"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Summertime -

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Die heranbrausende Urlaubszeit wird auch dieses Jahr nicht nur Meer und Schnaps bringen, sondern auch Abwechslung für die Nase, man schmiert Sonnencrème drauf und steckt sie anschließend in ein Buch, bis einem dieses aus den Händen fällt. Im Sommer übermannt einen der Schlaf mitten in der größten Spannung.
Audio
10:46 min, 20 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 02.07.2013 / 09:41

Dateizugriffe: 292

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 02.07.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Oder vielleicht auch nicht; vielleicht döst man eher dort weg, wo gerade nicht so viel los ist, wo die Dialoge auseinander dröseln und wo der Nebel in die Talschaften zieht, während rund um die Liegestühle die Schlacht der zehntausend Kinder tobt. Der Lärm der Kinder vereint sich dann mit der kleinen Meeres­bran­dung zu einem idealen Hintergrundrauschen, gegen welches ein durchschnittlicher Krimi kaum eine Chance hat, wenn nicht gerade ein Mord in Aussicht steht. Aber die durch­schnitt­liche Strandgängerin liest ja nicht nur Kriminalromane; sehr beliebt sind auch höherwertige zeitgeschichtliche Werke, ich erinnere an den 100-Jährigen, der aus dem Fenster stieg und verschwand und sich dann monate-, wo nicht jahrelang auf den Bestsellerlisten hielt, was sicher seiner Doppelstruktur zu verdanken war, indem zu Beginn die Kriminalgroteske für Unter­haltung sorgt und anschließend die verschiedenen Zusammentreffen mit mehreren Größen der Weltgeschichte. Da rauscht nicht nur das Meer, da rauscht eben auch der Welt­geist irgendwo in näherer oder weiterer Entfernung, und das erhebt und erbaut die Leserin­nen­schaft. Ich selber bin im Moment gerade an den Hundsköpfen von Morten Ramsland, wo zwar vorderhand noch keine weltgeschichtliche Prominenz aufgekreuzt ist, aber doch immer­hin die obligate Nazi-Schnurre, welche auch im Jahr 2013 noch ebenso gut für Würze sorgt wie vor fuffzich Jahren, allerdings heute nur noch eher beiläufig und wie ein Zitat oder eben, wie ein Gewürz, das ansonsten für die Geschichte nicht so übermäßig wichtig ist. Wenn schon keinen Stalin und Mao, dann doch mindestens ein KZ mit den Schweinehunden von Auf­se­hern, welche die Häftlinge dazu zwingen, sich gegenseitig umzubringen, was dann für den Rest des Buches die Traumatisierung einer der Hauptfiguren erlaubt, ohne dass man sich anderweitig psychologisch die Finger dreckig machen muss.

Ja, solche Romane passen deutlich besser zum zeitgenössischen Leser als der einfache Krimi, an den ich mich noch in der Form von Jerry Cotton erinnere, was zwar eine ziemlich missliche FBI-Klischeefigur war, aber damals doch perfekt zugeschneidert erschien auf das Strandleben; diese unendliche Reihe war eindeutig ein Vorläufer von Fernseh-Krimiserien wie CSI oder dem Mentalisten oder Bones usw. usf., hat aber auch das ewig währende Verdienst, dem Wiener Ermittler Adolf Kottan zu seinem Namen verholfen zu haben. – Etwas später hat man die schwarzen Krimis aus den Nachkriegs-USA wieder entdeckt, Dashiell Hammett, Raymond Chandler und so weiter, und für die aktuelle Publikums­form gibt es einige Krimi-Vorläufer mit halbwegs zeitkritischen Inhalten wie z.B von Rita Mae Brown. Heute sehe ich klare Bezüge zu den Formvorschlägen der klassischen Romane, und das soll mir natürlich recht sein; ich sage immer, wenn die Populärliteratur mit der Zeit die Entwicklungen der E-Literatur nachvollzieht, dann ist demnächst mal die Zeit auch reif für den ersten atonalen Musikschlager. Wenn man so will, ist der im Rahmen der Techno-Musik bereits vor zwanzig Jahren durch die Lautsprecher gedröhnt, aber so richtig mikro-minimesimal seriell und aleatorisch habe ich noch keinen eigenständigen Hit gehört.

Jedenfalls hat sich das Schwergewicht der Produktion von sozusagen gehobenerer Unter­hal­tungs­literatur mit Unterhaltungs-, wo nicht Spannungseffekt durchaus nach Skandinavien verschoben bis hin zu den schicksalsschwangeren Kriminalromanen und Filmen, zum Beispiel von Stig Larsen oder auch nur die Serie von Kommissarin Lund, die, meiner Treu, wirklich gut gemacht ist und immer wieder neue Türen aufstößt zu möglichen politischen Verschwörungen, als würde die ganze Geschichte in Italien spielen und nicht in Dänemark.

A propos Urlaub: Die letzte Woche war in Italien wieder mal sehr Berlusconi-haltig, wie Ihr sicher mitgekriegt habt. Es gab einen Fortschritt im Zivilprozess um die Übernahme des Verlagshauses Mondadori, bei dem Berlusconi seinen Konkurrenten Carlo De Benedetti ausstach, indem er die zuständigen Richter von seinem Mittelsmann Cesare Previti schmieren ließ – dieser wurde dafür unterdessen zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Jetzt erging das Urteil, dass Berlusconi an De Benedetti etwa 600 Mio. Euro an Gutmachung bezahlen muss. Selbstverständlich geht der Prozess in Berufung. Sodann wurde der alte Possenreißer in erster Instanz zu 7 Jahren Gefängnis verurteilt wegen Prostitution von Minderjährigen und solcher Dinge, kurz wegen der Affäre mit der minderjährigen Ruby Rubacuore, die Euch sicher auch bekannt ist. Und dann tauchte sein Name selbstverständlich ebenfalls auf in der Geschichte rund um die Geldwäscherei-Affäre der Vatikanbank, wo er in irgendeinem der Gremien sitzt, welches in das Geschäft verwickelt war. Und dann gab einer jener Senatoren, welche im Jahr 2006 für den Sturz der Regierung Prodi gesorgt hatten, öffentlich zu, dass er von Berlusconi 3 Mio. Schmiergeld erhalten habe für seine Stör- und Spionieraktivitäten. Was soll man da sagen: Nichts Neues, der Urlaub kann beginnen.

