"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Flüchtlinge erneut -

ID 72092
 
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Ein Kollege, der seine Ferien seit Jahren regelmäßig in Griechenland verbringt, hat mir erzählt, dass er bei seinem Besuch in diesem Jahr keine großen Veränderungen festgestellt hätte in jenem Küstendorf auf dem Peloponnes, wo er jeweils eine Wohnung mietet, und dann sprach er noch von verschiedenen Projekten, welche dank EU-Fördergeldern munter weiter betrieben würden, er vermittelte mit anderen Worten eine Ahnung davon, dass hinter den unterschiedlichen öffentlichen Bildern und Darstellungen der griechischen Misere noch eine weitere Ebene existiert, jenseits von Strukturen, Schulden und Grundbuch, sozusagen das pralle Leben, das man mindestens auf dem Land oder eben in bestimmten Lebensgehegen munter weiter führt und wo man sich um die Modernisierung der griechischen Gesellschaft keinen Deut kümmert.
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10:33 min, 12 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 18.08.2015 / 14:47

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Umwelt, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 18.08.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Das stimmt augenfällig mit meiner höchstpersönlichen Lebenserfahrung überein: Ich kümmere mich im Alltag ebenfalls keinen Deut um die Modernisierung der schweizerischen Gesellschaft, und meine individuellen Beiträge zum Wohlergehen unserer Nation erscheinen mir oft recht fragwürdig. Insofern erscheine ich mir selber als wahrer Grieche, und ich lebe gut dabei. Was mich nicht abhält davon, das griechische Staatstheater mit längst nicht mehr skeptischen, sondern nur noch scheelen Blicken zu bedenken. Nach einem großartigen und großmauligen ersten Auftritt anlässlich des Wahlsieges zu Beginn des Jahres hat sich die Linkspartei Syriza im Alltag des Regierens als ebenso fähig oder meinetwegen unfähig erwiesen wie alle anderen Regierungen auch, wobei die abschließende Volte doch eine spezielle Erwähnung verdient: Eine Woche, nachdem die griechischen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger in einer Volksabstimmung die Anti-Austeritätspolitik von Tsipras mit ebenso deut­li­cher wie überraschender Mehrheit gutgeheißen hatte, vollzog Mister Minister Tsipras eine kom­plette Kehrtwendung gegen das Abstimmungsergebnis, und seither wird wieder verhandelt und gefeilscht, die Schäubles aller Länder strahlen wie Tschernobyl und Fukushima zusammen, und die Geschichte mit Kredit und Verschuldung ist damit wohl in den Rang einer physikalischen Kon­stan­te erhoben worden. Damit drängt sich eine Weiterführung der nicht mehr besonders neuen Einsicht, wonach die Philosophie eben durch die Physik abgelöst worden sei auf, und zwar in dem Sinne, dass die PhysikerInnen nicht mehr in erster Linie nach außerirdischer Intelligenz forschen sollen, sondern nach Vorkommen von Intelligenz auf der Erde, zum Einen, und zum zweiten sollen sie ihre Forschungstätigkeiten im Bereich von Black Matters, was durchaus nicht bedeutet, dass die Anliegen der Schwarzen von Bedeutung sind, sondern im Bereich der Dunklen Materie endlich einmal ausdehnen auf den Bereich der Kredit- und Schuldenwirtschaft – hier liegen weite Felder unerforscht im Dunkeln, und vielleicht bringt die Quanten- oder Quark-Physik endlich mal ein bisschen Licht in die Sache, nachdem es den Ökonomen bisher nur gelungen ist, die Sache insgesamt noch viel unverständlicher zu machen.

Es gibt Leute, die behaupten, dass die Entstehung der modernen Gesellschaft und des modernen Staates untrennbar mit der Entstehung von Schulden und Verschuldung derselben verbunden sei, und insofern steht uns Griechenland plötzlich als supermodernste Variante eines modernen Staates gegenüber – aber das ist denn sogar mir zuviel des Guten.

