"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Das Wesentliche -

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In Zeiten anhaltender Ukraine ist es schwierig, die Gedanken auf das Wesentliche zu konzentrieren, und das ist der Ukraine-Konflikt eindeutig nicht, es sei denn, man wolle die Versuche der Nato, sich um jeden Preis an den Grenzen der russischen Föderation festzusetzen, als wesentlich erachten, aber das dürfte je länger desto weniger der Fall sein.
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12:33 min, 29 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 28.04.2014 / 11:14

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 28.04.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Schließlich können heute ja bereits Amazon oder Google mit ihren Drohnen kleine Bomben abwerfen, und zwar bei weitem nicht nur über Russland. Also ist das Nato-Getöse in erster Linie Kulissenschieberei und Theaterdonner, was allerdings auch wunderbar passt zum 450. Geburtstag von William Shakespeare; die verantwortlichen Möchtegern-Kriegs­gur­geln müssen einfach aufpassen, dass ihnen nicht das Theater abbrennt wie seinerzeit das Globe Theater, aber das sollte sich dank moderner Materialtechnik doch verhindern lassen. Also: Worum geht es denn im Moment gerade?

Unsereins hat ja gar keine Alternative, als sich auf die Nachrichten abzustützen, welche einem die Medien gerade zuhalten, und das ist unsicherer Boden, vielmehr sind es auch hier in der Regel Theaterkulissen und nicht Meldungen aus dem Reich der realen Entwicklungen. Wenn sich zum Beispiel ein neuer Landstrich in der modernen Geschichte meldet, so tut er dies in der Regel in der Form einer Katastrophenwahrnehmung mit Hunger, Elend, Krieg. Dementsprechend geprägt ist bei uns das Bild von Afrika, weil nämlich in Afrika noch die größten nicht entdeckten und aus­ge­beu­teten Regionen liegen mit Bevölkerungen, von denen die Geschichte eben noch nicht so besonders viel weiß, und das ist in der Regel gleichbedeutend mit Mangel an Entwicklung auf allen Gebieten, in erster Linie sozial, weil eine moderne Wirtschaftsform einen bestimmten Standard an sozialer Organisation voraussetzt, soweit es sich nicht um die reine Plünderung von Bodenschätzen handelt. Afrika südlich der Sahara ist nach wie vor ein Gebiet mit gewaltigen Entwicklungsmängeln. Nur ist das, was wir hier als Bürger- und Bandenkriege, Hunger und Elend wahrnehmen – und zwar nach unseren Maßstäben durchaus zu Recht –, nichts weiter als das scheußliche Begleitgeräusch einer in wahnsinnigem Tempo daher schreitenden Entwicklung. In zwanzig, dreißig Jahren werden die wichtigsten Städte Afrikas mit Magnetschwebebahnen ausgerüstet sein, darauf verwette ich einen Knoten im Taschentuch.

Durch Brasilien geht vor der Fußballweltmeisterschaft eine breite Welle an Protesten gegen allerlei faule Zustände im Staate. Wunderbar, kann ich da aus neutraler Sicht nur sagen, das ist das beste Anzeichen dafür, dass auch dort die Kraft des wahren Verlaufes ungestüm voran schreitet. Es geht den Menschen, der breiten Masse eindeutig besser; sie haben genügend Kraft, um ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen und nützen den historischen Moment mit der ganzen Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit strategisch äußerst geschickt aus. Hier würde ich gerne bei Gelegenheit mal eine Reform des Steuersystems sehen, dergestalt, dass auch die Superreichen mal einen kleinen Beitrag leisten zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben, wenn ich da mal einen Wunsch äußern dürfte oder eben als Knoten in mein Taschentuch binden.

Was ich weniger begreife, ist die eigentümliche Widerstandskraft der mittelalterlichen Stammes­strukturen in Pakistan und Afghanistan, in Teilen Arabiens und etwas weniger ausgeprägt auch noch im Balkan und im Kaukasus, gegen die Moderne. Die einzige plausible Erklärung dafür sehe ich im seit bald 40 Jahren anhaltenden Krieg, welcher in diesen Regionen wirkt wie Spiritus, in welchen alte Gesellschaftsformen konserviert werden. In den arabischen Landstrichen ist das Äquivalent zum Krieg oft der besinnungslose Reichtum, ein Phänomen einer ganz besonderen Art, mit dem wir uns vielleicht etwas intensiver beschäftigen sollten, um aus eigener Anschauung mögliche Existenzformen unter den Bedingungen des Überflusses zu studieren – denn dieser Überfluss wartet auch auf unsere Gesellschaften, soweit wir ihn nicht bereits erreicht haben. Zu Saudiarabien habe ich übrigens noch den Nachtrag zu leisten, dass meine emanzipatorische Vorfreude über die fortschreitende Gleichberechtigung der Frauen offenbar verfrüht war. Ich hatte doch tatsächlich gemeint, dass jene Wesen ohne das Wesentliche, nämlich ohne einen Pimmel, jetzt doch wenigstens die Autofahrprüfung ablegen dürfen. Pressemeldungen vom Wochenende haben mich des Gegenteils belehrt. In diesen Tagen wird wieder mal einer Unwesentlichen ihre Unwesentlichkeit mit ein paar Peitschenhieben eingebläut, eben, weil sie verbotenerweise Auto gefahren ist.

