"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Altersrenten

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Früher, also ich meine jetzt ordentlich früher, vor hundert oder auch vor tausend Jahren, da wurde man im Alter von den Kindern versorgt und gepflegt, und deshalb war es vernünftig, möglichst viele Kinder zu haben, ganz abgesehen davon, dass diese Kinder oft schon im frühesten Kindesalter wegstarben, weshalb man sowieso die ganze Zeit mit der Produktion von Nachschub und Nach­wuchs beschäftigt war. Ja, so warn's, unsere Vorfahren.
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10:45 min, 24 MB, mp3
mp3, 306 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 13.09.2016 / 11:09

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Jugend, Kinder, Arbeitswelt, SeniorInnen, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 13.09.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Seit der Einführung von staatlichen Altersrenten und betrieblichen Pensionskassen stehen heute auch die Rentnerinnen und Pensionisten finanziell auf eigenen Beinen und verfügen oft über das, was man ein anständiges Einkommen nennt, und das könnte man gleichzeitig als eines der Hauptziele der modernen Gesellschaften definieren: ein anständiges Leben im Alter. Nun hat dieser relative Wohlstand, in Kombination mit der immer besser werdenden medizinischen Versorgung und einer allgemeinen Verbesserung der Lebensumstände an allen Orten, zu einer steigenden Lebenserwartung geführt; allein in Deutsch­land ist sie in den sechzehn Jahren seit dem Jahrtausendwechsel um fast 5 Jahre gestiegen, oder anders gesagt: Mit jedem Jahr, das man lebt, steigt die durchschnittliche Lebenserwartung um ein Viertel Jahr. Grundsätzlich eine schöne Sache und vor allem das prominenteste Zeichen dafür, dass unser Wohlstand, und zwar der allgemeine Wohlstand, nicht bloß jener des obersten Vermögens­promilles, in den letzten fuffzich Jahren ungeheuer zugenommen hat.

Selbstverständlich entstehen daraus auch neue Probleme. In der Pensionierung zeigt sich in gesellschaftlichem Maßstab zum ersten Mal, was es bedeuten täte, die Arbeitszeit radikal zu kürzen. Wenn sie mit 65 in Rente gehen, stehen die Menschen vor 15 Jahren freier, sozusagen nackter Lebenszeit. Was tun damit? Nochmals ein Fernfachhochschulstudium als Mikroelektronikerin beginnen? Ganz einfach ist das nicht, im Gegensatz zu leichtgewichtigeren Disziplinen wie zum Beispiel die Geschichte der Schmetterlingsforschung seit ihren Anfängen in Coventry im Jahr 1764. Gottseidank helfen einem verschiedene Drogen, namentlich der Alkohol, über solche Probleme hinweg, und zur Not greifen auch die historischen Vorsorgemodelle, nämlich die Familie, indem so ne Großeltern gesuchte und geschätzte Aushilfs-Kinderhütedienste leisten. Gehäuft treten auch Fälle von Reiselust auf, gerne auch in Gruppen in Bussen oder auf Kreuzfahrtschiffen; im Hinblick auf die generelle Reduktion der Arbeitszeit von 40 auf 10 Stunden pro Woche eröffnen solche Dinge allerdings noch nicht die richtigen Perspektiven im gesellschaftlichen Rahmen, aber für die Pensionierung scheint das alles vorderhand mal auszureichen. Jedenfalls hat die Anzahl jener Menschen deutlich abgenommen, welche in den Monaten vor oder nach der Pensionierung einfach dahin gestorben sind, weil sie sich den Anforderungen eines unstrukturierten Lebensabends oder gar der ständigen Zweisamkeit mit dem Lebenspartner oder auch im Gegenteil einer sich anbahnenden vollkommenen Einsamkeit ohne die Kolleginnen und Kollegen aus dem Betrieb nicht gewachsen fühlten. Heute wird man auf die Rente ja sogar schon in Kursen vorbereitet, ganz abgesehen davon, dass in einigen Berufen schon früh verschiedene Formen von zusätzlicher Freizeit in der Form von Kursen und Krankheiten in die Arbeits-Lebenszeit eindringen.

