"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Frau Obama

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Wie ich mir sagen lasse, hat sich die Anzahl der Bewerbungen für einen Job bei der Schweizer Grenzwache in den letzten Jahren vervierfacht. Hauptgrund dafür ist die anhaltende Flüchtlings­problematik. Die jungen Leute möchten das Land mit der Waffe in der Hand beschützen.
Audio
10:25 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 18.10.2016 / 15:26

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Jugend, Kinder, Religion, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 18.10.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Ich habe keine Zahlen zur Hand über jene anderen jungen Leute, welche irgendwo auf der Welt Gutes tun möchten mit dem Spaten in der Hand oder mindestens mit dem Geldbeutel; ich gehe mal davon aus, dass der Andrang bei Organisationen wie dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz mehr oder weniger unverändert hoch ist, sodass sich die Wohltäterinnen und die Heimatschützerinnen ungefähr neutralisieren. Trotzdem geben mir die Grenzwächter zu denken. Ich glaube nicht, dass es sich dabei um schlechte Menschen oder um Sadisten handelt, welche die armen Flüchtlings­men­schen abknallen oder ihnen mit Zangen die Fingernägel ausreißen wollen. Vielmehr denke ich, dass die Grenzschutzaspiranten überzeugt sind davon, dass der Zustrom von Menschen aus anderen Weltregionen und Kulturkreisen die variablen Geometrien in der Schweiz so verändert, dass Friede, Freude und Eierkuchen gefährdet sind. Und es gibt einen steigenden Anteil an jungen Menschen, welcher Frieden, Freude und Eierkuchen gut findet.

Mir geht es genauso. Ich bin ein bedingungsloser Anhänger von Frieden, Freude und Eierkuchen und denke häufig über Möglichkeiten nach, wie ein solcher Zustand herzustellen wäre, auch wenn ich insgeheim befürchte, dass Frieden, Freude und Eierkuchen nichts weiter als ein Synonym für das Paradies sei, und das Paradies ist nun mal eine top-langweilige Veranstaltung. Na gut, vielleicht ist es im Paradies heutzutage etwas weniger langweilig, weil man da sicher auch ein iPhone hat, auf welchem man den lieben langen Tag youtube-Filmchen von putzigen Pandabären und Fahrrad fah­ren­den Zwergpinschern ankucken kann. Ansonsten bin ich davon überzeugt, dass vor der Her­stel­lung paradiesischer Zustände in der Schweiz beziehungsweise in Baden-Württemberg oder in Bayern oder in Thüringen noch ein paar ansehnliche Hindernisse zu überwinden sind, und zwar nicht Hindernisse der materiellen Art, sondern Hindernisse in der sozialen Organisation und Hindernisse bei der Einrichtung des Denkapparates der breiten Bevölkerungsmehrheit.

Die Grenzwach-Aspiranten sehen die Probleme offenbar anders, oder sie setzen die Prioritäten einfach an einem anderen Ort. In erster Linie haben sie realisiert, dass es uns eigentlich schon recht gut geht, dass wir mit anderen Worten auf dem Weg ins Paradies schon ein ordentliches Stück vorwärts gekommen sind im Vergleich zu früheren Phasen der Weltgeschichte und nur schon im Vergleich zu, sagen wir mal vor zehn Jahren. Und da muss ich ihnen Recht geben. Die Welt und die Zustände in unseren Ländern werden durchaus nicht jeden Tag schlechter. Darüber soll man sich freuen, und man soll sich durchaus darum bemühen, dass dies auch so bleibt. So weit, so einverstanden. Über den Rest können wir uns dann später mal unterhalten.

