"Aus neutraler Sicht " von Albert Jörimann - Korruption
ID 80916
Vielleicht habt Ihr, geschätzte Hörerinnen und Hörer, jenen Monty-Python-Sketch noch in Erinnerung, der von der Erfindung eines todbringenden Witzes handelt, welchen die Engländer im Ersten Weltkrieg einsetzen wollten, es aber nicht schafften, weil bei der Produktion dieses Witzes die Menschen reihum starben vor Lachen.
Audio
10:55 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 17.01.2017 / 09:42
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Dateizugriffe: 2102
Klassifizierung
Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Arbeitswelt, Religion, Kultur, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung
AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 17.01.2017
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
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Skript
Ein ähnliches Motiv treibt den Roman «Infinite Jest» oder «Der unendliche Spaß» von David Foster Wallace an, über welchen ich hier vor ein paar Jahren mal ein paar Worte geäußert habe. In diese Muster passt nun auch ganz ausgezeichnet die neue Rüstungsoffensive der Schweizer Armee. Nachdem die Stimmberechtigten vor bald drei Jahren die Beschaffung eines neuen Kampfflugzeuges abgelehnt hatten, entwickelte der Generalstab eine neue Boden–Luft-Abwehrwaffe, und seither werden entlang der Grenzen im Geheimen überall Gräben ausgehoben, welche im Bedarfs- und Kriegsfall mit jenem Käse aufgefüllt werden, der dann sowieso nicht mehr exportiert werden kann. Wenn dann der supponierte böse Feind unser Land zu überfallen beginnt, öffnet man die Abdeckung dieser Käselager, und der nun austretende Gestank bildet einen zehn Meter hohen Wall, den der Feind noch nicht mal mit einer Gasmaske durchdringen kann. Zwar verstößt die Schweiz damit gegen verschiedene Vorschriften der Genfer Konvention, vor allem im Bereich Giftgase, aber was tut man nicht alles, um die direkte Demokratie zu schützen. Die rechtsnationalistische Schweizerische Volkspartei, die übrigens unterdessen Minoritätenschutz genießt, da sie nie mehr als 30 Prozent der Wählerinnen-Anteile erringen wird, hat bereits den Antrag gestellt, diese Waffe bereits jetzt einzusetzen gegen die Flüchtlinge aus Afrika, während jene aus dem Nahen Osten mit dem etwas milderen Sarin empfangen werden sollen, an welches sie aus dem Syrien-Krieg eventuell bereits gewöhnt sind. Der radikale, also gründliche Flügel dieser Partei schlägt vor, die Käsegrenze auch gegen die Personenfreizügigkeit gegenüber oder mit der Europäischen Union zu aktivieren und so die Masseneinwanderung in die neutrale Schweiz endlich zu stoppen. Ja, die SVP versteht keinen Spaß.
Ebenfalls keinen Spaß versteht einmal pro Monat der «Monde Diplomatique», der unterdessen im 23. Jahrgang auch in deutscher Sprache erscheint. In der Januar-Ausgabe beleuchtet ein ausführlicher Bericht die Lage der Balkanstaaten in der Warteschleife für die Europäische Union, wobei er mit dem Veto Griechenlands gegen den Beitritt Mazedoniens – nicht zur EU, sondern zur Nato beginnt, und zwar im Jahr 2008; aber angesichts der unverändert feindseligen Haltung Griechenlands ist auf absehbare Zeit auch nicht mit einem EU-Beitritt zu rechnen. Der Monde Diplomatique beschreibt die Entwicklung seither als nationalistisch und die Regierung als korrupt. Dies gilt auch für die meisten übrigen Balkanstaaten, auch für jene, die bereits EU-Mitglied sind wie Rumänien und Bulgarien. In Serbien sind die Nationalisten an der Macht, in Kroatien haben sie ihr Vokabular etwas gedämpft, nachdem die EU-Beitrittsverhandlungen erfolgreich verliefen, aber so richtig sauber ist auch Zagreb nicht. Bosnien-Herzegowina erst recht nicht; in diesem Land der umfassenden gegenseitigen Blockade ist die Korruption praktisch der einzige Wirtschaftszweig, der noch funktioniert. Kosovo: Die Elite rund um die Regierung ist korrupt. Albanien erhält vom Monde Diplomatique noch einigermaßen gute Noten, wird aber gerügt wegen der zunehmenden Verbreitung islamistischer Strömungen. Montenegro wird gar nicht erst besprochen, dieser Fall ist eh klar, und den Abschluss des Balkans im Süden, nämlich Griechenland, braucht man nicht zu verhandeln.
