"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Das deutsche Institut für Altersvorsorge -
ID 64612
Das deutsche Institut für Altersvorsorge hat beim Hamburger Weltwirtschaftsinstitut eine Studie in Auftrag gegeben, die den Titel trägt «Zur Zukunftsfestigkeit der Europäischen Sozialstaaten», wobei das Schwergewicht natürlich auf der Altersvorsorge liegt.
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10:55 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 23.06.2014 / 20:23
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Klassifizierung
Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung
AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 23.06.2014
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
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Skript
Der Blick geht also über Deutschland hinaus, und das ist schon mal erfreulich, denn die Probleme, die auf uns zukommen, vielmehr genauer: die Fragen, die sich hier stellen, sind in ganz Europa und überhaupt in den Ländern der entwickelten Welt die gleichen. Das Publikum hat von diesen Themen auf jeden Fall eine ungefähre Idee, gespiesen aus den ungefähren Nachrichten der amtlichen und nebenamtlichen Medien, und da kommt mir so eine Studie als Referenzwert grad zupass. Gleich der erste Satz der Einleitung bietet so etwas wie ein indirektes Glaubensbekenntnis: «Die Schuldenkrise hat die prekäre Situation der Sozialsysteme in Europa, die zum Teil auch durch Schulden finanziert wurden, offenkundig werden lassen.» Das Glaubensbekenntnis ist ein doppeltes: erstens, keine weiteren Schulden, darin sind sich übrigens alle einig, bloß sind sich ebenfalls alle einig darüber, dass ihr jeweiliger Teil am Kuchen zu gering ist und dringend der Nachbesserung bedarf, dass also nicht bei ihnen, sondern bei allen anderen gespart werden muss, und in diesem Gleichgewicht des Schreckens ist die Neuverschuldung nun mal der einfachste Weg, einem echten Gerangel über die Verteilung der vorhandenen Mittel aus dem Weg zu gehen. – Das ist übrigens ein echtes Dilemma der sozialdemokratischen Regierungsform, die es bekanntlich nicht nur allen recht machen will, sondern es tatsächlich auch den meisten recht macht: Mit der Zeit wachsen sich die Partikularinteressen zu roten Riesen aus. – Aber sei’s drum: Das zweite Glaubensbekenntnis ist jenes, dass man laufende Ausgaben, nämlich eben die Renten, aus laufenden Einnahmen, also den Rentenbeiträgen oder ggf. staatlichen Budgetmitteln, bezahlen solle. Zu diesem zweiten Glaubenssatz gibt es bei der Altersvorsorge eine Alternative, nämlich die Pensionskassen; hier wird Kapital gebildet, dessen Erträge anschließend die Rentenzahlung ausmachen. Und in der Praxis gibt es noch eine dritte Alternative, nämlich das private Sparen. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass uns während der Finanzkrise genau diese beiden Alterssparschweine relativ feindlich gegenüber getreten sind, die privaten Altersguthaben, welche in irgendwelchen Aktienfonds oder sonstigen Anlagevehikeln platziert waren zum einen, und zum anderen eben die Pensionskassengelder. Ich weiß nicht, wie viel Kapital sich in deutschen Pensionskassen angelagert hat, aber in der Schweiz, wo die Pensionskassen als dritte Säule obligatorisch sind, beträgt es ungefähr 600 Milliarden Franken; in Deutschland sind es, sagen wir mal maximal 1000 Milliarden Euro. Das wäre etwa ein Zehntel des gesamten Nettovermögens der Privathaushalte, wobei hier die Verteilung nicht besonders egalitär ausfällt, in Deutschland besaßen im Jahr 2007 die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung über 60 Prozent dieses Vermögens. – Aber dies eigentlich bloß nebenbei beziehungsweise als Vorabillustration der Tatsache, dass die Rentenfrage eben nicht nur eine Rentenfrage, sondern auch eine der sozialen Verhältnisse ist. Und um diese Aussage aus ihrer dummen Neutralität herauszuholen: Die Rentenfinanzierung muss sich dann halt nicht einfach nur bei den Erwerbseinkommen, sondern auch bei den Kapitaleinkommen schadlos halten, wenn es tatsächlich erfolgreich zu einer massiven Verlagerung zum Kapitalfinanzierungssystem kommt. Überschlagen wir kurz: 10'000 Milliarden Privatvermögen, verzinst zu einem niedrigen Satz von 2 Prozent, ergeben 200 Milliarden Kapitalertrag; wenn wir dafür sorgen, dass es deutlich mehr sind, haben wir schon 500 oder 700 Milliarden Kapitalertrag, bei 10% wären es sogar 1000 Milliarden, und gleichzeitig sorgen wir für die nächste Finanzkrise. Ja, so ist das mit den Altersrenten.