Immerhin kann man zwischendurch mal bilanzieren, dass die Syriza es nicht geschafft hat, die Neugestaltung des Landes unter an und für sich günstigen Bedingungen für eine komplette, wo nicht sogar revolutionäre Neugestaltung vorzunehmen; stattdessen hat sie nicht mal die einfachsten Auf­ga­ben wie z.B. die Einführung eines Grundbuches an die Hand genommen und dafür versucht, jene Staats­beamten wieder einzustellen, welche die Vorgängerregierung mühsam aus ihren nutzlosen Büros verdrängt hatte. Das wirft unglücklicherweise ein Licht auch auf den Rest der vermeintlich radikalen Linken in Europa, zum Beispiel jene in Italien, die bei den vor­letz­ten Wahlen in Italien mit einer Liste Tsipras oder Syriza angetreten ist und natürlich keinerlei Erfolge erzielte; es stellt aber auch Bewegungen wie Podemos in Frage, welche ihren Praxistest allerdings noch nicht bestanden hat, der aber ein ähnliches Schicksal zu drohen scheint wie der Piratenpartei; und schließlich strahlt die Skepsis gegenüber all dem, was sich als linkes Programm ausgibt, auch noch auf so gestandene Parteien ab wie die Linke in Deutschland, welche auf Biegen und Brechen versucht, der irre vagabundierenden vermeintlichen Schwester in Griechenland die Stange zu halten. Lass fahren dahin, es hat doch kein’ Sinn. Ein revolutionäres linkes Programm für Europa gibt es nicht, Punkt, Schluss. Und das ist schade, eben gerade angesichts von Fragen wie der Staatsverschuldung, welche die gesamte politische Debatte zu lähmen scheint, denn sie betrifft ja nicht nur Griechenland, sondern in Deutschland zum Beispiel auch die Städte und Kommunen. Die Verschuldung wird mit dafür verantwortlich gemacht, dass viele notwendige Infrastrukturarbeiten nicht erledigt werden, weil das Geld dafür fehlt, weil sich der Staat eben in den letzten fuffzich Jahren und am gründlichsten nach der Finanzkrise so tüchtig verschuldet hat. Oder eben, um darauf zurückzukommen: sich radikal modernisiert hat.

Im Moment sieht es allerdings so aus, als hätten wir intellektuell und mental sowieso eher an der Flüchtlingsfrage zu beißen als an jener der Staatsverschuldung. Das hängt weniger mit den effektiven Flüchtlingszahlen zusammen. Die sind im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung Europas nach wie vor klein; egal, ob es sich um 200'000 oder 500'000 Menschen handelt, es ist kein halbes Prozent, das verkraften die Staaten bei all ihrer Powerverschuldung. Das konkrete Problem liegt auf der politischen Ebene, wo sich Europa einfach nicht zu jenen Maßnahmen entschließen kann, die auf der Hand liegen, nämlich eine halbwegs vernünftige Verteilung gemäß Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft; vor allem aber liegt es in der Selbstverständlichkeit, mit welcher die Flüchtlinge auf den Kontinent drängen, und diese Selbstverständlichkeit entsteht aus der großhumanitären Argumentation zartfühlender Seelen. Die großhumanitäre Argumentation lässt zunächst mal die Frage nach dem Migrations- oder Immigrationsrecht beiseite, also die Frage, ob, weshalb und weshalb nicht es einen Rechtsanspruch auf Einreise gebe; sie beschäftigt sich nur mit den übergeordneten Fragen der Menschenrechte und dort in erster Linie mit der Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge. Nun entspricht es zweifellos dem europäischen Rechtsverständnis, dass man diesen Menschen eine anständige Behandlung angedeihen lässt, aber die Asyl-Verfahrensrechte, multipliziert mal die Ausstattung mit den Dingen des Grundbedarfs ergeben in der Praxis eine vorläufige Aufnahme, welche eben wiederum so etwas wie einen Rechtsanspruch auf Einreise etabliert. Vor allem in den Herkunftsländern verfestigt sich dieser Eindruck. Dort ist das Rechtssystem in der Regel archaisch oder ineffizient, wenn es sich nicht sowieso um Gebiete im Kriegszustand handelt, wo die peinliche Einhaltung von Rechtsgrundsätzen sowieso besonders exotisch erscheinen muss. Aus dieser Diskrepanz entsteht ein Flimmern, das in den Herkunfts­ländern zweifellos die Nachfrage ansteigen lässt und bei uns selber den Eindruck von Unsicherheit schafft: Gilt die Personenfreizügigkeit plötzlich nicht mehr nur innerhalb der EU, sondern unter dem Titel des Asyl-, nicht -rechtes, sondern -antrages weltweit? Im Rahmen der großhumanitären Argumentation entsteht ein hypothetisches Aufenthaltsrecht in Europa für zirka drei Milliarden Menschen. Diesen Ansturm werden wir zwar in der Praxis nie erleben, aber dass diese Argu­men­tation beziehungsweise die Lücken darin in den europäischen Ländern für Aufregung sorgt, versteht sich von selber.

