Dort hat der Boss Lukaschenko ein anderes Verhältnis zu seinem Haupt-Oppositionellen als Putin zu Nawalni. Mikalaj Statkewitsch ist seit mehreren Tagen verschollen, wie der Spiegel meldet. Anlass waren die Demonstrationen in letzter Zeit, die sich offenbar vor allem gegen eine neue Steuer richtete, die «Schmarotzersteuer» genannt wird. Damit bezeichnet man aber nicht etwa die Chefs der staatlichen Eisenbahnen oder irgendwelche Oligarchen, sondern diese Steuer haben Leute zu bezahlen, die weniger als 183 Tage im Jahr gearbeitet haben. 200 Euro soll sie betragen. Der Durchschnittslohn steht bei 350 Euro im Monat. Aber natürlich betrifft diese Steuer nicht Menschen, die arbeiten, sondern Arbeitslose und Ausgesteuerte. Eben, Sozialschmarotzer. Die Erben der ehemaligen Kommunisten sind mir schon rechte Feger.