Übrigens gilt die zweitgrößte Pensionskasse der Vereinigten Staaten, jene der öffentlichen Angestellten im Bundesstaat Kalifornien, als einer der aktivsten Akteure auf dem Aktien- und Kapitalmarkt. Aber dies bloß als Anmerkung zum Hinweis darauf, dass die Finanzkrise eben nicht nur auf böse Investment-Banker-Schweine zurückzuführen ist, sondern auch auf den Drang der Anleger und damit auch der Pensionskasse und, horribile dictu, auch von uns allen in unserer Eigenschaft als Kleinsparer, nach einer möglichst angemessenen, sprich hohen Rendite. – Aber jetzt endgültig zurück zu diesem Bericht.
Als wichtige Frage behandelt der Bericht die so genannte demografische Herausforderung oder anders gesagt die Alterung in den entwickelten Gesellschaften, die demnächst ihren Höhepunkt erreicht, sozusagen den Peak Old Age Pension oder POAP, wenn die Babyboomer ins Rentenalter kommen. Eine erste Angabe betrifft die Entwicklung der Lebenserwartung bei der Geburt im Rahmen der 27 EU-Mitgliedstaaten von 2002 bis 2012. Sie ist innerhalb von 10 Jahren um 2,6 Jahre gestiegen, von 77.7 auf 80.3 Jahre. Am höchsten ist die Lebenserwartung dabei am Mittelmeer; Italien liegt an der Spitze mit 82.8 Jahren, gefolgt von Spanien mit 82.6 und Frankreich mit 82.3 Jahren. Dann erst kommt Schweden, quasi der Pionier unter den modernen Sozialstaaten. Am tiefsten liegt sie in Osteuropa, und zwar 73.9 Jahre in Lettland und zuletzt bei 73.3 Jahren in Litauen. Beim Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung liegt erneut Italien vorn mit 21.2 Prozent; dann kommt hier aber Deutschland mit 20.7 Prozent, gefolgt von Estland, Portugal und Bulgarien; Schweden liegt an sechster Stelle, Lettland und Litauen an achter und neunter Stelle hinter Finnland, und fragt mich jetzt nicht, woher der Unterschied zwischen diesen beiden Werten kommt.
Für die Renten entsteht dort ein Problem, wo sie aus den Beiträgen aktiver Berufstätiger finanziert werden, also von den Jungen, und wenn es immer weniger Junge gibt, die arbeiten und die Renten finanzieren, und auf der anderen Seite immer mehr RentnerInnen, die Renten brauchen, dann ist diese so genannte Herausforderung präzise umschrieben. Ein erster Ansatz zur Lösung liegt gemäß dem Bericht in der Erhöhung der Erwerbsquoten, die in der EU zwischen 60% und 80% der Bevölkerung im Erwerbsalter beträgt. Angehoben können diese Quoten werden durch neue Arbeitsplätze sowie durch die Reduktion von Frühpensionierungen; die verstärkte Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt zählt hier ebenfalls dazu. Dann folgt die Erhöhung des Rentenalters. Dann schlagen die Autoren die Verlagerung von der öffentlichen Altersrente zur individuellen Altersvorsorge, also dem individuellen Sparen vor.
Das ist nicht neu. Interessant am Bericht sind einige Zahlen, zum Beispiel zu den Sozialausgaben, die im EU-Durchschnitt etwa ein Fünftel des BIP ausmachen, wobei die Differenzen innerhalb der EU groß sind und von 24% im Norden bis zu 12% in einigen Ländern des ehemaligen Ostblocks reichen. Der Löwenanteil an den Sozialabgaben entfällt auf die Altersrenten. In Bulgarien und in Griechenland liegt der entsprechende Prozentsatz bei über 70%, in Irland am anderen Ende nur gerade bei 28%, wobei Irland sowieso praktisch keine Alterung kennt, aus welchen Gründen auch immer. Dementsprechend wird mit diesem niedrigen Anteil immer noch eine Altersrente ausgerichtet, welche derjenigen in Deutschland nicht nachsteht.
