"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Das Wildschwein in Bayern -

ID 70060
 
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Ich weiß nicht, ob euch diese Meldung aus dem alten Konkurrenten unter allen Freistaaten, nämlich aus Bayern wirklich beglückt, aber die Süddeutsche Zeitung meldet auf ihrer Webseite per 17. April jedenfalls, dass Bayerns Wildschweine stärker verstrahlt seien als bisher angenommen. Sie liege um mehr als das Sechzehnfache über dem zulässigen Grenzwert.
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11:39 min, 13 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 21.04.2015 / 09:46

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Umwelt, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 21.04.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Für Liebhaberinnen von Wildfleisch ist dies eine traurige Nachricht. Mich nähme nun wunder, wie es sich mit den Artgenossen im Grenzgebiet verhält, also im Thüringer Wald. Hält sich die radioaktive Strahlung ausnahmsweise an die Grenzen der Bundesländer? Oder verzehrt ihr ganz einfach kein Wildschwein, geschätzte Thüringerinnen und Thüringer? Wenn ich jetzt laut und deutlich sage: Wildschwein-Bratwurst, da steht euch doch gleich das Hochwasser im Mund, stimmt’s? – Und dann das: Bei 140 geschossenen Tieren lagen die vom Bayerischen Jagdverband im Jahr 2013 gemessenen Werte bei über 10'000 Becquerel anstelle der zulässigen 600 pro Kilo.

Die Süddeutsche stellt ungefragt einen Zusammenhang her mit dem Atomunfall von Tschernobyl im Jahr 1986, was wiederum mich ein wenig erstaunt; denn dass diese Hunds-Atom- oder Uran-Ware ein paar tausend Jahre lang strahlt, ist mir wohl bekannt, aber dass auch der Fallout beziehungsweise der radioaktive Niederschlag derart hartnäckig radioaktiv bleibt, wusste ich nicht. Die Wikipedia nennt Cäsium und Strontium als wichtigste Strahlungsquellen des Fallouts und gibt ihre Halbwertszeit mit 30 bzw. 28 Jahren an; der Bayerische Jagdverband spricht ausschließlich vom Cäsium. Laut Wikipedia wurde direkt nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl in Neuherberg bei München eine Strahlenbelastung von 19'000 Becquerel pro Quadratmeter gemessen. Die 10'000 Becquerel der Messung aus dem Jahr 2013, also 25 Jahre später, scheinen bei einer Halbwertszeit von 30 Jahren somit von der Größenordnung her einigermaßen plausibel, wobei ich doch auch noch gerne wüsste, wie die Strahlenbelastung vom Quadratmeter Boden ins Kilo Fleisch gelangt. Das tönt für mich nach Kindergartenarithmetik.

Ich bin in Sachen Klimaerwärmung und Nuklearkatastrophen etwas sensibel, wie ihr vielleicht schon gemerkt hat, und zwar in erster Linie deshalb, weil diese Probleme derart offensichtlich zutage liegen, dass auch gestandene Journalistinnen aus purem Engagement und guter Absicht darüber schreiben und Betroffenheit produzieren und dabei die Suche nach objektiven Angaben nicht mehr für nötig halten, eben weil es so offensichtlich zutage liegt. Und so machte ich mich halt auf der Webseite des Bayerischen Jagdvereins meinerseits auf die Suche nach solchen objektiven Angaben, nämlich nach Datenreihen. Die Damen und Herren Wildschützen betreiben nämlich im Freistaat Bayern ein dichtes Netz an Messstationen; die Informationen liegen also vor, aber sie werden in gut freistaatlicher Manier dann eben doch nicht publiziert, mindestens nicht für mich ersichtlich auf der Webseite. Stattdessen stolpere ich über eine Studie, die sich damit befasst, wie man die Aufnahme von Radioaktivität ins Fleisch von Wildschweinen durch die Abgabe von speziellen Futtermittelzusätzen reduzieren könne, konkret von Berliner Blau oder Ammonium-Eisen-Hexacyanoferrat. Es wurden die Daten von 285 im Jahr 2011 geschossenen Wildschweinen ausgewertet, wovon eine Gruppe mit Berliner Blau versorgt worden war und eine Kontrollgruppe nicht. Laut Studie wurde bei den Kontrolltieren eine durchschnittliche Cäsiumbelastung von 522 Bequerel pro Kilo Muskelfleisch festgestellt bei einem Maximum von 2421 Becquerel.

