"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Allure of the Seas -

ID 59940
 
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Ich will mich nicht mit der Frage abmühen, weshalb Kapitän Schettino immer standhaft behauptet hat, er sei nicht etwa vom sinkenden Schiff desertiert, sondern in ein Rettungsboot gefallen. In einem Land wie Italien, in dem die Wahlberechtigten volle fünf Mal Silvio Berlusconi als Regierungschef gewählt haben, kann solch eine Haltung nicht verwundern.
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10:39 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 12.11.2013 / 12:13

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 12.11.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der würde auch jemanden erschießen und laut schreien, er sei es nicht gewesen, auch wenn alle es gesehen haben; denn wenn auch nur der Schatten eines Zweifels auf seine Urheberschaft fällt, und das tun diese Schatten nun mal, indem die Zeit zwangsläufig unmittelbar nach dem Ereignis beginnt, mit Interpretationen darüber zu pinseln, Konturen zu verwischen, und meiner Treu, schon einen halben Tag nach einem solchen hypothetischen Mord durch Kapitän Schettino hätten wir schon ein Dutzend verschiedene Tatversionen von einem Dutzend Zeugen, auch wenn die Schilderung vielleicht nur in den Details abweichen täte, aber bereits solche Details können am Schluss und im Prozess den Unterschied ausmachen zwischen Mord, vorsätzlicher Tötung, fahrlässiger Tötung oder gar Notwehr oder überhaupt dem Versuch, dem Mordopfer Hilfe zu leisten. Mit anderen Worten: Schettino hat wie alle anderen Verantwortungsträger in Italien auch das Prinzip In dubio pro reo sehr gut begriffen, und abgesehen davon würde er ja auch niemanden erschießen, die paar Toten an Bord seines Schiffes zählen ja nicht, da er bekanntlich vollkommen unschuldig ist, war und sein wird, solange auch nur der Schatten eines Zweifels, und so weiter.

Das Lustige dabei ist ja nicht Schettino, sondern ich bin es selber, welcher so hartnäckig darauf beharrt, dass eine offensichtliche Tatsache eine offensichtliche Tatsache ist. Wer hat mich eigent¬lich derart abgerichtet, dass ich wie ein Bluthund der Wahrheit daher komme, obwohl ich doch ganz genau weiß, dass es die Wahrheit gar nicht gibt und dass die Costa Concordia eigentlich zum Zeitpunkt der Havarie an einem ganz anderen Ort war, zum Beispiel drei Seemeilen außerhalb von Singapur? Schettino ist doch völlig im Recht, genau so wie alle anderen, zum Beispiel die Steuer¬sün¬der, eben, angefangen mit dem Regierungschef, der seinen eigenen Staat bescheißt, laut Urteil um ein halbes Dutzend Millionen, aber alle wissen, dass es sich um ein Zehnfaches dieser Summe gehandelt hat, und zwar nur in diesem einen Fall, der überhaupt vor Gericht gekommen ist. Und das war nun wirklich ein Unfall, schlimmer als das Riff vor Giglio, denn darauf haben sich die Geld¬säcke des Erdballs verständigt, dass man die Welt so einrichtet, dass das Steueramt von der Finanz¬realität nicht die kleinste Ahnung hat. Anders kann man sich nämlich Steuersätze von 70% auf den höchsten Einkommen gar nicht vorstellen, wie sie im Moment die französische Regierung einzu¬treiben versucht. Aber auch Steuersätze von 50 und 60 Prozent, wie sie in Europa durchaus gängig sind, lassen sich nur dann durchsetzen, wenn die Einkommen längstens durch die Filter von verschiedenen Firmen und Treuhandgesellschaften geflossen sind und dort, wo sie steuerrechtlich relevant sind, nur gerade noch einen Bruchteil der effektiven Summe ausmachen. Wer also eine Million Einkommen versteuert, egal ob zu 50, 60 oder 70 Prozent, dessen tatsächliches Einkommen liegt irgendwo bei zehn oder zwanzig Millionen. Wenn es nicht so ist, müsste man ihm einen anderen Prozess machen, nämlich den wegen Dummheit.

