"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Grundeinkommen und Flassbeck -
ID 58176
In diesen Tagen erscheint ein Sammelband des runden Tisches Grundeinkommen mit dem Titel «Teil der Lösung». Es handelt sich um eine Reaktion auf die Publikation «Irrweg Grundeinkommen» des Unctad-Ökonomen Heiner Flassbeck, welcher dem bedingungslosen Grundeinkommen den Vorwurf macht, es trage nichts bei zur Beendigung der großen Umverteilung von unten nach oben.
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12:30 min, 23 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 27.08.2013 / 11:33
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Dateizugriffe: 406
Klassifizierung
Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Entstehung
AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 27.08.2013
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
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Skript
Für einmal mache ich Reklame auch in eigener Sache, wenn ich Euch das Buch «Teil der Lösung» zur Lektüre empfehle, indem ich dafür einen Beitrag verfasst habe über die Schweizer Volksinitiative zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Das Teil ist im Zürcher Rotpunkt-Verlag erschienen, und bestellen kann man es im Buchhandel oder übers Internetz. An dieser Stelle möchte ich aber nicht das Buch referieren, sondern ich benütze die Gelegenheit, um Euch jenen Beitrag zu Ohren zu bringen, den ich ursprünglich für den Sammelband geschrieben hatte, den ich dann aber zugunsten eines etwas informativeren Textes zur Seite legte. Ihr kommt nun in den exklusiven Genuss dieser ursprünglichen Version, und ich hoffe, sie hält Euch nicht davon ab, im Falle eines entsprechenden Interesses auch die andere Publikation aus dem Rotpunkt-Verlag zu erwerben. –
«Gutes von Gestern»: So heißt eine Kette, welche in Deutschland Backwaren vom Vortag für günstiges Geld an die und den, nicht besonders wohlhabendeN Frau und Mann bringt. Das nenne ich mal ein tolles Geschäftsmodell mit einem ehrlichen Slogan, da weiß man, was man hat, im Gegensatz zum billigen Jakob, welcher Informationen verramscht unter dem Titel «Fakten, Fakten, Fakten». Ich selber ziehe in der Regel Mythen den Fakten vor. Sie sind langlebig, widerstandsfähig und pflegeleicht, und sie stehen auch nicht in perfekter Konkurrenz zu anderen Fakten, welche das genaue Gegenteil besagen. «Das Grundeinkommen untergräbt das gegenseitige Vertrauen und damit den Wert des Geldes», schreiben Heiner Flassbeck et al. in ihrer Fibel «Irrweg Grundeinkommen» in ausgesprochen faktischem Ton (S. 40); «Bullshit», halte ich ebenso faktisch dagegen. «Die Unabhängigkeit des bedingungslosen Grundeinkommens vom Faktor Arbeit gründet auf der Vorstellung, man könne in einer Marktwirtschaft die Deckung der eigenen Grundbedürfnisse entkoppeln von der über den Markt vermittelten Deckung der Grundbedürfnisse der anderen Menschen», heißt es ein paar Absätze weiter (S. 42); hier vermag ich schon gar nichts mehr zu japsen angesichts der stetigen Verweise aller BefürworterInnen auf die Grundlage einer voll industrialisierten, automatisierten und globalisierten, kurz: voll arbeitsteiligen Warenproduktion, welche das Grundeinkommen ja gerade ermöglicht. Wie gesagt, ich halte mich lieber an die Mythen, welche verschiedene Sachen, unter anderem den Menschen selber, aber auch voll ausgewachsene Gemeinwesen von Menschen mit Garantie viel besser zusammen halten als ganze Tonnen von Literatur. Und als Schweizer Bürger bin ich dazu natürlich bestens berufen. Welcher andere Staat auf der Erde als die Schweiz käme wohl sonst auf die Idee, die eigene Identität rund um eine seit 1500 Jahren ausgestorbene Völkergruppe zu basteln? (Für nicht Eingeweihte: Das «CH» in der Bezeichnung für unsere Landeswährung Franken CHF steht für «Confoederatio Helvetica». Die Helvetier, pah. Immerhin begründet das einzige Auftauchen dieses gallischen Stammes in der Geschichte, nämlich im «Bellum Gallicum» von Julius Caesar, wohl auch mythologisch die Gewohnheit, ständig Niederlagen einzustecken, was sich nicht nur auf den Fußball erstreckt, sondern auch sonst eine angenehmere Variante der Zivilisationsgeschichte darstellt als das Streben nach Weltherrschaft.) – Nun gut, die norditalienischen Lega tut dies auch. Allerdings kann sie für ihre keltischen Wurzeln keine Literaturquellen vorlegen, braucht diese aber selbstverständlich auch nicht – wenn man die Bossi, Maroni und gar den stets betrunkenen Calderoli anschaut, dann reicht das völlig als Beleg für den anhaltend keltischen Charakter dieser Bewegung und ihrer Politik. Fakten, Fakten, Fakten.