Aber davon abgesehen verzichtet auch dieser Bericht auf die grundlegende Frage, wie denn Arbeitsplätze überhaupt noch hergestellt werden sollen in einem Zeitalter und in einer Gesellschaft, welche sich unter den Bedingungen der Globalisierung und der Vollautomation organisiert. Auf diesen Grundsatz-Vorbehalt, den ich hier immer wieder erwähne, kann man antworten, dass sich die Gesellschaft halt einfach weiterhin gemäß den alten Spielregeln organisiere, und zwar so lange, als es eben weiter geht, ohne dass das System zusammen kracht; und unter der Hand entstehen langsam oder nicht mal langsam neue Formen und Regeln, welche durchaus formal im Rahmen des Theaters zwischen Lohnarbeit und Kapital stattfinden können. Diese neuen Regeln werden mit einiger Sicherheit eine Erweiterung der Freiheit für die meisten Menschen bedeuten, ganz egal, ob durch interessantere Beschäftigungen, durch bessere Arbeitsbedingungen oder ganz schlicht durch einen vermehrten Rückgriff auf Medizin und Gerichte mit immer neuen Erfindungen wie Burnout, Mobbing und so weiter. Unter diese Entwicklung subsumiere ich ganz eindeutig die Freigabe des Pensionsalters, und zwar auf freiwilliger Basis. Das heißt, je besser den Menschen ihre Lohnarbeit gefällt, desto eher werden sie sich freiwillig entscheiden, länger zu arbeiten; dagegen müssen anstrengende und monotone Arbeiten viel früher ein Recht auf Altersrente ergeben, das ist ja logisch und bereits in einigen Branchen der Fall, bei uns in der Schweiz zum Beispiel in der Bauindustrie, wo die Arbeitnehmer seit etwa zehn Jahren bereits mit 60 Jahren in Pension gehen können anstatt mit 65 Jahren. Selbstverständlich entsteht hier ein Konflikt mit der alten Press-Mentalität der Arbeitgeber, welche es sich einfach nicht vorstellen können, dass ein Arbeitnehmer auch tatsächlich so gerne zur Arbeit strömt, wie sie selber es immer behaupten. – Wenn man auf dieser Freiwilligkeitsschiene weiter denkt, dann werden sehr viele Rentenprobleme plötzlich ganz einfach; das Arbeitsleben bleibt dann je nach Job durchaus bis zum 75. oder 80. Altersjahr offen, aber anderseits müssen auch viel früher Pausen möglich sein, egal, ob für Weiterbildung oder für eine Weltreise oder für den Elternurlaub. – Es versteht sich von selber, dass für all diese Anstrengungen ein bedingungsloses Grundeinkommen das ideale Schmiermittel wäre, aber dies nur nebenbei.
So wird die Rentenfrage plötzlich zur Frage des gesamten Arbeitslebens, während die spezifischen Herausforderungen des Alters anders angegangen werden müssen. Hier sind nämlich mit der Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung Dinge entstanden, wie sie für diese Gesellschaft tatsächlich neu sind, zum Beispiel ein zehn- oder fünfzehnjähriger Freiraum, den man mehr oder weniger nach Belieben nutzen kann; aber weil es eben keine historischen Präzedenzfälle gibt, stoßen viele Leute in der Praxis hier auf echte Schwierigkeiten. Die Verlängerung der Option zu arbeiten – wie gesagt auf absolut freiwilliger Basis und unter der Voraussetzung von so genannt sinnvoller Tätigkeit – würde hier einen Beitrag zur Lösung leisten. Sie würde auch einen Beitrag leisten zum anderen Problem, das sich dann im nunmehr wirklich später eintretenden, quasi «echten» Alter immer mehr zeigt, nämlich zum geistigen Verfall, der natürlich extrem gefördert wird vom Wegfall sämtlicher gesellschaftlich anerkannter Funktionen. Und die Arbeit ist bekanntlich die gesellschaftlich anerkannte Funktion an und für sich. – Aber dieser Komplex umfasst natürlich noch weitere wichtige Elemente, und ich gehe davon aus, dass Institutionen wie eben jenes Institut für Altersvorsorge sich nicht nur mit der Finanzierungsfrage, sondern in erster Linie mit solchen inhaltlichen Bereichen befassen.