In den Ländern des Nordens findet der technisch-wirtschaftliche Fortschritt nach wie vor die besten Wachstumsbedingungen vor. Nach der Ausrottung der industriellen Aktivitäten bis auf ein paar verbliebene spezialisierte Bereiche dringt die digitale Kommunikation nun radikal auch in die letzten Ecken des Wohnraums vor. Dass wir überwacht und abgeschöpft werden, daran haben wir uns unterdessen gewöhnt, und das war wohl auch die welthistorische Mission der beiden Prota­go­nis­ten Julian Assange und Edgar Snowdon: nicht etwa die Aufdeckung dieser Tatsache, die schon längstens vorher bekannt gewesen war, sondern ihre Überführung als unumstößlicher Fakt ins öffentliche Bewusstsein, das nun halt einen Umgang damit finden muss, in aller Regel wohl in der Form, dass man sich sagt, meinen E-Mail-Verkehr kann die NSA ruhig abhören, da kommt eh nix Gescheites raus. Die unumstößliche Richtigkeit solcher Aussagen erhebt gleichzeitig das ein­zelne Individuum in den Status der absoluten Bedeutungslosigkeit, was auf einer anderen Ebene wieder etwas frustrierend ist, wie ich hier immer wieder zu bedenken gebe. Anderseits besteht die Entwicklung ja nicht einfach nur aus der Überwachung. Offenbar steht bei den Glasfaser-Ver­bin­dungen schon wieder ein Entwicklungsschritt bevor, bei dem die Übertragungsmengen von ein paar Megabits pro Sekunden auf ein paar Gigabits gesteigert werden. Die technischen Grenzen der Übertragung purzeln ebenfalls, und damit wird mindestens auf gewissen Gebieten die Omni­prä­senz eingerichtet; in Zukunft kann ich mich an jedem ans Glasfaser angeschlossenen Ort auf der Erde in meine Arbeits- und Sozialumgebung einloggen.

Ja, und warum denn nicht endlich mal aufräumen mit Erscheinungen wie Slums und Armut in den nördlichen Gesellschaften? Zwei Kräfte spielen gegenwärtig eine oft unterschätzte Rolle, die eine ist die Einstellung der so genannten Mittelschicht, nicht nur gegenüber den Vorstädten, sondern ganz allgemein, und die andere ist die Einstellung der unterprivilegierten Bevölkerung in diesen Vorstädten, welche aus dieser Benachteiligung sozusagen ein kulturelles Programm macht, anstatt ein politisches Bewusstsein zu ihrer Beseitigung zu entwickeln mit den entsprechenden Forderungen, wie man sie eben gegenwärtig in Brasilien laut und deutlich vernimmt. – Übrigens geht die Abschaffung von Gesetzen, welche Personen schwarzer Hautfarbe in den Vereinigten Staaten gewisse Privilegien gegenüber anderen verschaffen, also der Affirmative Action, in etwa in die gleiche Richtung: Wo wir doch jetzt seit 6 Jahren einen schwarzen Präsidenten haben, braucht es keine gesetzliche Privilegierung irgendwelcher Rassen mehr, lautet die Grundüberlegung hinter dieser Abschaffung, und dazu ist einfach zu sagen, dass die Grundüberlegung ohne Zweifel richtig ist, während die Praxis oder die Realität nach wie vor hinter der Grundüberlegung her hinkt. Was nichts daran ändert, dass sich die Zeiten auch in den USA deutlich spürbar verändern. – Eine dritte Kraft bildet übrigens der anhaltende Nachschub an Menschen aus älteren Sedimentsschichten der Zivilisationsentwicklung, was einfach ein konstantes Phänomen bleibt, solange es diese riesigen Unterschiede auf dem Planeten geben wird.