Die Schweiz dagegen hat schon bei ihrer Gründung im Jahr 1291 zwei Berggipfel oberhalb des Kantonshauptortes Schwyz «Mythen» getauft, und somit sind hier sämtliche Elemente für eine gedeihliche Entwicklung sowohl des Staatswesens als auch des bedingungslosen Grundeinkommens praktisch schon in der Natur angelegt. Wir lassen uns durch keine Tatsachen aufhalten – mit Ausnahme natürlich der nackten Wahrheit. Diese steckt manchmal in den Gewehrläufen – das wissen wir ebenfalls und unterhalten deshalb nach wie vor eine Milizarmee, wobei die Wehrpflichtigen ihre Ordonnanzwaffe zuhause aufbewahren, was allerdings einige besonders tier- und friedensliebende SP-Frauen jetzt abschaffen möchten –, und manchmal steht die Wahrheit auf dem Papier. Und ich spreche jetzt nicht von Banknoten.
Es kommt nicht häufig vor, dass man die Wahrheit im oder auf Papier findet. Meistens wird dieses Medium dazu verwendet, die Verhältnisse so darzustellen, wie es den AutorInnen in den Kram passt, und/oder um sich vor dem Lesepublikum zu spreizen, wie ich dies hier gerade zu tun aufzuhören im Begriffe bin. Die polarisierte Darstellung von Tatsachen, das ist genau die Definition des Begriffs «Fakt» bzw. des erwähnten, auf den Paradejournalisten Helmut Markwort zurückgehenden Dreitakters «Fakten, Fakten, Fakten». Und damit haben wir es auch beim oben erwähnten Werk von Heiner Flassbeck et al. zu tun. Das könnte erstaunen beim Chefökonomen der UNO-Welthandels- und Entwicklungs-Organisation UNCTAD, aber hier geht es weder um Tatsachen noch um Mythen, sondern nur um Ideologie. Flassbeck zeigt sich immerhin im Gegensatz zu den Neoliberalen, welche nach der Finanz- und Wirtschaftskrise einerseits am Aussterben sind und anderseits umso radikalere Früchte und Früchtchen hervorbringen, nicht als Advokat der Demontage des Sozialstaats und damit des modernen Staats sozialdemokratischer Prägung an und für sich. Er plädiert im Gegenteil für seine Stärkung, für die Einrichtung von Mindestlöhnen (ganz im Einklang mit der sozialdemokratischen deutschen CDU-Bundeskanzlerin) und vor allem dafür, die «große Umverteilung von unten nach oben» zu beenden (so lautet der Buch-Untertitel). Das ist nun ein zunächst sympathisches Unterfangen, bei dem mich allerdings schon wieder die Feder auf dem Papier juckt und kratzt (ich bitte um Verzeihung für diese Metapher): Der Vorwurf einer seit Jahrzehnten anhaltenden Umverteilung von unten nach oben setzt bei diesem «unten» einen ungeheuren Reichtum voraus, der dann nach «oben» strömt, einen Reichtum, den ich persönlich weder im unterstellten Ausmaß noch überhaupt jemals gesehen habe. Das ist einfach Humbug, auch wenn der dahinter stehende politische Wille bzw. die entsprechende Polarisierung für einmal nicht auf das Piesacken der schwachen Bevölkerungsteile abzielt.
