"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Das Atali-Programm

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Den «Espresso» gibt es auch in Frankreich, mindestens dem Namen nach, nämlich «L’Express», aber im Gegensatz zum italienischen Magazin dient die französische Publikation nicht dem, was wir unter Journalismus verstehen, also der Zusammen- und Bereitstellung von Informationen mit begleitenden Gewichtungsversuchen, sondern seit eh und je und ausschließlich der Hof­bericht­er­stat­tung der französischen Polit- und Wirtschaftselite für ein bildungsbürgerliches Publikum, das gelernt hat, dass es von den PolitikerInnen und Regierungen der Linken keine Angst zu haben braucht.
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10:52 min, 20 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 05.04.2016 / 13:58

Dateizugriffe: 611

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 05.04.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die Analysen sind dünn und stets staatstragend, und noch nicht mal der Klatsch über ein paar Personen des öffentlichen Lebens hat richtig Sex-Appeal. Die Ausgabe vom 30. März bringt einen Immobilien-Sonderbeitrag, welcher einerseits von einem Rückgang der Mietpreise berichtet, der bereits im Jahr 2006 begonnen habe und sich 2015 und anfangs 2016 zugespitzt habe mit einem Rückgang um durchschnittlich 3.3% allein in Paris gegenüber dem Jahr 2014. Dem gegenüber stehen steigende Immobilienpreise, vor allem im Zentrum der Hauptstadt, was unter anderem auf eine Zunahme des Kaufinteresses von Seiten ausländischer Interessenten zurückgeführt wird; insgesamt also zeichnen sich in diesem Jahr fröhliche Zeiten für den Immobilienmarkt ab. Wir lesen in der selben Ausgabe einen Bericht darüber, wie sich der Front National unter der Marine Le Pen darum bemüht, sein antisemitisches Image loszuwerden, was angesichts der aktuellen anti­mos­le­mi­schen Stimmung und auch der Kräfteverschiebung nach rechts in Israel nicht besonders überrascht. Das Herzstück dieser Ausgabe bilden aber rund 150 Vorschläge zur Modernisierung Frankreichs, welche von einem Team rund um Jacques Attali zusammengestellt wurden. Jacques Attali war lange Jahre Berater von François Mitterrand und wurde von diesem dafür mit dem Posten des Präsidenten der neu geschaffenen Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung entlohnt, wobei er 1993 wegen eines Finanzskandals zum Rücktritt gezwungen wurde, und vor allem ist er sozusagen der Chef­kom­men­tator des Express. Werfen wir aber einen Blick in diese Vorschläge.

Gruppiert werden sie in zwanzig Kapitel: Institutionen, Außenpolitik, Verteidigung, Kultur, Sicherheit, Integration, Justiz, Unternehmensbereich, Beschäftigung, Informatik, Bildung, Höhere Bildung und Forschung, Gesundheit, Renten, Gemeinden und Kantone, Landwirtschaft, Wohnungsbau, Übersee-Provinzen und Öffentlicher Dienst. Zu verschiedenen Dingen kann ich mich nicht wirklich äußern, weil mir die Kenntnisse der spezifisch französischen Organisationen mangeln, namentlich im Bereich Institutionen, Steuerrecht, Gemeinden und Kantone sowie bezüglich der Justiz-Organisation, wo vierzehn Änderungswünsche angebracht werden. Dagegen finden sich einige Punkte, welche für unsereins doch recht interessant tönen. Dies gilt natürlich vor allem für die Armee bzw. für die Verteidigung, wo Attali einen Etat von mindestens 2% des Brutto­inland­produktes fordert, was ungefähr 60 Mia. Euro entspricht im Vergleich zu den 33 Mia. Euro für Deutschland. Das International Institute for Strategic Studies weist für Deutschland allerdings etwas mehr aus, nämlich 38 Milliarden Euro, während Frankreich gegenwärtig rund 47 Milliarden in die Armee investiere. Da müsste also laut Attali noch ganz schön was dazu kommen. Gleichzeitig will Attali eine 100'000 Mann und Frau starke Nationalgarde auf die Beine stellen, aus welcher bei Dienstzeiten von einem bis drei Monaten dauernd 10'000 Personen im Einsatz stehen.

