Rassismus eint Europa - Buchrezension: Anders Europäisch von Fatima El-Tayeb (Racism unifies Europe - book review - English skript)

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Europa, das ist jetzt für viele Flüchtlinge der heilbringende Kontinent, der schutzbringende Ort auf der Welt und Deutschland das gelobte Land. Dabei ist Deutschland und ist Europa gar nicht so weltoffen und vielfältig, wie es sich immer gibt. Das meint zumindest die Professorin Fatima El-Tayeb. In ihrem neuen Buch widmet sie sich dem europäischen Rassismus. In ihrer Theorie vom europäischen Rassismus versucht sie alltägliche Diskriminierungen im Alltag zu erklären und systematisch in die europäische Geschichte einzuordnen.


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"Anders Europäisch - Rassismus, Identität und Widerstand im vereinten Europa" von Fatima El-Tayeb ist im Unrast Verlag erschienen und kostet dort 19,80 Euro.

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Audio
06:06 min, 14 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 02.11.2015 / 17:04

Dateizugriffe: 1128

Klassifizierung

Beitragsart: Rezension
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Frauen/Lesben, Schwul, Kultur, Politik/Info
Serie: Widerhall Radio Corax
Entstehung

AutorInnen: Tagesaktuelle Redaktion
Radio: corax, Halle im www
Produktionsdatum: 02.11.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
FOR ENGLISH VERSION SEE BELOW

Skript Rezension Fatima El-Tayeb: Anderes Europa

O-Ton El-Tayeb: "I'm more interested in ways to view all the activism that is going on and that never seems to really fundamentally change anything the way race is debated in Europe. Its something other thats failed. I think it's not. But at the same time I'm a little pessimistic about - I think the racist discourse in Europe has become more savvy in containing attempts about race, not at all in being more open."

Übersetzung: "Ich interessiere mich mehr dafür, wie der Aktivismus funktioniert und nie wirklich etwas daran zu ändern scheint, wie in Europa über Rassismus debattiert wird. Etwas anderes ist gescheitert, nicht der Aktivismus ist gescheitert. Ich bin etwas pessimistisch - Ich denke der Rassismus-Diskurs in Europa ist versiert darin, Erklärungsversuche für Rassismus zu verdrängen; und nicht versiert darin, sich mehr zu öffnen."

Fatima El-Tayeb ist Professorin für Afroamerikanische Literatur und Kultur an der Universität von San Diego in Kalifornien, ist ursprünglich aber in Deutschland aufgewachsen. Bereits 2011 hatte Sie das Buch "Other Europeans" veröffentlicht. Das ist jetzt in deutscher Übersetzung erschienen und heißt "Anders Europäisch - Rassismus, Identität und Widerstand im vereinten Europa".
Dabei greift das Buch ein nach wie vor aktuelles Problem auf: Die Suche nach einer europäischen Identität. Zuletzt wurde 2006 eine große europäische Identitätskrise postuliert, als der Versuch scheiterte, eine Verfassung für Europa in der Europäischen Union zu installieren. Damals hatten das Frankreich und Irland per Referendum abgelehnt. Und auch jetzt, wenn immer mehr Geflüchtete auf dem europäischen Kontinent Schutz suchen, wird die Frage wieder konkret: Was macht zwischen all den Flüchtlingen eigentlich das spezifisch Europäische aus? Die Europäische Union besteht schließlich aus 28 Staaten, wo ist da die Gemeinsamkeit?
El-Tayeb hat darauf ein klare Antwort gefunden, die zugleich die Pointe des ganzen Buches ist: Europa weiß zwar nicht, was die gemeinsame Identität ist, aber es weiß, was es definitiv nicht ist. Es weiß, dass es in Europa keine Minderheiten gibt, dass es nichts anderes gibt als den weißen, christlichen, heterosexuellen und kultivierten Europäer. El-Tayeb nennt dieses Phänomen "Politische Rassenlosigkeit".