Korrupt oder anderswie verseucht, nämlich mafios, geht es weiter im Bericht über Kalabrien, die italienische Stiefelspitze. Weiter hinten gibt es einen Artikel über den Historikerstreit um Ruanda; Zentralafrika kämpft mehr oder weniger auf allen Ebenen mit Entwicklungsproblemen, sodass die endemische Korruption geradezu als geringes Übel erscheint. Anschließend schreibt Guilherme Boulos über das «brasilianische Desaster». «Eine korrupte Regierung beschließt den Rückzug des Staates», heißt es im Untertitel, und zu diesem Thema brauche ich euch weiter nichts zu erzählen. In Venezuela hat man viel Erdöl und nichts zu essen; Korruption erscheint in diesem Land eher als eine Folgeerscheinung zahlreicher Stockfehler in der Wirtschafts- und Industrialisierungs-Planung. Danach folgt unter dem Titel «Der Sumpf von Seoul» die Beschreibung der Korruption in Südkorea, welche an der Staatsspitze Tradition haben soll; «die neun größten Konzerne stecken mit drin» steht in einem Zwischentitel, also Samsung, Hyundai, LG und SK Group, unter anderen.
Wie ein Entschlüsselungscode folgt am Schluss eine Abhandlung über die Dutzenden von Milliarden Dollars an Bußen, welche die USA in den letzten Jahren gegenüber europäischen Unternehmen verhängt haben. «Im Namen der Korruptionsbekämpfung zwingen die USA der Welt ihr Rechtssystem auf», steht im Aufreißer, und das führt den erleuchteten Geist direkt zur Frage: In welchem Namen erfolgt denn wohl die Anklage wegen Korruption, zwar nicht im Rahmen des Rechtssystems, aber doch im Namen des Wertesystems, welches bekanntlich noch tiefer wurzelt als das Rechtssystem? Auf der ganzen Welt beobachten wir Korruption außer bei uns – da muss man sich doch vorkommen wie jener Automobilist, der im Radio die Meldung hört: «Achtung, auf der A1 befindet sich ein Geisterfahrer, bitte höchste Aufmerksamkeit und Vorsicht», und der Automobilist denkt sich: «Was heißt da einer, das sind hunderte!» Irgendetwas stimmt nicht mit dem Koordinatensystem, das unsereins über die Welt legt, und zwar wird es jene kleine Nuance sein, dass wir, mindestens als Le-Monde-Diplomatique-Leserinnen und -Leser, die Welt moralisch beurteilen anstatt allein nach den Fakten.
Korruption, so weit das Auge blicken kann – da müssen wir uns doch mit Grausen abwenden, und zwar mit einem Grausen, das auf einem Maß an Selbstgerechtigkeit beruht, das kaum zu überbieten ist. Vielleicht ist diese moralische Selbstveredelung mit ein Grund dafür, dass sich die arbeitenden Klassen seit längerem ihrerseits mit Grausen vor dieser Sorte von fortschrittlichen Menschen abgewendet haben.
Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht ist auch dies nichts mehr als eine feine Pointe, welche mit den Realitäten nicht besonders viel zu tun hat. Die arbeitenden Klassen sind in ihrer rohen, abstrakten Form, also als unqualifiziertes Proletariat mit fließendem Übergang zum Lumpenproletariat, bei uns weitgehend verschwunden. Wer der politischen Linken vorwirft, den Kontakt zu den Arbeiterinnen und Arbeitern verloren zu haben, erhebt einen Phantom-Vorwurf. Die abstrakten Proleten sind bei uns sowieso längstens jene, welche aus ärmeren Ländern eingewandert sind und die so genannt dreckigen Arbeiten ausführen. Sie haben in der Regel auf politischer, aber auch gesellschaftlicher Ebene schon gar nichts zu sagen. Wenn sich jemand für sie einsetzt, so sind es tatsächlich noch gewisse Strömungen innerhalb der Gewerkschaften oder der politischen Linken, aber da sich aus ihnen kein politischer und gesellschaftlicher Mehrwert pressen lässt, bleiben sie am Rande, während die Denkmaschinen in der politischen Mitte beziehungsweise an den Geldtöpfen dergleichen tun, als wäre noch ein nennenswertes inländisches Proletariat vorhanden, das sich von der Linken vernachlässigt fühle und nun völlig heimatlos herum irre und geradewegs den Rechtsnationalisten in die Arme laufe. Das ist Schnickschnack oder Bullshit oder beides.