Die Schweiz ist, aus welchen Gründen auch immer, nach wie vor ein Volk von Mietern, und das heißt gleichzeitig, dass sich die Mietkosten wie eine Konstante im Lohn verhalten und zwischen einem Viertel und einem Drittel ausmachen. Das ist sicher mehr als im umliegenden Ausland; in Deutschland liegt der Anteil deutlich unter 20%. Weniger Abweichungen dürfte es bei der Entwicklung der Wohnfläche geben, die damit als Beleg dafür dienen kann, ob tatsächlich den Armen immer mehr abgezwackt wird und den reichen Säcken oben auf gepackt. So ein durchschnittlicher Armer müsste dementsprechend ungefähr bei 5 Quadratmetern Wohnfläche angekommen sein. Dies scheint nun aber durchaus nicht der Fall zu sein. Im Jahr 2008 hatte sich in Deutschland laut statistischem Bundesamt die Wohnfläche pro Einwohner gegenüber 1965 verdoppelt von 22 Quadratmeter auf 42.2 Quadratmeter, und dabei sei der Anstieg der Pro-Kopf-Wohnfläche bei den niedrigsten Einkommen bis zu 1100 Euro netto im Monat am größten. Seltsam, was? – Oder bei den verfügbaren Gütern: Haben die Reichen tatsächlich den Armen den Fernseher geklaut oder das Auto oder die Wurst vom Brot? – Humbug, wie gesagt. Weder in Deutschland noch in der Schweiz findet eine Umverteilung von unten nach oben statt. Oder in einer anderen Variation: Die Armen werden nicht immer ärmer (auch wenn die Reichen immer reicher werden, von gelegentlichen Rückschlägen mal abgesehen). Ganz unabhängig von allen präziseren Zahlen erhellt dies allein daraus, dass nach wie vor der Privatkonsum einen zentralen Pfeiler der Volkswirtschaft bildet. Wenn die Menschen nichts konsumieren, dann geht gar nichts. Und die Menschen konsumieren zuverlässig weiter, und zwar vor allem in den unteren Einkommensschichten – denn sobald die Nettolöhne und das verfügbare Einkommen steigen, dann setzt ein anderer Prozess ein, dann wird nämlich gespart.
Sagt nun jemand, dass die unteren Gesellschaftsschichten weniger Möglichkeiten hätten, sich ein solches Sparpolster zuzulegen? – Aber da hat er ja völlig Recht! Er hat Recht bis in die Wurzeln, bis in den Wortsinn der Definition von «unten und oben» hinein. Tatsächlich: unten ist unten und oben ist oben. Das ist nicht nur ein Fakt, sondern sogar eine Tatsache. Es grenzt an Wahrheit! – Und ebenso Recht hätte er, wenn er von der Einkommens- und Vermögensverteilung sprechen würde, wo man ebenfalls keine Statistik braucht, um gewaltige Ungleichheiten festzustellen. Sie beruhen bloß nicht auf einer Umverteilung, sondern sie sind von Natur aus da, ungefähr wie die zwei Mythen oberhalb von Schwyz. Und um diese Ungleichheiten kümmern wir uns vorderhand nicht, wenn wir für ein bedingungsloses Grundeinkommen eintreten.
Dieses Grundeinkommen bezieht seinen Namen nicht aus der Logik, also weil es Gründe dafür gibt, über ein Einkommen zu verfügen, auch wenn dies zweifellos der Fall ist; hier ist aber «Grund» gemeint als Basis, als Sockel, durchaus auch als nec plus infra. Das Grundeinkommen entspricht jenem Geld- und Einkommensbetrag, auf den sich die Gesellschaft einigt als jene Summe, die es für jede und jeden BürgerIn braucht, um ein bescheidenes, aber anständiges Leben zu führen, das die volle Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht. Zugegeben: Diese Formulierungen sind nicht übermäßig präzise. Bescheiden und anständig kann man vielleicht auch auf 22 Quadratmetern leben, und für eine echte Teilhabe an der Gesellschaft würde man zumal den Menschen in der Bundesrepublik Deutschland empfehlen, vorerst einmal die demokratischen Rechte auszubauen, das wäre schon mal hilfreich. Die wirkliche Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, zu denen ich die Debatten über Technologien, Produktionsstandorte und Strukturfragen zähle, lässt sich wohl nicht mit einer bestimmten Einkommenssumme und noch nicht einmal mit der direkten Demokratie erzielen. Von der wirklichen Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen sind die Menschen in sämtlichen entwickelten Gesellschaften noch unendlich weit entfernt. Trotzdem ist es schön, solch eine Formulierung auch mal in eine Definition des Grundeinkommens hinein zu posten, denn selbstverständlich ist ein bedingungsloses Grundeinkommen immer ein Projekt mit Vektorcharakter, eine Idee mit riesigem Entwicklungspotenzial. Aber darum geht es im Moment nicht in erster Linie.