Zitat: "Die 'Politische Rassenlosigkeit' [...] schafft eine spezifische Form der Rassifizierung, die als spezifisch europäisch definiert werden kann - sowohl in ihrem erzwungenen Verschweigen als auch in der expliziten Kategorisierung als nicht-europäisch all derer, die gegen Europas implizites, aber normatives Weißsein verstoßen. Das Ergebnis ist das Bild eines hermetisch abgeschlossenen und homogenen Europas, in dem rassifizierte Minderheiten dauerhaft Außenseiter bleiben."

Das ist auch schon der Kern von El-Tayebs Argumentation: Europa ignoriert seine innere Vielfalt weg. Seit Beginn des Einigungsprozesses hin zur Europäischen Union werden nicht-weiße oder nicht-christliche Menschen wegignoriert. Sie scheinen nicht zu Europa zu gehören. Muslima mit Kopftuch oder schwarze Menschen werden auch heute täglich gefragt, wo sie denn herkommen. "Nein, Nein, wo du eigentlich herkommst", heißt die typische Frage. El-Tayeb argumentiert, dass in der europäischen Mehrheitsgesellschaft bestimmte Menschengruppen als nicht-europäisch und damit als nicht zugehörig zur Gesellschaft klassifiziert werden. Und somit wird der schwarze Mann oder die Muslima mit Kopftuch niemals das Gefühl haben, hier dazuzugehören. Obwohl sie einen europäischen Pass haben. Zu diesen Gruppen gehören auch die zweite und dritte Generation der sogenannten Gastarbeiter, die schon immer diskriminierten Roma oder in Zukunft wahrscheinlich die Refugees, die heute in Europa ankommen. Dieses ständige Ausschließen von Menschen aus der europäischen Identität nennt El-Tayeb auch die "Ideologie der Farbenblindheit", im Englischen "ideology of colorblindness".

Zitat: "Diese Ideologie der Farbenblindheit ist keine passive Haltung, sondern ein aktiver Prozess der Verdrängung. In diesem aktiven Prozess des 'Vergessens' werden Ereignisse bedeutungslos gemacht - ohne Bezug und damit ohne Ort im kollektiven Gedächtnis."

Wenn eine nicht-weiße Person vorgibt, tatsächlich eine deutsche Staatsbürgerschaft zu besitzen und hier geboren worden zu sein, dann ist das scheinbar immer völlig neu und überraschend für die weiße europäische Mehrheitsgesellschaft. Wegignoriert werden in Europa auch historische Kontinuitäten wie der Kolonialismus der europäischen Staaten. Oder schlicht die Tatsache, dass es Migranten und Flüchtlinge zu allen Zeiten in Europa gab. Anders gesagt: Die heutige Situation als Flüchtlingskrise zu bezeichnen ist falsch, denn Migration und Flucht waren schon immer ein Normalzustand in Europa.
Dieses rassistischen Widerspruch möchte Fatima El-Tayeb auflösen mit der Strategie des Queerens von Ethnizität, also das durchqueren von Ethnizität. Das meint den alltäglichen kleinen Widerstand im Gespräch. Wenn die kopftuchtragende Muslima gefragt wird, wo sie denn wirklich herkommt, soll sie also antworten, dass sie natürlich einen deutschen Pass habe und dass Deutschland doch so ein tolles islamisches Land sei.
Mit "Anders Europäisch" legt Fatima El-Tayeb ihr zweites Buch vor. Sie schaut dabei aus dem Blick der Queer Studies und der Postcolonial Studies kritisch auf Europas Identitätsbildungsprozess. Auf rund 360 Seiten versucht sie korrekt und ausführlich zu argumentieren. Problematisch ist dabei, dass sie äußerst komplex formuliert. Auch in der deutschen Übersetzung fehlt es dem Text an Kohärenz, an Stimmigkeit. Trotz allem ist das Buch ein wichtiger Beitrag zur linken Debatte um das Projekt Europa: Denn vor allem stellt die Autorin Gruppen von AktivistInnen vor. Aktivisten, die Widerstand leisten gegen ein Europa, dass sich weiß und heterosexuell sein will, und vor allem nicht-migrantisch sein will.