Übrigens gilt die zweitgrößte Pensionskasse der Vereinigten Staaten, jene der öffentlichen Angestellten im Bundesstaat Kalifornien, als einer der aktivsten Akteure auf dem Aktien- und Kapitalmarkt. Aber dies bloß als Anmerkung zum Hinweis darauf, dass die Finanzkrise eben nicht nur auf böse Investment-Banker-Schweine zurückzuführen ist, sondern auch auf den Drang der Anleger und damit auch der Pensionskasse und, horribile dictu, auch von uns allen in unserer Eigenschaft als Kleinsparer, nach einer möglichst angemessenen, sprich hohen Rendite. – Aber jetzt endgültig zurück zu diesem Bericht.
Als wichtige Frage behandelt der Bericht die so genannte demografische Herausforderung oder anders gesagt die Alterung in den entwickelten Gesellschaften, die demnächst ihren Höhepunkt erreicht, sozusagen den Peak Old Age Pension oder POAP, wenn die Babyboomer ins Rentenalter kommen. Eine erste Angabe betrifft die Entwicklung der Lebenserwartung bei der Geburt im Rahmen der 27 EU-Mitgliedstaaten von 2002 bis 2012. Sie ist innerhalb von 10 Jahren um 2,6 Jahre gestiegen, von 77.7 auf 80.3 Jahre. Am höchsten ist die Lebenserwartung dabei am Mittelmeer; Italien liegt an der Spitze mit 82.8 Jahren, gefolgt von Spanien mit 82.6 und Frankreich mit 82.3 Jahren. Dann erst kommt Schweden, quasi der Pionier unter den modernen Sozialstaaten. Am tiefsten liegt sie in Osteuropa, und zwar 73.9 Jahre in Lettland und zuletzt bei 73.3 Jahren in Litauen. Beim Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung liegt erneut Italien vorn mit 21.2 Prozent; dann kommt hier aber Deutschland mit 20.7 Prozent, gefolgt von Estland, Portugal und Bulgarien; Schweden liegt an sechster Stelle, Lettland und Litauen an achter und neunter Stelle hinter Finnland, und fragt mich jetzt nicht, woher der Unterschied zwischen diesen beiden Werten kommt.
Für die Renten entsteht dort ein Problem, wo sie aus den Beiträgen aktiver Berufstätiger finanziert werden, also von den Jungen, und wenn es immer weniger Junge gibt, die arbeiten und die Renten finanzieren, und auf der anderen Seite immer mehr RentnerInnen, die Renten brauchen, dann ist diese so genannte Herausforderung präzise umschrieben. Ein erster Ansatz zur Lösung liegt gemäß dem Bericht in der Erhöhung der Erwerbsquoten, die in der EU zwischen 60% und 80% der Bevölkerung im Erwerbsalter beträgt. Angehoben können diese Quoten werden durch neue Arbeitsplätze sowie durch die Reduktion von Frühpensionierungen; die verstärkte Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt zählt hier ebenfalls dazu. Dann folgt die Erhöhung des Rentenalters. Dann schlagen die Autoren die Verlagerung von der öffentlichen Altersrente zur individuellen Altersvorsorge, also dem individuellen Sparen vor.
Das ist nicht neu. Interessant am Bericht sind einige Zahlen, zum Beispiel zu den Sozialausgaben, die im EU-Durchschnitt etwa ein Fünftel des BIP ausmachen, wobei die Differenzen innerhalb der EU groß sind und von 24% im Norden bis zu 12% in einigen Ländern des ehemaligen Ostblocks reichen. Der Löwenanteil an den Sozialabgaben entfällt auf die Altersrenten. In Bulgarien und in Griechenland liegt der entsprechende Prozentsatz bei über 70%, in Irland am anderen Ende nur gerade bei 28%, wobei Irland sowieso praktisch keine Alterung kennt, aus welchen Gründen auch immer. Dementsprechend wird mit diesem niedrigen Anteil immer noch eine Altersrente ausgerichtet, welche derjenigen in Deutschland nicht nachsteht.