Obwohl die technologische Entwicklung im Norden des Planeten trotzdem munter voran geht, bleibt die ideologische Entwicklung mehr oder weniger stehen, was die Form des so genannten Backlashes annimmt, also des Ausschlags des Pendels in die entgegengesetzte Richtung. In den USA dürfte der Höhepunkt dieses Backlashes mit der Tea Party erreicht worden sein, die Gedanken befreien sich langsam wieder aus dem Käfig dieses reaktionären Tollhauses. In Europa sammelt sich das reaktionäre Gedankengut einerseits um die nationalistischen EU-Feinde, aber anderseits dringt es ganz unverschämt in die Öffentlichkeit im Kleid der Moral. Einen besonders tiefen Rülpser tat diese Moral zum Beispiel in Essen, wo das Museum Folkwang eine Balthus-Ausstellung absagen musste. Nun gut, es betraf nicht wirklich Bilder von Balthus selber, sondern Polaroids von Mädchen an der Grenze zur Geschlechtsreife, die er im hohen Alter geschossen hatte, und welchen Gewinn die LiebhaberInnen von Balthus aus solchen Polaroids ziehen sollen, bleibt ungefähr gleich verborgen wie das Wetter vom kommenden 19. Oktober. Trotzdem hätte unsereins nicht erwartet, dass ausgerechnet die angeblich linksliberale Wochenzeitung «Zeit» die Argumente des Bundes der Steuerzahler aufnimmt und schreibt «Ein staatlich finanziertes Museum gibt sich für so etwas her», was ja impliziert, dass Steuergelder immer im Sinne der herrschenden Moral zu verwenden seien, ein Argument, gegen welches die gleiche «Zeit» schon mehrere hundert Zeitungsseiten voll geschrieben hat. Aber wie auch immer: Die Pädophilie-Debatte stellt gegenwärtig den nackten Höhepunkt der Moralkampagne dar, wie man ihn sich vor fünf Jahren nicht hätte träumen lassen. – Ich kann bei dieser Gelegenheit darüber informieren, dass in der direktdemokratischen Schweiz ein paar Steuerzahler eine Volksinitiative eingereicht haben, gemäß welcher die Richter in Zukunft dafür haften sollten, wenn die von ihnen nicht zur Todesstrafe verurteilten Täter irgendwann wieder frei kommen und erneut delinquieren – da hat jemand das Rechtssystem aber von Grund auf missverstanden. In Zukunft werden die Richter für die Taten der Verurteilten gehenkt – so war das nicht gemeint. – Aber eben, die Moral beziehungsweise die Ideologie oder die öffentliche Meinung sind gegenwärtig für solchen Blumenkohl wieder voll empfänglich, bis hin zum weit ausgreifenden Nationalismus. Leider ist mit der Sowjetunion auch der Internationalismus untergegangen, auch wenn dieser sowjetische Internationalismus oft nur eine andere Bezeichnung war für die spezifisch russische Form des Imperialismus, aber in der Bevölkerung und notabene im sozialdemokratisch orientierten Teil davon hinterließ er doch seine Spuren, und wenn es nur das Bewusstsein war davon, dass die Menschen auch in anderen Ländern dieser Erde zur Arbeit gehen, weil sie keine Alternative haben; man könnte aber auch ganz nackt das Axiom ausbreiten, dass die Menschen generell in allen Ländern dieser Welt einfach Menschen sind mit ihren Bedürfnissen und Eigenheiten und dass kein Schweizer besser sei als eine Italienerin und dass eben die deutschen Kartoffeln genau so nahrhaft sind wie die mexikanischen und so weiter und so fort; aber für solche Aussagen, beziehungsweise vielleicht bald einmal noch weniger für die Aussagen, die ja immer auch Propaganda sein können, als vielmehr für solche Gedanken wandert man wohl demnächst bald einmal in den Knast. – Was für ein unendlicher, stupider Blödsinn!

Übrigens empfehle ich jenen unter Euch, welche das Werk von Herrn Balthasar Klossowski de Rola alias Balthus nicht kennen, einen Blick darauf zu werfen. Selbstverständlich ist es richtig, dass der Herr eine Vorliebe für Jungfrauen des besagten Kalibers hatte, aber damit wird die Welt, das arme Schwein, und auch das Welt- und Kulturblatt «Zeit» leben müssen, so gut wie sie mit Romanen wie «Lolita» von Nabokow leben muss. Übrigens wohnten Balthus und Nabokow Luftlinie nur gerade 10 km voneinander entfernt, allerdings nur gerade ein Jahr lang vor dem Tod von Nabokow. Balthus als Maler ist zwar ein Anhänger der kubistischen Brauntöne in seinen Bildern, aber er wird nie so richtig ungegenständlich, bloß sind einige seiner Porträts ganz oder teilweise sehr flächig, so wie gewisse Figuren im Strubelpeter.

Noch übrigenser war ich vor ein paar Wochen in einem Kunstmuseum, das unter anderem frühe Arbeiten von Silvia Bächli ausstellte, aber nicht dies fand meinen größten Gefallen, sondern eine Reihe von Stillleben aus den Beständen des Museums, welche die zuständige Kuratorin in Kontrast brachte mit Arbeiten von Blumengeschäften und FloristInnen aus der näheren Umgebung, welche die einzelnen Ausstellungssäle als Ergänzung zu den gemalten Blumensträußen ausstatteten. Ich kann euch versichern, dass ich nach wie vor nicht weiß, wieso der liebe Gott die Gattung des Stilllebens eingerichtet hat, aber wenn sie nun schon mal existiert, so ist ihre Koppelung mit echten Blumenarrangements ganz sicher eine wohlgefällige Erweiterung sowohl der Gattung als auch des Begriffs des Stilllebens.