Ein anderes Problem sind dagegen die hängigen Krankheitsbeschwerden im Alter. Einerseits erzielt die Medizin gerade hier ihre größten Fortschritte, was zu einer tendenziell zunehmenden Alterszeit ohne weitere Beeinträchtigungen führt. Anderseits ist es eine empirisch erhärtete Tatsache, dass der Mensch im Alter nicht jünger wird. Man verliert an körperlicher und oft auch an geistiger Potenz. Im Lauf der Zeit winkt somit jene Grauzone zwischen aktiver Lebenszeit und dem Ableben, in welcher sehr viele Leute Pflege benötigen, und zwar in der Regel Pflege in einem Heim. Davon lebt einerseits unterdessen ein ganzer, und zwar einer der gesündesten Sektoren der Volkswirtschaft; anderseits sieht man hier auch sehr viel individuelles Elend, vor allem die unendliche Trauer darüber, dass dies nun definitiv alles gewesen sein soll mit diesem einen Leben, das einem zur Verfügung gestanden hat. Sehr wenig ermunternd ist daneben der Anblick von Menschen, welche ihrer geistigen Kräfte radikal verlustig gegangen sind und nun, egal ob sediert oder nicht, in irgendwelchen Zimmern dem Tod entgegen dämmern.

Am meisten zu reden gibt aber die Finanzierung. Abgesehen von den Pflege- und Krankheitskosten, welche wie gesagt unterdessen einen eigenen Industriezweig bilden mit exzellenten Wachstums­raten und enormen Investitionen in Forschung und Entwicklung, was in der Regel zu weiten Teilen von der öffentlichen Hand getragen wird, weil die einzelnen Menschen gar nicht in der Lage wären, die anfallenden Kosten im Alter auch nur annähernd selbständig zu tratgen; abgesehen davon also geht es zur Hauptsache um die Frage der Altersrenten, welche in verschiedenen Facetten aufscheint, zum Beispiel in der Diskussion über das Rentenalter, aber auch in den Diskussionen über das Verhältnis zwischen allgemeiner und privater Altersvorsorge.

In der Regel werden Altersrenten finanziert durch Lohnbeiträge, an gewissen Orten auch durch Steuern, wobei die Steuern letztlich auch nichts weiter sind als Lohnabzüge. Es besteht hier ein bestimmtes Verhältnis zwischen aktiven Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zum einen, Rentenbezügerinnen zum anderen, das die Höhe der Beiträge beziehungsweise der Renten definiert. Das heißt also, wenn die Menschen im Durchschnitt älter werden, beziehen sie länger Rente, und wenn sie nicht länger arbeiten, muss tendenziell der Lohnabzug steigen, auf jeden Fall, wenn die Arbeitnehmenden im Druchschnitt gleich viel verdienen, was nicht gesagt ist. Eine klassische Form der Rentenfinanzierung mit Lohnbeiträgen ist dabei die Anhäufung von Pensionskapital in entsprechenden Pensionskassen, wobei dann das angesparte Kapital beim Altersrücktritt die entsprechende Rente ergibt. Grundsätzlich sollte es dabei nicht darauf ankommen, ob man Kapital bildet oder ob man die Beiträge direkt als Renten auszahlt. In letzter Zeit sind aber die Pensionskassen ziemlich ins Schwitzen gekommen, weil ihre versicherungsmathematischen Berechnungen nicht mehr funktionieren, seit es keine Kapitalverzinsung mehr gibt. Die meisten Gelder liegen ja zwar nicht auf Bankkonten, sondern stecken in Immobilien oder in Wertschriften und Obligationen und manchmal sogar in Derivaten; trotzdem wird das weltweite Wehklagen von dieser Seite her immer lauter.

Wenn es im Kern auch weniger darum geht, dass die Pensionskassen Mühe haben mit der Anlagerendite, so haben doch sowohl die Kassen als die Staaten und Gesellschaften insgesamt ein immer stärkeres Problem mit der Symmetrie zwischen Löhnen, Gewinnen und Renten. Vom Stand der Produktivkräfte her müssten hier eigentlich keine Hindernisse bestehen; vielmehr bietet die steigende Lebenserwartung eine geradezu willkommene Möglichkeit, den Konsum zu stärken im Verhältnis zur Produktion; es handelt sich um eine relative Senkung der Lebensarbeitszeit, die wir uns als ein Minimum gönnen, wo offenbar die Senkung der absoluten Arbeitszeit im Betrieb ein Tabu ist aus Gründen, welche sich jeglichem ökonomischen und logischen Verstand entziehen. Aber insgesamt wird der Bereich der Altersrenten immer stärker ein Bestandteil des ganzen Verteilungsspiels, das wir früher unter den Spielregeln des Kapitalismus kannten und das heute irgendwelchen Gesetzen gehorcht, welche selbstverständlich noch immer wie ein Echo des Kapitalismus klingen, aber zunehmend eine immer komplexere Kräfte-Geometrie widerspiegeln.