Es gibt offenbar historische Momente für gewisse Themen, es gibt historische Momente dafür, ein Thema genau auf den Punkt zu bringen, und einen solchen historischen Moment haben wir letzte Woche zweifelsfrei erlebt, als Frau Obama am Donnerstag das Garderoben-Männergeschwätz von Donald Trump aufs Tapet brachte. «Die widerlichen Witze über den weiblichen Körper, über unseren Körper, die Verachtung gegenüber Wünschen und Plänen der Frauen, die Verspottung unserer Intelligenz und die Gewissheit, dass Männer sich Frauen gegenüber wirklich alles erlauben können – das war hart. Schockierend und erschreckend. Und es tut weh.» Frau Obama hat die Quintessenz aller feministischen Anschuldigungen gegenüber patriarchalischem Verhalten in ihrer Ansprache derart fassbar, knapp und engagiert zum Ausdruck gebracht, dass es in der entwickelten Welt kein zurück mehr gibt hinter diesen Augenblick. Und dafür muss man Donald Trump echt und authentisch dankbar sein. Er hat es selber offensichtlich auch eingesehen und blieb stumm, na ja, auf seine Art halt, stumm wie eine im Weltall verglühende Stinkmorchel oder vielleicht ein Langmaulbüschelbarsch. Oder eine Nacktflussschnecke.

Ebenfalls am Donnerstag hatte ich ein seltenes Erlebnis einer Real-Halluzination. Ich lag schon mehr oder weniger bettreif im Stuhl vor dem Fernseher und schaute mir die Spätnachrichten des ZDF an oder der ARD, jedenfalls der Lügenpresse, und da sagte der Sprecher plötzlich, dass die zuständigen Damen und Herren in Oslo den Nobelpreis für Literatur an Herrn Bob Dylan vergeben hätten. Etwas derart Abwegiges habe ich ja seit Jahrzehnten nicht mehr gehört, mehr oder weniger seit der Vergabe an Winston Churchill, und das war im Jahr 1953. Noch absurder war in der Folge, dass sich ganze Kohorten von Kulturkritikern daran machten, ihren Kopf zustimmend auf und ab zu bewegen und in die Tasten zu greifen oder meinetwegen Siri zu diktieren, weshalb dies eine kluge und richtige Entscheidung war. Auch meine auf dem gleichen Stuhl liegende Freundin zeigte alle Anzeichen von Begeisterung, sodass ich mir akut die Frage stellen musste, wo ich überhaupt bin oder vielleicht auch wer. Geben die das LSD neuerdings nicht mehr ins Trinkwasser, sondern haben eine Form gefunden, wie man es über die Nachrichten in den Volkskörper einbringt? – Und es ging weiter in der gleichen Sendung, ich brauchte also nicht mal zu zappen, und wenn ich es mir genau überlege, war es vielleicht schon vorher, aber eben in der gleichen Sendung, da teilte der Herr Nachrichtensprecher mit, dass die Polizei bei der genaueren Untersuchung der Fundstelle der sterblichen Überreste der kleinen Peggy Knobloch irgendwelche DNA-Spuren des Neonazi-Mörders Uwe Böhnhardt gefunden hätte – also ich bitte euch. Da werden die Vorurteile aus allen möglichen Sparten derart idealtypisch zusammen genagelt, dass mir erst recht schwindlig wurde. Ich weiß es ja nicht, als Außenstehender beziehungsweise außen vor dem TV-Gerät Sitzender kann ich die Sache gewiss nicht abschließend beurteilen, aber nach allem, was man rund um die Ermittlungen des Verfassungsschutzes zum Nationalsozialistischen Untergrund gehört hat, kann man einfach nicht anders als zu vermuten, dass hier ein besonders kreativ begabter Beamter des Verfassungsschutzes gefunden hat, ein solcher Dreh lasse den NSU als Tätereinheit eines ganz besonderen Genres erscheinen, womit all die Schlampereien des Verfassungsschutzes so etwas wie ein versöhnliches Ende nehmen würden. Die haben doch diese DNA-Partikel selber an den Fundort gebracht. Alles andere wäre reine Halluzination.

Und was ich dazu meine, ist natürlich reine Spekulation, aber es kommt mir tatsächlich so vor, als würden die Neonazi-Mörder mit dieser Wendung zu letztlich außerpolitischen Perversen gestempelt, was es den tatsächlichen Neonazis dann sehr wohl erlaubt, sich von ihren Gesellen zu distanzieren. Das finde ich übel. Anderseits muss ich auch einräumen, dass so ein Neonazi-Hirn offensichtlich zu sehr vielen Varianten der Hirntätigkeit in der Lage ist mit Ausnahme der Kernaufgabe, des Denkens. Aber trotzdem.