Das Grundeinkommen muss also eine anständige Höhe haben; in Deutschland diskutiert man im Bereich von 1000 Euro pro Person und Monat, in Österreich rechnet man ungefähr im gleichen Bereich, in Frankreich liegen Zahlen um die 800 Euro auf dem Tisch. Dazu ist es bedingungslos, einE jedeR erhält es einfach aufgrund seiner rechtmäßigen Zugehörigkeit zum betreffenden Staat (also nicht nur als BürgerIn, sondern auch als ImmigrantIn, mindestens nach Ablauf gewisser Fristen). Und: Es wird individuell ausbezahlt. Diese Tatsache sorgt hin und wieder für Verwirrung, weil hier bereits im allersimpelsten Zweierverband, z.B. bei einem Paar, erhebliche Skaleneffekte entstehen. Gesetzt der Fall, Kinder erhielten die Hälfte, so würde ein Paar mit zwei Kindern dementsprechend bereits 3000 Euro pro Monat an Grundeinkommen erhalten, und zwar netto. Das ist eine anständige Summe. An dieses System muss sich das, was man den gesunden Menschenverstand nennt, zuerst einmal gewöhnen. (In Tat und Wahrheit ist es ziemlich wunderbar, dass sich der gesunde Menschenverstand daran gewöhnt hat, dass der gleiche Lohn für gleiche Arbeit einmal fünf Menschen ernähren soll und einmal nur einen einzigen, aber das ist ein anderes Kapitel.) Diese spezielle Eigenart der Bindung ans Individuum ist eigentlich das zentrale Element des ganzen Projektes: Das bedingungslose Grundeinkommen ist ein Recht. Ein Grundrecht. Mit der gesellschaftlichen Verankerung wird das bedingungslose Grundeinkommen zu einer Institution, vergleichbar anderen Institutionen der modernen Gesellschaft wie die Justiz usw.
Jawohl, so sah der erste Beitrag zum Flassbeck aus. Wenn ihr meinen zweiten sowie viele gescheite und weniger gescheite, aber auch noch gescheitere, wo nicht gescheiterte zum Thema im besagten Sammelband lesen wollt, dann nix wie los zum Peterknecht oder in den Hugendubel oder halt eben auf Amazon. Ganz wie es euch beliebt.
«Gutes von Gestern»: So heißt eine Kette, welche in Deutschland Backwaren vom Vortag für günstiges Geld an die und den, nicht besonders wohlhabendeN Frau und Mann bringt. Das nenne ich mal ein tolles Geschäftsmodell mit einem ehrlichen Slogan, da weiß man, was man hat, im Gegensatz zum billigen Jakob, welcher Informationen verramscht unter dem Titel «Fakten, Fakten, Fakten». Ich selber ziehe in der Regel Mythen den Fakten vor. Sie sind langlebig, widerstandsfähig und pflegeleicht, und sie stehen auch nicht in perfekter Konkurrenz zu anderen Fakten, welche das genaue Gegenteil besagen. «Das Grundeinkommen untergräbt das gegenseitige Vertrauen und damit den Wert des Geldes», schreiben Heiner Flassbeck et al. in ihrer Fibel «Irrweg Grundeinkommen» in ausgesprochen faktischem Ton (S. 40); «Bullshit», halte ich ebenso faktisch dagegen. «Die Unabhängigkeit des bedingungslosen Grundeinkommens vom Faktor Arbeit gründet auf der Vorstellung, man könne in einer Marktwirtschaft die Deckung der eigenen Grundbedürfnisse entkoppeln von der über den Markt vermittelten Deckung der Grundbedürfnisse der anderen Menschen», heißt es ein paar Absätze weiter (S. 42); hier vermag ich schon gar nichts mehr zu japsen angesichts der stetigen Verweise aller BefürworterInnen auf die Grundlage einer voll industrialisierten, automatisierten und globalisierten, kurz: voll arbeitsteiligen Warenproduktion, welche das Grundeinkommen ja gerade ermöglicht. Wie gesagt, ich halte mich lieber an die Mythen, welche verschiedene Sachen, unter anderem den Menschen selber, aber auch voll ausgewachsene Gemeinwesen von Menschen mit Garantie viel besser zusammen halten als ganze Tonnen von Literatur. Und als Schweizer Bürger bin ich dazu natürlich bestens berufen. Welcher andere Staat auf der Erde als die Schweiz käme wohl sonst auf die Idee, die eigene Identität rund um eine seit 