Aber davon abgesehen verzichtet auch dieser Bericht auf die grundlegende Frage, wie denn Arbeitsplätze überhaupt noch hergestellt werden sollen in einem Zeitalter und in einer Gesellschaft, welche sich unter den Bedingungen der Globalisierung und der Vollautomation organisiert. Auf diesen Grundsatz-Vorbehalt, den ich hier immer wieder erwähne, kann man antworten, dass sich die Gesellschaft halt einfach weiterhin gemäß den alten Spielregeln organisiere, und zwar so lange, als es eben weiter geht, ohne dass das System zusammen kracht; und unter der Hand entstehen langsam oder nicht mal langsam neue Formen und Regeln, welche durchaus formal im Rahmen des Theaters zwischen Lohnarbeit und Kapital stattfinden können. Diese neuen Regeln werden mit einiger Sicherheit eine Erweiterung der Freiheit für die meisten Menschen bedeuten, ganz egal, ob durch interessantere Beschäftigungen, durch bessere Arbeitsbedingungen oder ganz schlicht durch einen vermehrten Rückgriff auf Medizin und Gerichte mit immer neuen Erfindungen wie Burnout, Mobbing und so weiter. Unter diese Entwicklung subsumiere ich ganz eindeutig die Freigabe des Pensionsalters, und zwar auf freiwilliger Basis. Das heißt, je besser den Menschen ihre Lohnarbeit gefällt, desto eher werden sie sich freiwillig entscheiden, länger zu arbeiten; dagegen müssen anstrengende und monotone Arbeiten viel früher ein Recht auf Altersrente ergeben, das ist ja logisch und bereits in einigen Branchen der Fall, bei uns in der Schweiz zum Beispiel in der Bauindustrie, wo die Arbeitnehmer seit etwa zehn Jahren bereits mit 60 Jahren in Pension gehen können anstatt mit 65 Jahren. Selbstverständlich entsteht hier ein Konflikt mit der alten Press-Mentalität der Arbeitgeber, welche es sich einfach nicht vorstellen können, dass ein Arbeitnehmer auch tatsächlich so gerne zur Arbeit strömt, wie sie selber es immer behaupten. – Wenn man auf dieser Freiwilligkeitsschiene weiter denkt, dann werden sehr viele Rentenprobleme plötzlich ganz einfach; das Arbeitsleben bleibt dann je nach Job durchaus bis zum 75. oder 80. Altersjahr offen, aber anderseits müssen auch viel früher Pausen möglich sein, egal, ob für Weiterbildung oder für eine Weltreise oder für den Elternurlaub. – Es versteht sich von selber, dass für all diese Anstrengungen ein bedingungsloses Grundeinkommen das ideale Schmiermittel wäre, aber dies nur nebenbei.
So wird die Rentenfrage plötzlich zur Frage des gesamten Arbeitslebens, während die spezifischen Herausforderungen des Alters anders angegangen werden müssen. Hier sind nämlich mit der Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung Dinge entstanden, wie sie für diese Gesellschaft tatsächlich neu sind, zum Beispiel ein zehn- oder fünfzehnjähriger Freiraum, den man mehr oder weniger nach Belieben nutzen kann; aber weil es eben keine historischen Präzedenzfälle gibt, stoßen viele Leute in der Praxis hier auf echte Schwierigkeiten. Die Verlängerung der Option zu arbeiten – wie gesagt auf absolut freiwilliger Basis und unter der Voraussetzung von so genannt sinnvoller Tätigkeit – würde hier einen Beitrag zur Lösung leisten. Sie würde auch einen Beitrag leisten zum anderen Problem, das sich dann im nunmehr wirklich später eintretenden, quasi «echten» Alter immer mehr zeigt, nämlich zum geistigen Verfall, der natürlich extrem gefördert wird vom Wegfall sämtlicher gesellschaftlich anerkannter Funktionen. Und die Arbeit ist bekanntlich die gesellschaftlich anerkannte Funktion an und für sich. – Aber dieser Komplex umfasst natürlich noch weitere wichtige Elemente, und ich gehe davon aus, dass Institutionen wie eben jenes Institut für Altersvorsorge sich nicht nur mit der Finanzierungsfrage, sondern in erster Linie mit solchen inhaltlichen Bereichen befassen.