"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Böse Sachen hört und liest man -

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Das ist ja spektakulär, wie die russischen Behörden die Verdächtigen im Mordfall Nemtsow vorführen, in einem Eisenkäfig, frei einsehbar für Film, Funk und Fernsehen, auch wenn sie noch keineswegs gestanden haben.
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10:12 min, 12 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 10.03.2015 / 11:10

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Umwelt, Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 10.03.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Das ist ein ziemlich mittelalterliches Verfahren, und man sieht daran vor allem eines, nämlich wie die Behörden um jeden Preis beweisen wollen, dass sie alles daran setzen, um den Mord aufzuklären, Vorverurteilung inklusive; vor einem Gericht in der zivilisierten Welt hätte die Anklage keine Chance, irgendwelche Beweismittel vorzulegen, wenn sie die Be­schul­digten mit derartigen Methoden noch vor dem Prozess der Öffentlichkeit präsentieren würde. In einem zivilisierten Land wären die Angeklagten nach diesen massiven Eingriffen in die Verfahrensrechte umgehend freie Männer, unabhängig von ihrer Schuld.

Nun kann man im Fall Nemtsow allerdings sagen, dass der echte Schuldige sowieso frei herum­läuft, nicht nur das, er zeigt sich auch am Fernsehen und schwört eine volle Aufklärung des Falles. Für einmal komme ich zum gleichen Schluss wie die reflexartig antirussischen Kreise. Der wahre Täter, nicht nur bei Nemtsow, sondern auch schon bei Anna Politkowskaja und einigen anderen mehr, ist der Regierungschef, Wladimir Putin. Selbstverständlich hat er nicht selber geschossen, das wäre ja noch schöner, wenn er auch noch die Drecksarbeit selber erledigen müsste. Er hat auf jeden Fall dieses und verschiedene andere Attentate nicht nur nicht verhindert, sondern ihm Vorschub geleistet durch die Tolerierung einer kriminellen Grauzone am Rand beziehungsweise am Übergang zum Geheimdienst, welche gerne mal Fingerzeige aus besagten Geheimdienstkreisen sehr ernst nimmt und in Pistolenkugeln über- oder umsetzt.

Der Fall ist klar, und das ist die wirklich schwarze Seite eines Herrschaftssystems, dessen im­ma­nen­te Logik ich ungefähr begreife, eines Staates, den man mit etwas schlechtem Willen als Krüppel oder Missgeburt bezeichnen kann, der aber in jedem Fall noch mehrere tausend Werst von der Mo­der­nität entfernt ist. Und den in die Modernität zu führen ist keine Arbeit, die man mit Samt­hand­schu­hen erledigen kann, dafür habe ich wie gesagt Verständnis, und gleichzeitig habe ich kaum eine Ahnung davon, wie das konkret zu erfolgen hätte. Nur ein paar elementare Grundsätze muss der be­rück­sichtigen, der sich an die Arbeit macht, und einer davon ist ein halbwegs anstän­di­ger, min­des­tens aber vernünftiger Umgang mit der Opposition, mindestens im politischen Bereich; in wirt­schaft­lichen Belangen wird ohnehin jenseits der Öffentlichkeit mit anderen Ins­tru­menten und Spielregeln gearbeitet, aber die politische Opposition ist eben für die Reformation der Gesamt­gesellschaft, für ihre Heranführung an die Moderne von ganz zentraler Bedeutung. Und wenn Putin da einfach nach Belieben seine Gegner abknallen lässt, dann hat er mehr als einen Knall.

Schämen wird er sich nicht übers Maß, das ist auch keine Kategorie, welche einem das Regieren eines derart großen Landes erlaubt, aber er müsste einsehen, beziehungsweise er müsste schon längstens erkannt haben, dass genau hier die Wasserscheide liegt beziehungsweise die Zeiten-Scheide: Entweder geht es in die Moderne, oder aber die russische Führung reproduziert ein Zerrbild eines feudalen, zaristischen Reiches eben mit einem Geheimdienst, welcher immer mehr der Tscheka gleicht. Und dies zwei Jahre vor dem hundertsten Jahrestag der russischen Revolution!