Dagegen trifft es natürlich zu, dass die linke Orthodoxie, also die Köpfe links und weit links der Sozialdemokratie, den Kontakt nicht nur zum Proletariat, sondern überhaupt zu irgendwelchen theoretisch mobilisierbaren Völkermassen verloren haben. Kürzlich las ich die Tirade eines kanadischen Kommunisten gegen die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, weil es das System nämlich nicht verändere, sondern nur zur Stabilisierung dieses Systems beitrage. Wenn ich könnte, würde ich diesen Kollegen oder Genossen fragen, welchen Plan er denn den kanadischen Massen schmackhaft machen wolle zur Abwicklung des Kapitalismus in Kanada, und zwar in der Praxis, also so, dass ihm die Menschen auch tatsächlich zuhören und dann seine Anweisungen exekutieren. Das wäre wohl kein besonders fruchtbringendes Unterfangen, seine Antwort können wir uns auch so an die Wand malen. Trotzdem ist es erstaunlich, wie solche Köpfe, die ich mir übrigens durchaus nicht durchwegs als dumm vorstelle, in einer Kapitalismuskritik verstrickt bleiben, welche weder irgendwelche andere Menschen noch letztlich sie selber einen Schritt weiter bringt.
Im Le Monde Diplomatique steht im Artikel «Die idiotische Wette des Matteo Renzi» folgende Passage: «Den linken Parteien Italiens fehlt es vor allem an politischer Fantasie. Seit den 1980er Jahren kommen sie mit immer denselben Slogans.» Und dann «Um eine Bewegung ins Leben zu rufen, braucht es mehr als nur den politischen Rahmen. Die Menschen, die unter der Wirtschaftskrise leiden, sehen im Movimento Cinque Stelle und in geringerem Ausmaß auch in der Lega Nord die bessere Lösung. Wenn es nicht gelingt, mit ihnen (nach Gramsci) eine neue «emotionale Verbindung» aufzubauen, wird dem linksalternativen Projekt am Ende womöglich das Volk fehlen.» Aus neutraler Sicht sage ich hierzu, dass es Unsinn ist, eine emotionale Beziehung zu den Menschen aufbauen zu wollen, wenn man kein Projekt hat. Das ist es, was fehlt. Das linksalternative Projekt ist gar keines, es geht hier nicht um einen Mangel an politischer Fantasie. Es geht um einen Mangel an Inhalten. Um aber inhaltlich zu argumentieren, muss man zunächst einmal die Fakten anschauen, anstatt dauernd alte Phrasen runterzunudeln. Man muss in der Lage sein, auch sich selber in Frage zu stellen und die alten Thesen und Theorien. Die Geschichte von der Klassengesellschaft hat in der Form des 19. Jahrhunderts keinen Platz im 21. Jahrhundert, und so weiter und so fort. Die Armutsdebatte muss abgeschlossen werden. An die Stelle solcher Antiquitäten müssen neue Fragen und Forderungen treten, in erster Linie aus jenem Bereich, wo es darum geht, die Versprechungen und Realitäten des allgemeinen Reichtums in unserer Gesellschaft auch für alle zusammen einzulösen. Heute gibt sich die Gesellschaft die größte Mühe, urtümliche Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens aufrecht zu erhalten. Hier muss man ansetzen und aufzeigen, wie die neue Gesellschaft aussehen sollte, wie sie tatsächlich allen ein Leben in Freiheit und einem Minimum an Zwang ermöglicht. Neue Institutionen müssen her, von denen das Grundeinkommen nur die kleinste ist. Und neue Menschen müssen her. Es ist doch eine Beleidigung für die Menschheit und den Fortschritt, wenn sich nach wie vor Personen selber entmenschen und in der Horde, in der Masse Parolen brüllen, die jenseits des Brüllens überhaupt keinen Sinn haben. Auch der Mensch muss eine Stufe höher klettern, nicht nur die Produktionskräfte.
Ebenfalls keinen Spaß versteht einmal pro Monat der «Monde Diplomatique», der unterdessen im 23. Jahrgang auch in deutscher Sprache erscheint. In der Januar-Ausgabe beleuchtet ein ausführlicher Bericht die Lage der Balkanstaaten in der Warteschleife für die Europäische Union, wobei er mit dem Veto Griechenlands gegen den Beitritt Mazedoniens – nicht zur EU, sondern zur Nato beginnt, und zwar im Jahr 2008; aber angesichts der unverändert feindseligen Haltung Griechenlands ist auf absehbare Zeit auch nicht mit einem EU-Beitritt zu rechnen. Der Monde Diplomatique beschreibt die Entwicklung seither als nationalistisch und die Regierung als korrupt. Dies gilt auch für die meisten übrigen Balkanstaaten, auch für jene, die bereits EU-Mitglied sind wie Rumänien und Bulgarien. In Serbien sind die Nationalisten an der Macht, in Kroatien haben sie ihr Vokabular etwas gedämpft, nachdem die EU-Beitrittsverhandlungen erfolgreich verliefen, aber so richtig sauber ist auch Zagreb nicht. Bosnien-Herzegowina erst recht nicht; in diesem Land der umfassenden gegenseitigen Blockade ist die Korruption praktisch der einzige Wirtschaftszweig, der noch funktioniert. Kosovo: Die Elite rund um die Regierung ist korrupt. Albanien erhält vom Monde Diplomatique noch einigermaßen gute Noten, wird aber gerügt wegen der zunehmenden Verbreitung islamistischer Strömungen. Montenegro wird gar nicht erst besprochen, dieser Fall ist eh klar, und den Abschluss des Balkans im Süden, nämlich Griechenland, braucht man nicht zu verhandeln.