Außenpolitisch schlägt Attali vor, die G7- bzw. G8-Gipfel durch ein ständiges G12 zu ersetzen, welches neben den G8-Staaten auch die BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika umfasst. Ein internationaler Umweltgerichtshof soll eingesetzt werden, und wirklich originell erscheint mir das Projekt eines Eurozonen-Parlamentes mit eigenem Budget und eigener Regierung. Wohl nicht ganz ernst ist es ihm mit der Einführung von Mindeststandards für die soziale Sicherung für ebendiese Eurozone.

Die Kultur darf in solch einer Programm-Ansammlung natürlich nicht fehlen mit sehr feinen Verbesserungen, nämlich die Öffnung der Institutionen am Abend, und vor allem soll der oder die Ministerin für Kultur protokollarisch in die obersten Ränge erhöht werden. Dass man nicht nur in den frankophonen, sondern generell in den frankophilen Ländern Kinos finanzieren soll, welche französische Filme zeigen, versteht sich von selber.

Zur Sicherheit lautet der wichtigste Vorschlag zweifellos die Neubenennung des Innenministeriums in Ministerium für innere Sicherheit. Die übrigen Kreationen erwähne ich hier nicht, weil ich die Lage zuwenig kenne, bis auf eine: Attali fordert die Legalisierung von Cannabis, weil nämlich Legalisierung nicht die Förderung des Konsums bedeute, sondern seine Kontrolle.

Zur Integration fallen einige Gedanken ab wie die Abschaffung von religiös begründeten öffentlichen Feiertagen wie Ostern, Pfingsten, Auffahrt, Allerheiligen und so weiter; sie sollen auf individueller Basis und je nach der persönlichen Religion gewählt werden können. Sodann darf in allen Kirchen, Moscheen usw. usf. nur noch in französischer Sprache gefeiert und gepredigt werden.

Im Bereich Unternehmen sollen zunächst ausländische Talente angelockt werden, z.B. durch die automatische Erteilung einer Arbeitserlaubnis für alle, welche einen Arbeitsvertrag mit einem Lohn von mehr als 2.5 Mal dem Mindestlohn von aktuell ungefähr 1500 Euro vorweisen können. US-Regelungen im Bereich Urheberrecht und Gläubigerschutz können übernommen werden, Startups gehören gefördert usw.

Beim Steuerrecht sticht doch noch die Idee heraus, die Steuerrechnung nach Budgetposten auf­zu­gliedern, also z.B. die Anteile fürs Bildungswesen, für die Verteidigung, für die Altersrenten usw. usf. auszuweisen. Das wird sicher die Steuermoral verbessern. Auch der Ansatz, die Sozialabgaben und die direkten Steuern zu senken und dafür die Mehrwertsteuer um 2 Prozent­punkte zu erhöhen, ist bemerkenswert, aus verschiedenen Gründen, unter anderem deswegen, weil solche Sachen, wenn beschlossen, in der Regel zwar ausgeführt werden, nämlich die Mehrwertsteuer um 2 Prozent erhöht, während der zweite Teil, die Senkung von direkten Steuern und Sozialabgaben, dann aus verschiedenen aktuellen Gründen vergessen oder verloren gehen.

In Sachen Beschäftigung sprechen Attali und sein Team vor allem von der Flexibilisierung, also hauptsächlich von der Anhebung der Arbeitszeit, damit Frankreich in Sachen Jahresarbeitszeit nicht mehr auf dem zweitletzten Rang steht vor Finnland mit seinen 1661 Stunden im Vergleich zu den 1850 Stunden in Deutschland oder den 1900 Stunden in Großbritannien. Sodann sollen die Gewerkschaftsbeiträge für alle obligatorisch werden und die staatlichen Beiträge an die Gewerkschaften proportional zur Anzahl ihrer Mitglieder ausgerichtet werden.

