"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Wollt ihr die totale Wahlprognose -

ID 57160
 
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Wollt Ihr die totale Wahlprognose? Die exakten Ergebnisse vom 22. September? – Da müsst Ihr Euch an die Wirtschaftswissenschaftler wenden, die haben Erfahrung und Fachwissen im Bereich Hellsehen und dunkel Schwadronieren.
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10:10 min, 19 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 16.07.2013 / 08:31

Dateizugriffe: 521

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 16.07.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Eines aber ist gewiss: Wenn China seine Währungsreserven von ich weiß nicht wie vielen Billionen US-Dollar halbwegs gezielt und geplant einzusetzen beginnt und dabei auch noch die verschiedenen Hebel an den Kapitalmärkten einsetzt, dann übernimmt die Volksrepublik in den nächsten fünf Jahren die Kontrolle über die Weltwirtschaft. Und ebenso gewiss ist, dass sich dabei an den Abläufen grundsätzlich nichts ändern wird; die Unterschiede zeigen sich dort, wo die Chinesen andere globale Schwerpunkte setzen, mit anderen Worten, wenn die Chinesen die Führungsposition auf der Welt einnehmen, dürfte davon zum Beispiel Afrika profitieren. Neben den Rohstoffen stehen oft strukturschwache Bereiche und Regionen im Zentrum der chinesischen Aufmerksamkeit, wo die Aufmerksamkeit der aktuellen Wirtschafts-Supermächte gegenwärtig nicht so groß ist. Das kann zu durchaus lustigen Ergebnissen führen, und wir unterhalten uns nach den Wahlen wieder darüber.

Für die Wahlen selber steht das Ergebnis mindestens in den Grundsätzen jetzt schon fest: Die sozialdemokratische Politik wird unbeirrt fortgesetzt, mit großer Wahrscheinlichkeit in der Form einer Bestätigung der Regierung Merkel, aber vielleicht auch unter Beizug der SPD, das wäre natürlich sehr schön, Peer Steinbrück als Vizekanzler, das macht doch was her. Wobei an dieser Stelle anzufügen ist, dass es um Guide Westerwelle seit, was soll ich sagen: zwei Jahren so ruhig geworden ist, dass sich die Balken biegen, und insofern wäre nicht einmal etwas einzuwenden gegen eine Neuauflage der schwarz-gelben Koalition, einfach unter Einhaltung des Wester­welle­schen Schweigegelübdes. Sicherheitshalber erinnere ich aber nochmals daran, was für ein Krakeeler dieser Vogel war, bevor er sein Amt antrat, wie seine bratpfannenbewehrten Arme bei sämtlichen Hundsverlochereien gegeneinander schwangen, wie er von der Spaßpartei über den Ultraliberalismus bis zu Steuergeschenken an seine Kumpel alles begeistert mitgetragen hat, was den Marketing­beratern gerade durch den Kopf zischte als politische Strategie – man muss ja nicht annehmen, dass dieser Prototyp eines Geiz-ist-Geil-Gaudi-Politikers im Falle einer Abwahl erneut in der früheren Form zur Landplage der Deutschen wird, aber es wäre ein Argument dafür, sicherheitshalber doch die FDP wieder in den Bundestag zu wählen.