1500 Jahren ausgestorbene Völkergruppe zu basteln? (Für nicht Eingeweihte: Das «CH» in der Bezeichnung für unsere Landeswährung Franken CHF steht für «Confoederatio Helvetica». Die Helvetier, pah. Immerhin begründet das einzige Auftauchen dieses gallischen Stammes in der Geschichte, nämlich im «Bellum Gallicum» von Julius Caesar, wohl auch mythologisch die Gewohnheit, ständig Niederlagen einzustecken, was sich nicht nur auf den Fußball erstreckt, sondern auch sonst eine angenehmere Variante der Zivilisationsgeschichte darstellt als das Streben nach Weltherrschaft.) – Nun gut, die norditalienischen Lega tut dies auch. Allerdings kann sie für ihre keltischen Wurzeln keine Literaturquellen vorlegen, braucht diese aber selbstverständlich auch nicht – wenn man die Bossi, Maroni und gar den stets betrunkenen Calderoli anschaut, dann reicht das völlig als Beleg für den anhaltend keltischen Charakter dieser Bewegung und ihrer Politik. Fakten, Fakten, Fakten.
Die Schweiz dagegen hat schon bei ihrer Gründung im Jahr 1291 zwei Berggipfel oberhalb des Kantonshauptortes Schwyz «Mythen» getauft, und somit sind hier sämtliche Elemente für eine gedeihliche Entwicklung sowohl des Staatswesens als auch des bedingungslosen Grundeinkommens praktisch schon in der Natur angelegt. Wir lassen uns durch keine Tatsachen aufhalten – mit Ausnahme natürlich der nackten Wahrheit. Diese steckt manchmal in den Gewehrläufen – das wissen wir ebenfalls und unterhalten deshalb nach wie vor eine Milizarmee, wobei die Wehrpflichtigen ihre Ordonnanzwaffe zuhause aufbewahren, was allerdings einige besonders tier- und friedensliebende SP-Frauen jetzt abschaffen möchten –, und manchmal steht die Wahrheit auf dem Papier. Und ich spreche jetzt nicht von Banknoten.
Es kommt nicht häufig vor, dass man die Wahrheit im oder auf Papier findet. Meistens wird dieses Medium dazu verwendet, die Verhältnisse so darzustellen, wie es den AutorInnen in den Kram passt, und/oder um sich vor dem Lesepublikum zu spreizen, wie ich dies hier gerade zu tun aufzuhören im Begriffe bin. Die polarisierte Darstellung von Tatsachen, das ist genau die Definition des Begriffs «Fakt» bzw. des erwähnten, auf den Paradejournalisten Helmut Markwort zurückgehenden Dreitakters «Fakten, Fakten, Fakten». Und damit haben wir es auch beim oben erwähnten Werk von Heiner Flassbeck et al. zu tun. Das könnte erstaunen beim Chefökonomen der UNO-Welthandels- und Entwicklungs-Organisation UNCTAD, aber hier geht es weder um Tatsachen noch um Mythen, sondern nur um Ideologie. Flassbeck zeigt sich immerhin im Gegensatz zu den Neoliberalen, welche nach der Finanz- und Wirtschaftskrise einerseits am Aussterben sind und anderseits umso radikalere Früchte und Früchtchen hervorbringen, nicht als Advokat der Demontage des Sozialstaats und damit des modernen Staats sozialdemokratischer Prägung an und für sich. Er plädiert im Gegenteil für seine Stärkung, für die Einrichtung von Mindestlöhnen (ganz im Einklang mit der sozialdemokratischen deutschen CDU-Bundeskanzlerin) und vor allem dafür, die «große Umverteilung von unten nach oben» zu beenden (so lautet der Buch-Untertitel). Das ist nun ein zunächst sympathisches Unterfangen, bei dem mich allerdings schon wieder die Feder auf dem Papier juckt und kratzt (ich bitte um Verzeihung für diese Metapher): Der Vorwurf einer seit Jahrzehnten anhaltenden Umverteilung von unten nach oben setzt bei diesem «unten» einen ungeheuren Reichtum voraus, der dann nach «oben» strömt, einen Reichtum, den ich persönlich weder im unterstellten Ausmaß noch überhaupt jemals gesehen habe. Das ist einfach Humbug, auch wenn der dahinter stehende politische Wille bzw. die entsprechende Polarisierung für einmal nicht auf das Piesacken der schwachen Bevölkerungsteile abzielt.