English Skript: Book Review on Fatima El-Tayeb: Other European


El-Tayeb (with german translation overvoice) "I'm more interested in ways to view all the activism that is going on and that never seems to really fundamentally change anything the way race is debated in Europe. Its something other thats failed. I think it's not. But at the same time I'm a little pessimistic about. I think the racist discourse in Europe has become more savvy in containing attempts about race, not in being more open."

Fatima El-Tayeb is Professor for African American Literature and Culture at University of San Diego in California. She was born in Germany. In 2011 her book ”Other European” was published. Now the German translation is available, it's called: “Anders Europäisch - Rassismus, Identität und Widerstand im vereinten Europa” [Other European – Racism, Identity and Resistance in unified Europe]
The book is about an actual problem: The search for a European identity. The last time in 2006 a bug crisis of European identity was postulated, when the attempt failed to install a “constitution for Europe” in the European Union. At that time France and Ireland refused that at a referendum. Now the question is current again, when more and more refugees try to find safety at the European continent. Between all these refugees, what is the typically European? European Union has 28 Member States, so what is the common ground?
El-Tayeb presents a clear answer, and that's the punch line of the whole book: Europe does not know what's the common identity, but it knows what it's definitely not. It knows, that there are no minorities; there is nothing else than the white, heterosexual and cultivated European man. This phenomena El-Tayeb calls “political racelessness”.

Quote: “Political Racelessness […] creates a specific form of racialization that can be defined as specific European – in forced silencing and and in explicit categorization as non-european of all, who offend against the implicit but normative Whiteness of Europe. The result is a hermetically sealed Europe, where racialized minorities stay durable outlaws” [re-translation]

Even this is the core of her argumentation: Europe ignores away it's own diversity. Since the unifying process up to European Union had begun non-white and non-christian people are ignored away. They seem to don't belong to Europe. Today Muslim women wearing a headscarf or black people are asked where they come from. “No, No, where you really come from”, is the typically question. El-Tayeb argues that the European majority society classifies specific groups of people as non-European and not belonging to. Even if they possess a European passport. Part of these groups are the second and third generation of the so-called “guest workers” in Germany, the always discriminated Romanies and possibly in future the refugees arriving today. This on-going exclusion of people from a European identity El-Tayeb calls “ideology of colorblindness”.

Quote: “This ideology of colorblindness is not a passive attitude but an active process of suppression. In this active process of 'suppression' events are made meaningless – without reference and without a place in collective memory.” [re-translation]

If a non-white person pretends to be a German citizen and to be born here, than this seems to be totally new and surprising for the white European majority society. Historical continuities like the colonization of the European states are ignored away, too. Or the fact that there have been migrants and refugees in Europe in all time. Said in an other way: To call the today's situation a “refugee crisis” is just wrong, because migration and flight have been a normal state in Europe in all time.
This racist contradiction Fatima El-Tayeb is going to dissolve with the strategy of Queering Ethnicity. This means the every-day resistance in conversations. If the Muslim woman wearing a headscraf is asked where she is really from, then she should say that she possesses a German passport of course, and that Germany is such a nice Islamic state.
With her book “Other European” Fatima El-Tayeb publishes her second book about the European race problem. Her approach is inspired by Queer Studies and Post-colonial Studies and this way she looks critical on the European identity formation process. On 360 pages she attempts to argue correctly and extensively. Problematic are most formulations because they are very complex. The German translation is lacking coherence. In spite of everything, this book is an important contribution to the left-wing debate about the project Europe. Just because the author presents groups of political activists. Activists, who offer resistance against a Europe, that identifies itself as white, heterosexual and above all as non-migrant.

Kommentare
03.11.2015 / 16:48 Kurt, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
Gesendet im DiSonar
Danke fürs produzieren!
 
14.11.2015 / 08:11 AL, coloRadio, Dresden
wird
heute gesendet. Danke.