Aber sprechen wir von etwas anderem. Was hört und liest man da in den Medien bei euch über den Zustand der Regierungs­koalition? Böse Sachen, schlimme Sachen. Streit, Häme, Zickenkriege, Hahnenkämpfe, demnächst wohl auch noch Intrigen und sowieso Zustände wie im italienischen Parlament. Oho, sagt man sich da im neutralen Ausland, die Medien haben offensichtlich kein Futter mehr und schreiben sich deshalb selber welches herbei. Es gibt schlicht nichts zu berichten, das tut natürlich weh und erklärt vielleicht zum Teil, weshalb die Springer-Seichblätter seit dem Wahlsieg der Syriza auf den Griechen herum hacken, als gälte es, dort eine Sektion des Islamischen Staates niederzumachen. Ja, es stimmt, irgendwohin muss es ja hin, das Ressentiment, mit welchem längstens nicht mehr nur die Bild-Zeitung, sondern eben die Medien insgesamt Stimmung und Auflage machen, die Rezeptur, welche die Aufmerksamkeit eines zunehmend abgestumpften Lese- und Konsumpublikums noch einmal wecken soll, bevor die Werbeagenturen ihre Etats zusammen streichen, vielleicht müssen wir am Schluss aus purem Mangel an Skandalnachrichten doch wieder einen Krieg anzetteln, da haben wir wenigstens alle Tage ausreichend Blut im Blatt.

Produziert die Bild-Zeitung die Leserinnen der Bild-Zeitung? Das ist eine große Frage. Wenn man sie mit Nein beantwortet, heißt das nichts anderes, als dass ein paar Millionen Deutschinnen und Deutsche täglich aus eigenem Antrieb die Bild-Zeitung lesen. Was heißt da lesen – mit Lesen hat das nichts zu tun und mit denken oder begreifen noch weniger, sondern eben mit Ressentiment. Die vermeintlichen LeserInnen sehen die Schlagzeile und fühlen sich davon in einem Teil ihrer Existenz gruselig-anheimelig bewegt oder direkt angesprochen. Die Bild-Zeitung wäre in diesem Fall ein Charakterausdruck der schwei­gen­den deutschen Mehrheit, und die Gelegenheit, diese Mehrheit zu beeinflussen zugunsten von aller­lei politischem Schabernack, würde nur nebenher ergriffen.

Ich glaube, es verhält sich tatsächlich so. Wäre es anders, würde also die Bild-Zeitung tatsächlich die Köpfe ihrer Konsumentinnen selber formatieren, dann wäre der Chefredakteur Kai Diekmann nicht einfach die unsägliche Pflaume, der eklige Krug verdorbenen Mostes, der er ist und der auch wieder da ist nach dem kurzen Unterbruch nach der Wulff-Fertigmacherei, sondern dann wäre er zudem ein authentisches Monster der modernen Demokratie, der seine Medienmacht dazu ver­wen­det, dem Wahlvolk Käfer und Läuse in die Köpfe zu pflanzen wie alle Windows-Betriebssysteme seit dem Jahr zweitausend. Dass Diekmann oder irgend ein beliebiger anderer Stinkschädel dabei die Interessen der herrschenden Cliquen vertritt, also Beeinflussung zugunsten einer Politik, welche die Akzente nicht bei den Schwachen, sondern bei den inländischen Potentaten setzt oder aber die Anzettelung von irgendwelchen Kampagnen, um von Systemfragen abzulenken, das versteht sich von selber.