In Italien ist die nationale Rentenkasse, das Istituto Nazionale della Previdenza Sociale dabei, seine Mitglieder darüber aufzuklären, mit welcher Rente sie rechnen können. Eine Million Erwerbstätige wurden bereits brieflich informiert, weitere sechs sollen in den nächsten Monaten folgen. 6 Millionen italienische Arbeitnehmer haben sich online kundig gemacht auf der Webseite des INPS; der Rest soll in nächster Zeit folgen, insgesamt also 23 Millionen, einschliesslich prekär und vorübergehend Beschäftigte. Der «Espresso» nennt drei Beispiele, welche einen Blick über die Grenze hinweg erlauben: Eine 29-jährige Arbeitnehmerin, welche seit 4 Jahren angestellt ist und gegenwärtig 12'000 Euro brutto verdient, kann voraussichtlich in 41 Jahren in Pension gehen, also mit 70 Jahren, und wird dann 12'000 Euro Rente erhalten; eine 45-Jährige, die seit 20 Jahren arbeitet und auf 22'835 Euro brutto kommt im Jahr, arbeitet noch rund 21 Jahre, also bis sie 66 Jahre alt ist, und kann dann mit 17'650 Euro rechnen; und eine 55-Jährige, die seit 30 Jahren zur Volkswirtschaft beiträgt bei einem Jahreslohn von 27'348 Euro brutto, wird in 12 Jahren und drei Monaten pensioniert und erhält eine Rente von 23'053 Euro brutto im Jahr.

Bei diesen eigenartigen Zahlen handelt es sich um Durchschnittswerte; sie resultieren aus verschiedenen Berechnungsparametern, wie immer, unter anderem geht es um die Frage, ob die Altersrenten ebenfalls der Einkommenssteuer unterliegen und so weiter und so fort. Solche Systeme und Rechnungen werden gegenwärtig in sämtlichen Ländern der entwickelten Welt diskutiert. In Italien ist eine Spezialität, dass man heute nicht mehr einfach mit Staatsmitteln allfällige Löcher in einer Rentenbiografie stopfen kann, wie man das früher zu tun pflegte; heute hat Brüssel ein Auge auf das Staatsdefizit, und so prüft man zum Beispiel, ob man Menschen mit einem zu geringen buchhalterischen Renten-Beitragswert einen Renten-Kredit gewähren soll, welchen sie dann in den ersten 20 Jahren ihrer Rentenbezüge durch Rentenkürzungen zurückzahlen. Und so weiter, und so fort.

Die Rentenfrage ist eines der aktuellsten Themen in der Ersten Welt, und es werden in allen Ländern separate Lösungen erarbeitet, nämlich und selbstverständlich immer wieder individuell angepasste Lösungen. Trotz Computerunterstützung fordern solche Systeme mit Einzel­berech­nungen ein Maximum an Komplikationen, da sämtlichen Eigenheiten der Rentnerinnen und ihres beruflichen Vorlebens Rechnung getragen werden muss. Wie überall sonst gilt auch hier, dass so etwas ein völliger Unsinn ist, und es gilt ebenso: Wenn die Europäische Union irgendeines Tages mal etwas Vernünftiges tun will, dann wird es die Vereinheitlichung der Rentensysteme sein. Man kann die Zahlen dann immer noch an den Lebensstandard in den einzelnen Mitgliedländern knüpfen, aber das System als solches sollte das selbe bleiben. Nun liegt es an euch, geschätzte Hörerinnen und Hörer, die ihr in einem EU-Mitgliedland wohnt, eure Vertreterinnen und Vertreter in Brüssel mal anzufragen, ob sie schon mal irgendeinen Schritt in diese Richtung getan haben und wenn nein, warum nicht. Und lasst euch bloß nicht abspeisen von Antworten wie, die Fraktion habe sich dagegen ausgesprochen.

Kommentare
13.09.2016 / 18:31 Jürgen, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
gespielt in Sonar am 13.9.16
Danke