Korrupt oder anderswie verseucht, nämlich mafios, geht es weiter im Bericht über Kalabrien, die italienische Stiefelspitze. Weiter hinten gibt es einen Artikel über den Historikerstreit um Ruanda; Zentralafrika kämpft mehr oder weniger auf allen Ebenen mit Entwicklungsproblemen, sodass die endemische Korruption geradezu als geringes Übel erscheint. Anschließend schreibt Guilherme Boulos über das «brasilianische Desaster». «Eine korrupte Regierung beschließt den Rückzug des Staates», heißt es im Untertitel, und zu diesem Thema brauche ich euch weiter nichts zu erzählen. In Venezuela hat man viel Erdöl und nichts zu essen; Korruption erscheint in diesem Land eher als eine Folgeerscheinung zahlreicher Stockfehler in der Wirtschafts- und Industrialisierungs-Planung. Danach folgt unter dem Titel «Der Sumpf von Seoul» die Beschreibung der Korruption in Südkorea, welche an der Staatsspitze Tradition haben soll; «die neun größten Konzerne stecken mit drin» steht in einem Zwischentitel, also Samsung, Hyundai, LG und SK Group, unter anderen.
Wie ein Entschlüsselungscode folgt am Schluss eine Abhandlung über die Dutzenden von Milliarden Dollars an Bußen, welche die USA in den letzten Jahren gegenüber europäischen Unternehmen verhängt haben. «Im Namen der Korruptionsbekämpfung zwingen die USA der Welt ihr Rechtssystem auf», steht im Aufreißer, und das führt den erleuchteten Geist direkt zur Frage: In welchem Namen erfolgt denn wohl die Anklage wegen Korruption, zwar nicht im Rahmen des Rechtssystems, aber doch im Namen des Wertesystems, welches bekanntlich noch tiefer wurzelt als das Rechtssystem? Auf der ganzen Welt beobachten wir Korruption außer bei uns – da muss man sich doch vorkommen wie jener Automobilist, der im Radio die Meldung hört: «Achtung, auf der A1 befindet sich ein Geisterfahrer, bitte höchste Aufmerksamkeit und Vorsicht», und der Automobilist denkt sich: «Was heißt da einer, das sind hunderte!» Irgendetwas stimmt nicht mit dem Koordinatensystem, das unsereins über die Welt legt, und zwar wird es jene kleine Nuance sein, dass wir, mindestens als Le-Monde-Diplomatique-Leserinnen und -Leser, die Welt moralisch beurteilen anstatt allein nach den Fakten.
Korruption, so weit das Auge blicken kann – da müssen wir uns doch mit Grausen abwenden, und zwar mit einem Grausen, das auf einem Maß an Selbstgerechtigkeit beruht, das kaum zu überbieten ist. Vielleicht ist diese moralische Selbstveredelung mit ein Grund dafür, dass sich die arbeitenden Klassen seit längerem ihrerseits mit Grausen vor dieser Sorte von fortschrittlichen Menschen abgewendet haben.
Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht ist auch dies nichts mehr als eine feine Pointe, welche mit den Realitäten nicht besonders viel zu tun hat. Die arbeitenden Klassen sind in ihrer rohen, abstrakten Form, also als unqualifiziertes Proletariat mit fließendem Übergang zum Lumpenproletariat, bei uns weitgehend verschwunden. Wer der politischen Linken vorwirft, den Kontakt zu den Arbeiterinnen und Arbeitern verloren zu haben, erhebt einen Phantom-Vorwurf. Die abstrakten Proleten sind bei uns sowieso längstens jene, welche aus ärmeren Ländern eingewandert sind und die so genannt dreckigen Arbeiten ausführen. Sie haben in der Regel auf politischer, aber auch gesellschaftlicher Ebene schon gar nichts zu sagen. Wenn sich jemand für sie einsetzt, so sind es tatsächlich noch gewisse Strömungen innerhalb der Gewerkschaften oder der politischen Linken, aber da sich aus ihnen kein politischer und gesellschaftlicher Mehrwert pressen lässt, bleiben sie am Rande, während die Denkmaschinen in der politischen Mitte beziehungsweise an den Geldtöpfen dergleichen tun, als wäre noch ein nennenswertes inländisches Proletariat vorhanden, das sich von der Linken vernachlässigt fühle und nun völlig heimatlos herum irre und geradewegs den Rechtsnationalisten in die Arme laufe. Das ist Schnickschnack oder Bullshit oder beides.