Wenn es sich aber so verhält, dass nicht die paar Millionen Bild-Zeitungs-Leserinnen von der Bild-Zeitung geformt werden, sondern dass sie die Bild-Zeitung kaufen, weil sie eben so sind und die Bild-Zeitung ist weiter nichts als der Ausdruck ihres hin und her schwappenden Massen-Be­wusst­seins beziehungsweise eben nicht Bewusstseins, sondern allenfalls Halbbewusstseins, dann stellen sich doch grundlegende Fragen zur modernen Gesellschaft, auf die man gerne ein paar Antworten formulieren möchte. Die am nächsten liegende Antwort ist die: Der Erfolg der Bild-Zeitung ist der offensichtliche Ausdruck davon, dass das Bildungssystem in der modernen Gesellschaft nichts taugt, wenn am Ende zig Millionen Bild-Leserinnen herauskommen. Das heißt, dass man das Bildungssystem reorganisieren muss. Ein konstruktiver Vorschlag: Das Militär besetzt die Schulhäuser. Es kommt nur heraus aus dem Unterricht, wer im Fach selbständiges Denken mindestens eine zwei schreibt. Und wenn wir schon beim Militär sind: Das Militär besetzt auch die Redaktion der Bild-Zeitung und sorgt dafür, dass die nur noch nackige Frauen und Männer veröffentlicht. Striktes Verbot jeglicher politischen, sozialen und vor allem wissenschaftlichen Veröffentlichung, welche in jedem Fall und per Definition zu einer Straftat an der besagten Sphäre des Politischen, des Sozialen und der Wissenschaft würde. Wie wir dies leider heute jeden Tag erleben.

Aber halt. Wie gesagt, eiern die Bild-Zeitung und auch die anderen, doch seriöseren Zeitungen und Medien auf die ihnen jeweils eigene Art und Weise jener Stimmungslage im Kaufpublikum nach, welche dann eben den Konsumimpuls auszulösen vermag; aber davon abgesehen befindet sich euer Land ja in einem wunderbaren, friedlichen Gesamtzustand. Kein Krieg weit und breit, auch wenn die deutschen Rüstungsexporte grad wieder mal neue Rekorde schreiben; die Wirtschaftskrise betrifft andere Länder ungleich viel stärker als die Bundesrepublik, und die Regierung beschließt eine sozialdemokratische Reform nach der anderen, Mindestlohn, Mietwucher-Begrenzungen und jetzt auch noch eine Frauenquote für Aufsichtsräte – seien wir ehrlich, es könnte einem gerade heraus schwindlig werden.

An dieser Stelle weise ich seit Jahren darauf hin, dass die CDU nicht erst seit Angela Merkel eine sozialdemokratische Politik betreibt. Das hat vermutlich mit der Dynamik zu tun, in welcher sich der statische Kanzler Helmut Kohl eingerichtet hat, nämlich dass man zum Zweck des Machterhalts die wesentlichen und vor allem die berechtigten Forderungen des politischen Gegners zu seinen eigenen machen muss. Das hat Angela Merkel konsequent fortgeführt, sodass tatsächlich die einzige nicht sozialdemokratische Regierungsperiode in Deutschland in den letzten Jahrzehnten jene war, in welcher die Sozialdemokraten tatsächlich an der Macht waren. Das ist weiter nichts Neues, wie gesagt, neu ist höchstens, dass es seit ein paar Monaten auch die nachlässigsten Publikationsorgane mitgekriegt haben. Dass sich die CDU jetzt nicht nur in der Praxis, sondern auch programmatisch zu all den sozialdemokratischen Forderungen bekennt. Endlich ist es offiziell: Der sozialdemokratische Staat ist jener, in welcher das ideale Kräftegleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit, zwischen arm und reich, dick und doof und Mann und Frau herrscht. So ist das nämlich, und im Grunde genommen ist es erstaunlich, wie lange die deutsche Öffentlichkeit gebraucht hat, sich das einzugestehen. Beziehungsweise der Presse- oder Medienteil davon hat es immer noch nicht geschnallt und munkelt von Krisen und Knatsch, wo doch alles eitel Sozialdemokratie ist. Deutschland ist drauf und dran, die skandinavischen Länder zu überrunden. Und angesichts der allgemeinen Harmonie unter eurem absolut nicht unsympathischen Hausmütterchen Angela Merkel – das kommt ja noch dazu: Wer könnte im Ernst etwas gegen Angela Merkel haben, bitteschön? – angesichts dieser Harmonie kommt mir einfach nur ein Begriff in den Sinn für Deutschland im Jahr 2015: Ob es euch gefällt oder nicht, ihr lebt gegenwärtig in einem Biedermeier-Staat. Die Sozialdemokratie in ihrer Vollendung, das gibt tatsächlich den vollen Biedermeier.

In diesem Sinne: Viel Vergnügen!