Die Schweiz ist, aus welchen Gründen auch immer, nach wie vor ein Volk von Mietern, und das heißt gleichzeitig, dass sich die Mietkosten wie eine Konstante im Lohn verhalten und zwischen einem Viertel und einem Drittel ausmachen. Das ist sicher mehr als im umliegenden Ausland; in Deutschland liegt der Anteil deutlich unter 20%. Weniger Abweichungen dürfte es bei der Entwicklung der Wohnfläche geben, die damit als Beleg dafür dienen kann, ob tatsächlich den Armen immer mehr abgezwackt wird und den reichen Säcken oben auf gepackt. So ein durchschnittlicher Armer müsste dementsprechend ungefähr bei 5 Quadratmetern Wohnfläche angekommen sein. Dies scheint nun aber durchaus nicht der Fall zu sein. Im Jahr 2008 hatte sich in Deutschland laut statistischem Bundesamt die Wohnfläche pro Einwohner gegenüber 1965 verdoppelt von 22 Quadratmeter auf 42.2 Quadratmeter, und dabei sei der Anstieg der Pro-Kopf-Wohnfläche bei den niedrigsten Einkommen bis zu 1100 Euro netto im Monat am größten. Seltsam, was? – Oder bei den verfügbaren Gütern: Haben die Reichen tatsächlich den Armen den Fernseher geklaut oder das Auto oder die Wurst vom Brot? – Humbug, wie gesagt. Weder in Deutschland noch in der Schweiz findet eine Umverteilung von unten nach oben statt. Oder in einer anderen Variation: Die Armen werden nicht immer ärmer (auch wenn die Reichen immer reicher werden, von gelegentlichen Rückschlägen mal abgesehen). Ganz unabhängig von allen präziseren Zahlen erhellt dies allein daraus, dass nach wie vor der Privatkonsum einen zentralen Pfeiler der Volkswirtschaft bildet. Wenn die Menschen nichts konsumieren, dann geht gar nichts. Und die Menschen konsumieren zuverlässig weiter, und zwar vor allem in den unteren Einkommensschichten – denn sobald die Nettolöhne und das verfügbare Einkommen steigen, dann setzt ein anderer Prozess ein, dann wird nämlich gespart.
Sagt nun jemand, dass die unteren Gesellschaftsschichten weniger Möglichkeiten hätten, sich ein solches Sparpolster zuzulegen? – Aber da hat er ja völlig Recht! Er hat Recht bis in die Wurzeln, bis in den Wortsinn der Definition von «unten und oben» hinein. Tatsächlich: unten ist unten und oben ist oben. Das ist nicht nur ein Fakt, sondern sogar eine Tatsache. Es grenzt an Wahrheit! – Und ebenso Recht hätte er, wenn er von der Einkommens- und Vermögensverteilung sprechen würde, wo man ebenfalls keine Statistik braucht, um gewaltige Ungleichheiten festzustellen. Sie beruhen bloß nicht auf einer Umverteilung, sondern sie sind von Natur aus da, ungefähr wie die zwei Mythen oberhalb von Schwyz. Und um diese Ungleichheiten kümmern wir uns vorderhand nicht, wenn wir für ein bedingungsloses Grundeinkommen eintreten.