Das tönt nun ziemlich anders als die über 10'000 Becquerel bei den 140 Tieren im Jahr 2013. Nun ist auch mein persönlicher Jagdinstinkt hellwach. Unterdessen habe ich herausgefunden, dass die Strahlenbelastung innerhalb von Bayern offenbar stark variiert nach Regionen, aber das Gefälle erscheint mir nach wie vor unerklärlich. Laut der Meldung der Süddeutschen, die sich auf den dpa-Newskanal beruft, wurden die dramatischen Werte vom zuständigen Messpförtner oder Mess­daten­er­heber und -ver­walter in Garmisch-Partenkirchen, Helmut Rumml erhoben und publiziert, dem dafür umgehend das entsprechende Mandat vom Bayerischen Jagdverein entzogen wurde.

Wenn man den Newsticker der Süddeutschen weiter absucht, stößt man auf zwei Meldungen vom 15. März dieses Jahres, die sich beide mit einer parlamentarischen Anfrage der bayrischen Grünen befassen beziehungsweise mit der Antwort des Umweltministeriums. Dieses meint, dass die Wildschweine nach wie vor radioaktiv belastet seien und dass ihr Fleisch häufig über dem Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilogramm liege, zum Teil über zehn Mal so hoch; im Landkreis Augsburg hätte mehr als die Hälfte der 612 genommenen Proben den Grenzwert überschritten. Als Höchstwerte tauchen hier 9840 Becquerel pro Kilogramm auf bei einem in Cham erlegten Tier und 9836 Becquerel bei einem Exemplar in Regen. Da sind wir doch wieder in der Nähe der anfangs erwähnten Zahlen, wenn auch nur für Ausnahmefälle.

In der Bayern-Depesche vom 18. April befragt Frau Roxana Miller den Urheber der Katastrophen­meldung persönlich. Helmut Rummel gibt an, die Messdaten hätten eigentlich unter Verschluss bleiben sollen, um Schaden von den Jägern abzuhalten, aber er hätte sich zur Veröffentlichung verpflichtet gefühlt. Auch er nennt übrigens die Region Augsburg und den Nationalpark Bayerischer Wald nahe bei Regen, wie das Umweltministerium. Unterdessen haben zahlreiche Newsportale die Meldung vom 17. April aufgegriffen, und so kann man vielleicht demnächst mal mit einer Präzisierung, wo nicht überhaupt Klärung dieser unerklärlichen Meldungslage rechnen. Eines aber ist sicher: Die bayrischen Jäger dürfen Wildbret, welches den Höchstwert übersteigt, nicht verkaufen. Stattdessen haben sie selbstverständlich einen Anspruch auf Entschädigung für die geschossenen verstrahlten Tiere, und da haben wir eine weitere Angabe, nicht vom bayerischen Innenministerium, sondern vom Bundesverwaltungsamt: Aus Bayern seien im Jahr 2013 über 3300 solche Anträge eingegangen. Man kann sich leicht vorstellen, dass da der eine oder andere Jägersmann den Schaden von sich abgewendet hat, indem er von seinem Stammtischkumpel bei der Messstelle Stempel und Unterschrift unter ein entsprechendes Formular erhalten hat, aber insgesamt ist die Zahl trotz allem beeindruckend, auch wenn es sich nicht nur um Wildschweine handelt.

Nun – ein bisschen Radioaktivität ist doch ganz gesund, kann da der Volksmediziner nur sagen und sich daran erinnern, dass vor noch nicht mal hundert Jahren echte Radon-Kuren angeboten wurden. Ansonsten aber steht fest, dass die Atomstrom-Debatte im Moment ziemlich stark abgeflaut ist, einerseits wegen der Energiewende, welche in Deutschland recht konsequent betrieben wird, und anderseits auch wegen der tiefen Energiepreise, die direkt an den Erdölpreis gebunden sind. Auf politischer Ebene leiden darunter die Grünen, die sich einfach gedulden müssen, bis irgendwo der nächste Atommeiler in die Luft fliegt. Oder eben, wenn wieder mal eine Wildsau ein paar Quadratmeter Cäsium zuviel frisst. Das ist allerdings nicht so spektakulär, außer die bayerischen Hinter- und Vorderwäldler würden sich darum bemühen, die Messergebnisse zu vertuschen. A propos CSU, denn darum handelt es sich hier ja eindeutig: Ich habe letzte Woche mal eine EU-Abgeordnete gehört, die sich zur Problematik der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer äußerte beziehungsweise zur EU-Mission Triton, und ich will einen Quadratmeter bayrischen Urwalds nach Cäsium durchwühlen, wenn es nicht Monika Hohlmeier-Strauß war, die Tochter von Franz Josef Strauß mit einer viel beachteten Vergangenheit, die uns erklärte, dass man immer mehr von diesen bescheuerten Afrikaner anziehe, je mehr man rette. – Eine Logik übrigens, die ich nachvollziehen kann bis auf den Punkt, dass es sich halt trotz allem um Menschen handelt, die da in der Warteschlaufe stehen, in der freiwilligen Verladehalle zur Hochrisikofahrt ins Glück.