Die großhumanitäre Argumentation ist nicht neu, und ich habe sie schon immer für scheps gehalten. Dagegen scheint es mir ganz elementar, dass man sich gegenüber jenen Menschen, die dann per Saldo doch einmal hier sind, anständig verhält und dass man sich auch überlegt, was in dieser Situation möglich und vernünftig und auch moralisch vertretbar ist. Wirtschaftlich und finanziell stellen die Flüchtlinge niemanden vor Probleme; diese liegen bei der Integration, was ebenfalls schon länger erkannt wurde, und die Integration erfolgt unter den bekannten Mechanismen meines Wissens am einfachsten über Arbeit. Das Modell der bezahlten Arbeit bildet erstens einen zentralen Auslöser für die Migrationsströme; zweitens aber bietet die Arbeit in einer völlig fremden Umge­bung eine Lebensstruktur, und wenn man dafür auch noch etwas Knete erhält, dann scheint die Sonne doppelt so hell. Daneben sind Arbeitsplätze in aller Regel auch soziale Begegnungsstätten, man kommuniziert im Arbeitsprozess zwangsläufig, und dies legt eine Basis für die weitere Kom­mu­nikation, ganz abgesehen davon, dass hier auch ganz elementare persönliche Begegnungen stattfinden, die es sonst kaum gibt.

Solche Überlegungen laufen zum Teil den Bemühungen um Vorschläge für die postindustrielle Gesellschaft, also eine Gesellschaft jenseits der bezahlten Arbeit entgegen, aber wenn halt derart unterschiedliche Kulturen aufeinander prallen, kann so was durchaus mal vorkommen. Und wenn man dagegen halten will, dass wir selber gar nicht ausreichend Arbeit für die hier lebenden Arbeitskräfte hätten, zumal für die nicht oder wenig qualifizierten, dann kann man doch anfügen, dass Arbeit an und für sich in Hülle und Fülle vorhanden wäre, und zwar auch einfache Arbeit, gerade in jenem Bereich, den ich vorher angesprochen habe, bei den Infrastrukturen, wo angeblich das Geld fehlt. Dann bildet man halt einen Teil der Migranten im Trassen- und Straßenbau aus oder errichtet jene Werke, die ich immer wieder anrege, für Erfurt habe ich schon vor Jahren den Bau einer Mauer im Norden der Stadt vorgeschlagen, eine Mauer mit Infrastrukturen, Studios, Vergnügungspark und so weiter. Wenn da plötzlich ein paar hundert Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, könnte man mit denen doch mal ein Fundament legen oder mindestens vorsorglich einen Mauergraben ausheben. Wo ist das Problem?

Und schließlich wird man sich intellektuell und mental daran gewöhnen müssen, dass es sich bei der Flüchtlingsbewegung eben nicht in der Substanz um eine großhumanitäre Angelegenheit, sondern um eine hundskommune Wanderbewegung handelt, wie sie in der Geschichte nun mal vorkommen. Die Menschen suchen ihr Glück dort, wo sie es zu finden hoffen, das ist normal, und mit den Grassroot-Ansätzen der westlichen Entwicklungszusammenarbeit wird es wohl noch einige hundert Jahre dauern, bis man den ersten Computer zum Einsatz bringt, das wissen die Leute ganz genau. Von den Regierungen und von der gesellschaftlichen Organisationsform sind ebenfalls keine absehbaren Entwicklungen zu erwarten, damit bleibt die Emigration der direkteste Weg in die Moderne. In eine Moderne, die nun halt eben eine der maximalen Verschuldung ist. Aber das ist wieder ein anderes Kapitel.