Griechenland versucht gegenwärtig, zum ersten Mal in seiner Geschichte richtig Steuern einzu¬trei¬ben. Vor einem Jahr wurde der griechische Journalist Kostas Vaxevanis freigesprochen, nachdem man ihn verhaftet hatte wegen eines echt erschreckenden Vergehens: Er hatte die so genannte Lagarde-Liste veröffentlicht, ein Verzeichnis von rund 2000 griechischen Kontoinhabern und Steuerflüchtlingen bei der Schweizer Bank HSBC, welches Christine Lagarde der griechischen Regierung zugestellt hatte, als sie noch französische Finanzministerin war. Das ist ja undenkbar, dass man in Griechenland die Reichen besteuert, deshalb ist die Veröffentlichung einer Liste von Steuersündern ein Staatsvergehen. In den Knast mit ihm! – Demnächst kommt es zum Revisions¬pro¬zess gegen Vaxevanis. Und wenn man halt in Griechenland die Reichen nicht besteuern kann, dann braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn die normalen Bürger keinen allzu großen Bock darauf haben, Steuern zu bezahlen. Anderseits haben die einfachen Bürgerinnen und Bürger nicht die Möglichkeiten der Reichen, zum Beispiel einfach ihr Steuerdomizil zu verlegen, einmal ganz abgesehen vom täglichen Beschiss, über den vor ein paar Jahren regelmäßig berichtet wurde, von Leuten, die kein Einkommen und Vermögen deklarieren, aber 10'000 Euro Miete pro Monat abdrücken müssen oder einen Swimming Pool vor der 20-Zimmere-Villa besitzen. Deshalb geraten die Armen natürlich schnell ins Visier der Steuerkontrolleure. Das sorgt sicher für eine ausgezeichnete Stimmung im Staate Griechenland.

Wahrheit? Wo ist die Wahrheit in dieser Sache? Ich glaube, sie liegt auf der Hand. Üblicherweise wenden die reichen Privatpersonen, aber durchaus auch multinationale Unternehmen einen einfachen Trick an, wenn sie ihre Steuerlast für zu hoch halten: Sie drohen mit der Abwanderung ins Ausland. Im Fall Griechenland ist nun aber alles bereits ins Ausland abgewandert, oder wenn es noch da ist, dann kommt es aufs selbe heraus, wie wenn es ausgewandert wäre. Also ist Griechenland ein klarer Fall für eine radikale Verstaatlichung. Andere Methoden, insbesondere der Appell an irgendeine Unterabteilung von Ehrlichkeit in den aufrichtigen Staatsbürgerinnen und –bürgern, namentlich an die Steuerehrlichkeit, machen auch nach zwei Jahren intensiven Bemühungen nicht einen besonders effizienten Eindruck.

Im Fall von Kapitän Schettino liegt die Wahrheit weit abseits des Prozesses, der mit einer Ver¬ur¬teilung enden möge, nicht etwa wegen der von ihm zu verantwortenden Todesfälle, das vielleicht auch, aber vor allem wegen des Verletzens des guten Geschmacks, der öffentlichen Moral, und zwar weltweit, weil für Italien selber kaum eine Schädigung vorliegt nach, wie gesagt, der fünf¬ma¬li¬gen Wahl des Speckkegels Silvio Berlusconi. Aber diese Form der windigen Lüge verstößt im Prin¬zip gegen jene Grundlage, die dem Äquivalententausch und damit der freien Markt¬wirt¬schaft zugrunde liegt, nämlich gegen ein Minimum an gegenseitiger Verstandes-Vermutung. Macht ihm den Prozess und schickt ihn lebenslang auf ein Kreuzfahrtschiff, und zwar in den Maschinenraum, wo er bis ans Ende seiner Tage neben den pakistanischen Hilfsarbeitern Kohle schippen oder was auch immer muss für drei Tassen Reis pro Tag.