Wie auch immer: Am Mittwoch geht es los mit der Frankfurter Buchmesse, und das ist für mich die Gelegenheit, euch darüber zu informieren, dass auch ich wieder mal ein Buch gelesen habe, und zwar das kleine Wert «Assommons les pauvres», das auf Deutsch den falschen Titel «Erschlagt die Armen» trägt. «Assommons les pauvres» bezieht sich auf ein Prosagedicht von Charles Baudelaire, in welchem er von einem Bettler erzählt, den er zu Boden schlägt und auf ihm herum tritt, bis dieser beginnt sich zu wehren und ihm schließlich in gleicher Münze zurückzahlt, worauf er mit ihm seine gesamte Barschaft teilt, weil der Bettler damit bewiesen hat, dass sie gleichgestellt sind. Wäre der Bettler erschlagen, so wäre dieser Beweis eher schwierig. Aber ich weiß schon, «Erschlagt die Armen» verkauft sich besser, obwohl das Buch so eine Marketingpanne gar nicht nötig hätte. Geschrieben hat es eine Frau, die aus Bangla Desh stammt, in Kalkutta studiert hat und dann nach Frankreich auswanderte, wo sie ihr Brot unter anderem als Übersetzerin für die Asylbehörde verdiente, und genau davon handelt das Stück. Es geht um die Geschichten, welche die Asyl­su­chen­den sich zusammen stellen oder sogar zusammen stellen lassen, um die Wahrscheinlichkeit eines positiven Asylbescheides zu erhöhen, und das ist ja schon im Kern mal ein echtes Stück angewandter Literatur, Weltliteratur, wenn es auch der Erzählerin logischerweise zum Hals heraus hängt, aber da kann man nicht so viel machen. Sinha Shumona beschreibt das Personal dieser Institutionen, für welches sie arbeitet, die Damen und Herren, welche die Protokolle und Aussagen aufnehmen sowie die Asylrichterinnen und -richter; vor allem aber handelt es sich bei diesem Bericht um ein Stück über tektonische Verschiebungen unter den Kulturen zum einen, zum anderen und absolut zentral für das Buch in der Sprache selber, und zwar in der französischen Sprache. Man würde es gar nicht für möglich halten, und insofern bin ich schon wieder beim LSD, dass eine Frau aus Bangla Desh mit einer Ausbildung in Indien derart tief in die Struktur, ja in die Seele der französischen Sprache hinein rutscht, dass sie aus diesem tatsächlich epochalen Thema auch noch in der Sprachsubstanz ein lyrisches Ereignis produziert. Ich bin nun gespannt, wie sich das Nachfolgebuch anlässt, das auch schon wieder ein paar Monate auf dem Markt ist und «Kalkutta» heißt, was auf jeden Fall keine Übersetzungsprobleme stellt. Mein Buchhändler vertröstet mich seit Tagen beziehungsweise er behauptet, das Buchlieferungszentrum hätte das Teil nicht auf Lager. Vielleicht muss ich am Schluss doch noch auf Amazon wechseln. Aber immerhin: Es bewegt sich etwas.

Was ich dagegen nicht lesen werde, obwohl es mir empfohlen wurde, ist das Buch über François Hollande. Es scheint in Frankreich gegenwärtig einen Konsens dazu zu geben, dass man den Hollande einfach niedermachen kann und muss, wo es sich gerade anbietet. Das löst bei mir einen gegenteiligen Reflex aus, und ich sage jetzt schon: Frankreich hatte in seiner ganzen jüngeren Geschichte noch nie einen Präsidenten, der sich derart intensiv darum bemüht hat, sein Amt mit Anstand auszuüben wie François Hollande. Mit Anstand heißt unter anderem auch die Behauptung des Rechtes auf eine Intimsphäre, welche ihren Namen verdient. Nun gut, hier liegen wohl auch nicht die wichtigsten Kritikpunkte. Aber sonst und anders rum... Vielleicht kriegen die Franzosen nächstes Jahr dann wieder einen besseren Präsidenten, die Koksnase Louis de Funès den II., nämlich Nicolas Sarkozy, zum Beispiel, oder vollends die Marine Le Pen. Guten Appetit wünsche ich schon jetzt.