Dieses Grundeinkommen bezieht seinen Namen nicht aus der Logik, also weil es Gründe dafür gibt, über ein Einkommen zu verfügen, auch wenn dies zweifellos der Fall ist; hier ist aber «Grund» gemeint als Basis, als Sockel, durchaus auch als nec plus infra. Das Grundeinkommen entspricht jenem Geld- und Einkommensbetrag, auf den sich die Gesellschaft einigt als jene Summe, die es für jede und jeden BürgerIn braucht, um ein bescheidenes, aber anständiges Leben zu führen, das die volle Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht. Zugegeben: Diese Formulierungen sind nicht übermäßig präzise. Bescheiden und anständig kann man vielleicht auch auf 22 Quadratmetern leben, und für eine echte Teilhabe an der Gesellschaft würde man zumal den Menschen in der Bundesrepublik Deutschland empfehlen, vorerst einmal die demokratischen Rechte auszubauen, das wäre schon mal hilfreich. Die wirkliche Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, zu denen ich die Debatten über Technologien, Produktionsstandorte und Strukturfragen zähle, lässt sich wohl nicht mit einer bestimmten Einkommenssumme und noch nicht einmal mit der direkten Demokratie erzielen. Von der wirklichen Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen sind die Menschen in sämtlichen entwickelten Gesellschaften noch unendlich weit entfernt. Trotzdem ist es schön, solch eine Formulierung auch mal in eine Definition des Grundeinkommens hinein zu posten, denn selbstverständlich ist ein bedingungsloses Grundeinkommen immer ein Projekt mit Vektorcharakter, eine Idee mit riesigem Entwicklungspotenzial. Aber darum geht es im Moment nicht in erster Linie.
Das Grundeinkommen muss also eine anständige Höhe haben; in Deutschland diskutiert man im Bereich von 1000 Euro pro Person und Monat, in Österreich rechnet man ungefähr im gleichen Bereich, in Frankreich liegen Zahlen um die 800 Euro auf dem Tisch. Dazu ist es bedingungslos, einE jedeR erhält es einfach aufgrund seiner rechtmäßigen Zugehörigkeit zum betreffenden Staat (also nicht nur als BürgerIn, sondern auch als ImmigrantIn, mindestens nach Ablauf gewisser Fristen). Und: Es wird individuell ausbezahlt. Diese Tatsache sorgt hin und wieder für Verwirrung, weil hier bereits im allersimpelsten Zweierverband, z.B. bei einem Paar, erhebliche Skaleneffekte entstehen. Gesetzt der Fall, Kinder erhielten die Hälfte, so würde ein Paar mit zwei Kindern dementsprechend bereits 3000 Euro pro Monat an Grundeinkommen erhalten, und zwar netto. Das ist eine anständige Summe. An dieses System muss sich das, was man den gesunden Menschenverstand nennt, zuerst einmal gewöhnen. (In Tat und Wahrheit ist es ziemlich wunderbar, dass sich der gesunde Menschenverstand daran gewöhnt hat, dass der gleiche Lohn für gleiche Arbeit einmal fünf Menschen ernähren soll und einmal nur einen einzigen, aber das ist ein anderes Kapitel.) Diese spezielle Eigenart der Bindung ans Individuum ist eigentlich das zentrale Element des ganzen Projektes: Das bedingungslose Grundeinkommen ist ein Recht. Ein Grundrecht. Mit der gesellschaftlichen Verankerung wird das bedingungslose Grundeinkommen zu einer Institution, vergleichbar anderen Institutionen der modernen Gesellschaft wie die Justiz usw.
Jawohl, so sah der erste Beitrag zum Flassbeck aus. Wenn ihr meinen zweiten sowie viele gescheite und weniger gescheite, aber auch noch gescheitere, wo nicht gescheiterte zum Thema im besagten Sammelband lesen wollt, dann nix wie los zum Peterknecht oder in den Hugendubel oder halt eben auf Amazon. Ganz wie es euch beliebt.