Das größte Kreuzfahrtschiff der Welt heißt Allure of the Seas, eine Meeresallüre, genauer: Ver¬loc¬kung des Meeres, und weist 2706 Zimmer auf, also ohne Mannschaftskajüten und -kombüsen, nehme ich an. Sie wurde seltsamerweise nicht in Pakistan oder Korea, sondern in Finnland gebaut und lief im Jahr 2009 vom Stapel. Das Schiff bietet unter anderem einen so genannten Central Park mit über 12'000 echten Bäumen und Pflanzen, neben all den verschiedenen Vergnügungen, denen man sich generell auf einem Kreuzfahrtschiff hingeben kann; die Zipline-Seilrutsche scheint mir hier¬bei noch eines der minderen Sorte zu sein. Laut Webseite kann man Kreuzfahrten auf diesem Schiff ab 624 Euro buchen; die 2706 Räume bieten rund 6300 Passagieren Platz, und sie werden von 2400 Besatzungs¬mitgliedern betreut, in der Regel je weiter oben, desto besser. Im Vergleich ist die Allure of the Seas ungefähr gleich groß wie die größten Megatanker und Containerfrachtschiffe oder, militärisch gesprochen, wie ein Flugzeugträger der Nimitz-Klasse. Zivil spricht man von der Oasis-Klasse. Ich gehe davon aus, dass so ein Unglück wie das der Costa Concordia sich mit der Allure of the Seas nicht mehr ereignen könnte; dieses Schiff hätte wohl gar keinen Platz zwischen dem italienischen Festland und der Insel Giglio, deren Namen mich übrigens an Gigolo erinnert und damit an jene Figur, welche Kapitän Schettino sein Aussehen geliehen hat.

Aber das stimmt gar nicht! Der Kahn ist bloß 362 Meter über alles lang und 66 Meter breit, und sein Tiefgang beträgt maximal 9.10 Meter, der könnte also locker auch auf dem Bodensee kreuzen und fahren. Dass er Ostsee-tauglich ist, hat er zwangsläufig bereits bewiesen anlässlich der Über¬stel¬lung vom finnischen Turku in seinen karibischen Heimathafen, wobei offenbar zwischen der Skagerrak-Brücke und dem obersten Punkt auf Deck nur noch 30 Zentimeter Platz übrig blieben. Aber immerhin. Und stellen wir uns mal vor, die 6000 Passagiere würden alle für eine Woche Kreuzrittertum mindestens 624 Euro hinblättern, das würde ja geradeheraus um die 4 Millionen Euro machen, also im Monat 16 Millionen, dem bei durchschnittlichen Personalkosten von sagen wir mal 2000 Euro mal 2400 Beschäftigten eine Lohnsumme von rund 5 Mio. entgegen stünden, dazu noch Nahrungsmittel, Unterhalt und alles, was halt dazu gehört, Topfpflanzen für den Central Park und so weiter, also vielleicht nochmals 2 Mio., da hätte man also im Monat 9 Millionen Betriebsgewinn, im Jahr bei einer Betriebsdauer von 10 Monaten also 90 Millionen, und das lässt die Investitionssumme von rund 1 Milliarde Franken in diese schwimmende Burg als durchaus vernünftig erscheinen.

6000 Personen auf rund 3600 Quadratmetern, das muss man sich mal vorstellen, das entspricht durchaus in etwa einem Phalanstère, einem jener Sozialpaläste, wie sie sich der Frühsozialist Fourier vorgestellt hat; bloß müsste man dann auch noch ein bisschen arbeiten, aber wenn man schon einen künstlichen Central Park anlegen kann, dann wären doch ein paar artifizielle Arbeitsplätze nicht undenkbar, nicht wahr? Also ich spreche jetzt eben nicht von jenen Drecksjobs, zu denen ich den Schettino verurteilen würde, übrigens neben dem Berlusconi, aber beim Berlusconi geht es nicht, der würde im Maschinenraum glattweg weg schmelzen, und die Todesstrafe haben wir ja abgeschafft, und wir sollen sie nicht wieder einführen, auch wenn unsere niedrigsten Instinkte manchmal danach krähen. Die Kreuzfahrtschiffe als moderne Phalanstères und Sozialpaläste – wieso denn nicht? Am Schluss könnte man solche Giganten auch an Land bauen, das wäre sogar noch billiger, die Unterhaltskosten wären geringer, und man könnte die Miete dementsprechend radikal runter hauen. Wenn man pro Woche auf so einem stationären Kreuzfahrtschiff an Land nur noch 150 Euro blechen muss, also um die 600 Euro im Monat für ein ordentliches Zimmer mit Seeblick und Vollpension, dann beginnt sich dies auch für niedrigere Einkommen zu rechnen. Die Utopie nimmt Gestalt an auf den Weltmeeren.