Dagegen trifft es natürlich zu, dass die linke Orthodoxie, also die Köpfe links und weit links der Sozialdemokratie, den Kontakt nicht nur zum Proletariat, sondern überhaupt zu irgendwelchen theoretisch mobilisierbaren Völkermassen verloren haben. Kürzlich las ich die Tirade eines kanadischen Kommunisten gegen die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, weil es das System nämlich nicht verändere, sondern nur zur Stabilisierung dieses Systems beitrage. Wenn ich könnte, würde ich diesen Kollegen oder Genossen fragen, welchen Plan er denn den kanadischen Massen schmackhaft machen wolle zur Abwicklung des Kapitalismus in Kanada, und zwar in der Praxis, also so, dass ihm die Menschen auch tatsächlich zuhören und dann seine Anweisungen exekutieren. Das wäre wohl kein besonders fruchtbringendes Unterfangen, seine Antwort können wir uns auch so an die Wand malen. Trotzdem ist es erstaunlich, wie solche Köpfe, die ich mir übrigens durchaus nicht durchwegs als dumm vorstelle, in einer Kapitalismuskritik verstrickt bleiben, welche weder irgendwelche andere Menschen noch letztlich sie selber einen Schritt weiter bringt.
Im Le Monde Diplomatique steht im Artikel «Die idiotische Wette des Matteo Renzi» folgende Passage: «Den linken Parteien Italiens fehlt es vor allem an politischer Fantasie. Seit den 1980er Jahren kommen sie mit immer denselben Slogans.» Und dann «Um eine Bewegung ins Leben zu rufen, braucht es mehr als nur den politischen Rahmen. Die Menschen, die unter der Wirtschaftskrise leiden, sehen im Movimento Cinque Stelle und in geringerem Ausmaß auch in der Lega Nord die bessere Lösung. Wenn es nicht gelingt, mit ihnen (nach Gramsci) eine neue «emotionale Verbindung» aufzubauen, wird dem linksalternativen Projekt am Ende womöglich das Volk fehlen.» Aus neutraler Sicht sage ich hierzu, dass es Unsinn ist, eine emotionale Beziehung zu den Menschen aufbauen zu wollen, wenn man kein Projekt hat. Das ist es, was fehlt. Das linksalternative Projekt ist gar keines, es geht hier nicht um einen Mangel an politischer Fantasie. Es geht um einen Mangel an Inhalten. Um aber inhaltlich zu argumentieren, muss man zunächst einmal die Fakten anschauen, anstatt dauernd alte Phrasen runterzunudeln. Man muss in der Lage sein, auch sich selber in Frage zu stellen und die alten Thesen und Theorien. Die Geschichte von der Klassengesellschaft hat in der Form des 19. Jahrhunderts keinen Platz im 21. Jahrhundert, und so weiter und so fort. Die Armutsdebatte muss abgeschlossen werden. An die Stelle solcher Antiquitäten müssen neue Fragen und Forderungen treten, in erster Linie aus jenem Bereich, wo es darum geht, die Versprechungen und Realitäten des allgemeinen Reichtums in unserer Gesellschaft auch für alle zusammen einzulösen. Heute gibt sich die Gesellschaft die größte Mühe, urtümliche Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens aufrecht zu erhalten. Hier muss man ansetzen und aufzeigen, wie die neue Gesellschaft aussehen sollte, wie sie tatsächlich allen ein Leben in Freiheit und einem Minimum an Zwang ermöglicht. Neue Institutionen müssen her, von denen das Grundeinkommen nur die kleinste ist. Und neue Menschen müssen her. Es ist doch eine Beleidigung für die Menschheit und den Fortschritt, wenn sich nach wie vor Personen selber entmenschen und in der Horde, in der Masse Parolen brüllen, die jenseits des Brüllens überhaupt keinen Sinn haben. Auch der Mensch muss eine Stufe höher klettern, nicht nur die Produktionskräfte.