Aber zurück zu den Grünen. Eigentlich ist es schade, dass ihre Anliegen und damit auch sie als Partei gegenwärtig keine Konjunktur haben. Anderseits kommt das einfach daher, dass es der grünen Partei nicht gelungen ist, ein größeres Programm aufzustellen, das über diese, zweifellos wichtigen, aber halt nicht immer bestimmenden Punkte hinaus geht. Und dann ist es eine Eigen­schaft erfolgreicher sozialdemokratischer Politik, dass sie ihren Gegnern, in diesem Fall den Grünen den Wind aus den Segeln nimmt und auf ihre eigenen Mühlen umleitet. Da lässt sich nicht so viel machen, respektive eigentlich nur eines, dasselbe, wie es alle Parteien tun müssten und vielleicht insgeheim auch tun, aber in der Öffentlichkeit merkt man nichts davon: Programmarbeit, Programmarbeit, Programmarbeit.

Am Beispiel der Flüchtlingswelle sieht man das wohl ziemlich spektakulär. Die nationalistischen Tendenzen werden nicht zuletzt aus der Ungewissheit gespeist, was mit diesen unwillkommenen Gästen geschehen soll. Niemand will sie haben, und in erster Linie wagt es auf dem gesamten Kontinent kein einziger Mensch, auch nur auszusprechen, dass man diese Leute vorderhand nicht einfach so zurückspedieren kann, solange man nicht so richtig weiß, wie und vor allem wohin. Die Parteien wollen sich natürlich weder die Finger noch die Lippen verbrennen mit unvorsichtigen Äußerungen zum Thema, weil sie sicher sein können, dass ihre politischen Gegnerinnen da handkehrum darauf herum hacken würden bis zum Gehtnichtmehr, wider jedes bessere Wissen. Das ist verständlich, wenn man die politischen Mechanismen berücksichtigt. Aber umgekehrt wäre jetzt genau der richtige Moment, einmal ein paar Gedanken vorzutragen. Es bräuchte noch nicht mal eine voll ausformulierte Forderung zu sein, sondern einfach eine Grundsatzüberlegung, mindestens im Stil jener vier Punkte, die man ebenfalls in der Süddeutschen lesen konnte. Diese Forderungen lauten: Einrichtung eines Seenotrettungsprogrammes, gezieltes Vorgehen gegen Schlepperbanden, Auffanglager in Nordafrika und ein geregeltes Aufnahmeprogramm. Einfach sind nur der erste und der vierte Punkt, das Not- und das Aufnahmeprogramm; die Schlepperbanden dagegen kann man höchstens auf dem Meer bekämpfen, wenn sie nämlich die Flüchtlinge umgeladen haben und zurückfahren, um neue zu holen. Ansonsten agieren die ja auf dem Territorium anderer Länder, und dort sind Interventionen schwierig. Auffanglager in Nordafrika – wenn man dies wiederum als neokoloniale Maßnahme aufsetzt, ist das zum Vornherein zum Scheitern verurteilt. Diese Option kann nur Bestandteil der vierten sein, nämlich einer Aufnahmestruktur, welche einerseits ganz Europa umfasst und nicht nur Italien und zweitens eben auch weitere Länder und Regionen.

Ganz stoppen wird man die Bewegung im Zeitalter der globalen Kommunikation nicht können. Den wesentlichsten Beitrag zur Dämpfung müsste man im Prinzip in den Ursprungsländern der Migration leisten. Aber so einen Zugriff auf Somalia, auf den Sudan, auf Äthiopien und Eritrea, das macht man nicht aus dem Stand heraus. Ganz abgesehen von der Katastrophe in Syrien, wo sich die Staatengemeinschaft vielleicht bei Gelegenheit doch einmal dazu durchringen kann, nicht ausschließlich die eigenen Interessen zu verfolgen, sondern zusammen mit den real existierenden Kräften in der Region einen funktionierenden Pakt zu schmieden, um die prähistorischen Banditen zu entwaffnen.