Das ist denn auch der einzige Bereich, wo es am 22. September noch Fingernagelkauen und Achselschweiß geben wird. Macht die FDP ihre 5%? Und in etwas geringerem Maße: Wo bleibt die Linke? – Mit den Piraten hat man wohl nicht mehr zu rechnen, was ich natürlich schade finde, vor allem, weil sie als einzige für ein bedingungsloses Grundeinkommen eintreten. Aber manchmal habe ich den Eindruck, dass dieses Konzept im Moment noch nicht in den richtigen Köpfen angekommen ist. In Italien war das bedingungslose Grundeinkommen fast der einzige Programmbestandteil des lauthals krakeelenden Satirikers Beppe Grillo, der nach dem gewaltigen Erfolg bei den Wahlen anfangs dieses Jahres nun wieder am Verschwinden ist, und somit könnte man sagen, dass das bedingungslose Grundeinkommen dazu beigetragen hat, dass Berlusconi weiterhin seine Finger im Spiel hat in Italien. Aber das ist ein anderes Kapitel. Ansonsten werden die Grünen 15%, die Roten 20% und die Schwarzen 40% der Wählerstimmen erhalten, die Linke zwischen 5 und 10% und die FDP zwischen 0 und 5%. So, das wars, Ihr könnt nach Hause gehen. Bzw. dort bleiben. Der Mindestlohn wird kommen, die Kapitaltransaktionssteuer, je nachdem, wie sich die Engländer verhalten, Form und Umfang verschiedener Maßnahmen zur Unterstützung von ärmeren Familien und allein erziehenden Müttern geben weiterhin Anlass zu raumgreifenden Studien und stundenlangen Debatten im Bundestag, und insgesamt wird sich die Regierung auch in der nächsten Legislaturperiode zum Ziel setzen, möglichst viele Arbeitsplätze zu schaffen, weil ihr sonst nichts anderes einfällt, genau gleich wie allen anderen Regierungen auf dieser Welt, in welcher die globalisierte Vollautomatisierung längstens für Wohlstand ohne Arbeit gesorgt hat.

Allerdings wäre es ein heikles Ding, der Arbeit abzuschwören. In mühsamer Kleinarbeit ist es in den letzten 200 Jahren gelungen, aus faulen rechtlosen Untertanen eine Gesellschaft voller zivilisierter Konsumentinnen heranzuzüchten, vor allem dank ihrer Arbeitsmoral, an welche sich über den Transmissionsriemen einer halbwegs tauglichen Gerechtigkeitsvorstellung auch eine haltbare Steuermoral anknüpft, und wenn man das jetzt einfach so preisgibt, dann läuft man Gefahr, dass die Menschen wieder in die Trägheit zurückfallen, welche sie in früheren Zeiten geprägt hat. Das jedenfalls behaupten die Gegner jeglicher Umverteilung und vor allem eines Ausbaus des Sozialstaates immer wieder. Sie haben zwar nicht in diesem Punkt Recht, aber doch darin, dass der Verzicht auf die Erwerbsarbeit nichts anderes bedeuten würde als den Verlust eines gesamten, um­fas­senden Verhaltensmusters und damit auch eines umfassenden Sinnsystems, welches unterdessen ganze Generationen geprägt hat, inklusive die verschiedenen Kodizes und Vorstellungen bezüglich sozialen Aufstiegs und so weiter. Und das ist nicht wenig. Mit anderen Worten: Was so aussieht wie Wirtschaftspolitik, ist in Tat und Wahrheit Sozialpolitik – nicht im Sinne einer Umverteilung von Reich zu Arm, sondern im Sinne des Erhalts eines gesellschaftlichen Sinngefüges, das es locker mit den großen Weltreligionen aufnehmen kann. Nun – die Religion haben wir unterdessen in den Status einer Freizeitbeschäftigung versetzt, also wird uns dies mit der Arbeit bei Gelegenheit wohl auch gelingen, aber bis es soweit ist, kann das noch dauern, und da mit der Arbeit bzw. der auf Arbeit beruhenden Verteilung immer auch Pfründe und Interessen verbunden sind, werden sich die Inhaber dieser Privilegien so lange gegen einen Umbau des Arbeitssystems sperren, wie ihnen dies nur möglich ist.

Ideologisch gesehen braucht es aber vor allem einen Gegenentwurf zum Arbeitskonzept. Selbst­verständlich bietet sich zuerst der Begriff der Tätigkeit an, der selbst bestimmten Arbeit; aber ohne eine Einbettung in die globalen Aktivitäten nützt uns das noch nicht viel. Will sagen: Es muss ein Konsens her darüber, wer die verbleibenden Grundarbeiten verrichtet zur Wartung der Maschinen, zur Gewinnung der Rohstoffe und der Energie, vor allem aber in den Bereichen Forschung und Entwicklung. Diesen Konsens erreicht man nun nicht durch Verhandlungen im Rahmen der G20, sondern er stellt sich allmählich ein in einer Mischung aus wirtschaftlichen Entwicklungen sowie intellektuellen Einsichten, welche sich nach und nach zu politischen Forderungen oder Vorstellungen konkretisieren.