Im Bereich Informatik wird die Einführung von Kursen bereits in den Primarschulen angeregt, in der Bildung soll die Autonomie der Schulen gefördert werden, unter anderem durch die Schaffung eines Vizedirektors, der für die Disziplin in der Schule zuständig ist. Im Bereich der höheren Bildung sticht neben dem Vorschlag der Rückzahlung von Studiendarlehen für Absolventen mit gut bezahlten Jobs der Ansatz ins Auge, die Studiengebühren für AusländerInnen zu erhöhen, weil die Zweifel an der Qualität der Ausbildung hegen könnten, wenn die zu billig erscheint. Im Gesundheitswesen liegt der Schwerpunkt bei der Zentralisierung der Spitalpflege, und dann sollen die Langzeit-Invalidenrenten gestrichen werden, wenn beim Patienten eine dauerhafte Genesung eintritt. 2 Milliarden Euro lassen sich sodann offenbar einsparen durch die Übertragung der Beamten-Krankenversicherung an die öffentliche Krankenversicherung. Vor allem aber werden die Schulkantinen verpflichtet, ein vegetarisches Menu anzubieten.

Das Pensionsalter wird auf 63 Jahre angehoben, wobei der Altersrücktritt mehr oder weniger frei wählbar wird. Arbeitslose können schon früher in Rente gehen. Die Rente wird berechnet auf der Grundlage der 25 Arbeitsjahre mit den höchsten Einkommen. In der Landwirtschaft sodann werden Umweltaspekte stärker gewichtet, Biodiversität ist ein Stichwort ebenso wie Wassersparen. Im Wohnungsbau werden neu Präfekten für diesen Bereich ernannt, neben verschiedenen Anreizen zur Erstellung neuer Wohnungen, wobei das soweit gehen kann, dass Besitzer von Baulandreserven expropriiert werden können, wenn sie nicht selber bauen. Die Übersee-Provinzen sodann werden direkt dem Premierminister unterstellt, und die Versorgung mit Treibstoffen und Heizöl wird liberalisiert. Sodann darf das Kernland nicht mehr Héxagone genannt werden, sondern «France métropolitaine» wegen des möglichen Bezugs zur kolonialen Vergangenheit. Weiter soll der Französischunterricht gefördert werden; im Departement Mayotte in der Nähe von Madagaskar zum Beispiel sprechen offenbar nur gerade 60% der Bevölkerung Französisch. Und das Nationale Waldwirtschaftsamt soll ganz nach Französisch-Guyana verlegt werden, weil dort nämlich ein Drittel der gesamten Waldbestände Frankreichs wüchsen.

Soviel hierzu, und wenn ich die ganze Attali-Liste auch nicht für besonders spektakulär halte, so gibt sie doch einen recht guten Einblick in das aktuelle Problemempfinden, wie gesagt: des bildungsbürgerlichen Publikums in Frankreich. Dass anhand dieses Programms Frankreich geradezu neu aufgebaut werden kann, wie der Express auf dem Titel ankündigt, oder dass es sich dabei überhaupt um ein Programm handelt, bezweifle ich dagegen. Umgekehrt weiß ich auch nicht so recht, was ich dem Franzmann und der Franzfrau selber vorzuschlagen hätte, sowenig ich es im Einzelnen für die Deutschfrau und den Deutschmann weiß, und auch die Schweizmänner und -frauen hören ja nicht auf meine Ratschläge. Das hat viel damit zu tun, dass sich die Zeiten, nein, natürlich nicht die Zeiten, sondern die Verhältnisse rasend schnell verändern, vor allem aber damit, dass unsere Gesellschaften einen Komplexitätsgrad erreicht haben, in welchem man sich gegenwärtig eigentlich vor allem vor einem fürchtet: vor einfachen Lösungen. Wie soll man die unterschiedlichen Ansprüche und Interessen über einen einzigen Leisten schlagen? Das geht sowieso nicht, und es ist auch nicht nötig. Nötig ist es dagegen, gewisse Eckpunkte zu definieren, über die man sich dann doch wieder sehr gut unterhalten kann und die im Attali-Programm für Frankreich deutlich fehlen, zum Beispiel jene globale Kapitalsteuer, welche unser französischer Kollege Piketty fordert. Oder ein bedingungsloses Grundeinkommen, ihr wisst schon.