Man kann diese Vorstellungen auch auf der passiven Seite formulieren, denn hier muss sich in der Gesellschaft ebenfalls ein wichtiger Schritt ereignen. Es geht schlicht und einfach darum, was die Menschen tun würden, wenn sie nicht mehr arbeiten müssten. Man kann davon ausgehen, dass sich spätestens nach der fünften Kreuzfahrt die Sinnfrage stellt. Was soll das alles? Schließlich möchte man nicht so enden wie die Jetsetterinnen in Cannes, Malibu und St. Moritz. Nein, der Sinn des Lebens liegt eindeutig nicht im Verprassen von Zeit und Geld, sondern, neben Muße und Genuss, in irgendwelchen, na ja, eben: sinnvollen Tätigkeiten. Sie müssen übrigens nicht unbedingt produktiv sein, aber einen gewissen Nutzen, eine gewisse Gestalt müssen sie schon haben.

Mehr als dieses Rezept braucht es als Grundlage wohl nicht. Für die weiteren Fragen, insbesondere bezüglich der sozialen Wertigkeit, konkret nach der sozialen Stellung, welche aus solchen Aktivitäten entsteht, ist nicht die Abteilung Theorie zuständig; die zukünftigen gesellschaftlichen Widersprüche wollen wir nicht lösen, bevor wir nicht mal die gegenwärtigen in den Grundzügen formuliert haben. Aber immerhin gibt die Vorstellung Stoff ab für ein paar Träume. Was würde man wohl tun, wenn man ausreichend Zeit zur Verfügung hätte? Und welche Mittel würde es dazu benötigen? Und wie könnte man sich diese Mittel beschaffen?

Glücklicherweise gibt es dafür weder heute noch in Zukunft Patentrezepte, sonst wäre das Leben ja schön langweilig. Und mit dieser Aussage gilt gleichzeitig, dass eine gewisse Portion Pech und Unglück auch zum großen Spiel gehört.

Aber sprechen wir von was anderem. Ihr habt es wohl auch vernommen, dass die mit humanitären Wattebäuschchen um sich werfenden Rebellen in Syrien jetzt endlich begonnen haben, sich gegenseitig umzubringen. Ich will nicht behaupten, dass mir dies eine tiefe Befriedigung verschafft, aber dass die eingebettete Kriegsberichterstattung einen ordentlichen Knicks in der Fahnenstange erhalten hat, das gefällt mir dann eben doch wieder, um so mehr, als ich nie und nirgends einen Grund für die einhellige Zuweisung von Gut und Böse im Syrien-Konflikt gefunden habe. Entweder ist alles genau umgekehrt, wie der NSA-Spion Snowdon angibt, und die USA brauchen gar niemanden in Europa auszuspionieren, weil die ohnehin alles nachplappern oder vor-vollziehen, was aus Washington an Intelligence kommt, oder aber die Damen und Herren Kriegsreporterinnen und Islam-Experten haben sich mit ihren Vorurteilen derart gründlich verstiegen, dass sie schon gar nicht mehr anders können, als der öffentlichen Meinung ein Stereotyp nach dem anderen aufs Auge zu kleben. Dieser Konsens von JournalistInnen und Medien unterscheidet sich eigentlich in keinem bisschen mehr von Castingshows wie Deutschland sucht den Superstar.

Ich bin nicht in der Lage, ein gerechtes oder auch nur korrektes Urteil über die Lage zwischen Saudiarabien und dem Libanon abzugeben. Aber soviel Einsichtsvermögen besitze ich noch, dass ich die angebliche Berichterstattung über den Bürgerkrieg in Syrien als pure Anhäufung von Vorurteilen zu erkennen vermag, welche beiläufig alle die Interessensachse Washington-Riad unterstützen. Das ist einfach doof, und aus neutraler Sicht bleibt einem überhaupt nichts anderes übrig, rein aus Prinzip dagegenzuhalten und mindestens die russische Position in diesem Konflikt zur Geltung zu bringen. Die Gasprom-Deals von Schalke und Schröder können mir gestohlen bleiben, aber im Syrien-Konflikt ergreife ich ganz neutral Partei für Moskau.

Kommentare
22.07.2013 / 10:57 hikE, Radio Unerhört Marburg (RUM)
in Frühschicht 22.7.2013
gesendet. Danke!