Unabhängig von diesem Intermezzo würde ich mich freuen, wenn in der Unterhaltungs­indus­trie jene todlangweiligen Krimiserien wie CSI Miami, CSI New York, CSI was auch immer ihren verdienten Abgang nähmen und durch andere Ware ersetzt würden, die mindestens ein wenig anspruchsvoller daher kommen. Der Spannungsbogen Mord – kriminaltechnische Untersuchung – Verhaftung müsste längst erschöpft sein. Wer guckt sich diese Wiederkehr des ewig Gleichen überhaupt noch an? Die Arbeitshypothese lautet: Niemand; diese Serien dienen nur dazu, die Zeitlöcher zu stopfen zwischen den echten Programmschwerpunkten, als da wären Sport, richtige Filme sowie Soaps und Shows. Allenfalls haben sie noch jene Funktion, mit ihrer Tonspur jenes Hintergrundrauschen zu imitieren, das wir uns vom Meer her gewohnt sind. Und vielleicht dienen sie auch als Schulbeispiel dafür, wie man Spannung ums Verrecken nicht aufbauen sollte oder wie man Handlung nicht abspulen sollte.

Das erinnert mich an jenen alten Konflikt aus der künstlerischen Darstellung, jenen zwischen Handlung und Beschreibung. Die Hochkunst verlässt gerne den trivialen Handlungsbogen und widmet sich ganz ausschließlich irgendwelchen Beschreibungen. Das kann nun ebenfalls todlangweilig werden, es kann aber auch zum Schießen lustig oder zum Lernen einsichtsvoll sein. In der Regel bewegen sich die Werke irgendwo zwischen den beiden Polen. Letzthin habe ich den Film «The Master» gesehen, in welchem Philip Seymour Hofmann den Führer eines Sekten-Unternehmens spielt, in dem verschiedene Kritikerinnen die Organisation «Scientology» erkennen wollen, was ich für durchaus nicht gesichert und für absolut unwichtig halte, denn der zentrale Punkt ist der, dass der Sekten-Unternehmensführer auf einen Charakter prallt und mit ihm fusioniert, der weder mit der Sekte noch mit sonst etwas irgend ein kleines Teilchen gemein hat, nämlich einen ehemaligen US-Soldaten, der sich mit selber destilliertem Fusel mindestens die Hälfte der Gehirnsynapsen weggesoffen hat; der Film «The Master» besteht zu weiten Teilen in der bloßen Beschreibung dieser beiden Männer, obwohl im Hintergrund immer auch ein bisschen Handlung läuft. Und in dem Maße, in dem die Handlung stereotyp wird, gewinnen solche Beschreibungen an Gewicht und bestimmen zunehmend die Qualität eines Erzeugnisses, ob es sich nun um einen Film oder um ein Buch handelt. Aber dann kommt vielleicht wieder mal eine neue Art oder Qualität von Handlung und stößt die bisherigen Schemen vom Sockel; hier hat zum Beispiel der Film Inception einige interessante Türen aufgestoßen ins Reich des Unbewussten und damit der freien Assoziation. Auf eine gewisse Art und Weise kommt die Erzählung so zurück zu jenen Ansätzen, welche im absurden und symbolischen Bereich schon lange entworfen wurden, allerdings in moderner Gestalt, und damit können wir uns auf absehbare Zeit weiterhin auf großes Kino freuen.

Was macht man sonst noch so im Urlaub? Gut essen, dies und jenes besichtigen, gründlich ausspannen, Beziehungspflege in verschiedenen Formen, also Auflösen alter und Knüpfen neuer oder aber Vertiefung oder auch nicht bestehender Verbindungen; man spricht über verschiedene Dinge, über das Meer, den Schnaps, über Bekannte und Prominente, über Filme und Bücher. Zu den Hundsköpfen möchte ich übrigens noch anmerken, dass ich gerne wüsste, wie sich die heutige Jugend das Ausreißen von zu Hause vorstellt. Jedenfalls werden auf den großen Schiffen auf den Weltmeeren kaum mehr Matrosen und Schiffsjungen gebraucht, und die paar Arbeitsplätze, die übrig geblieben sind im transozeanischen Transportwesen, werden von Pakistani besetzt, welche monatelang keine Sonne sehen und kaum was verdienen, wobei sie mit diesem kaum etwas trotzdem noch drei Familien in Pakistan ernähren. Das kann es also nicht sein für die heutige Jugend. Vielleicht heuern sie auf Kreuzfahrtschiffen an und werden Alleinunterhalter und später Regierungschefs? All diese Spekulationen winden sich um eine große Frage, auf welche ich keine Antwort habe: Wie werden spätere Generationen die Illusionen der heutigen Jugend schildern? Eine Traumkarriere kenne ich, es ist nach wie vor jene des Investment-Bankers, aber diese Plätze sind unterdessen auch rar geworden, und der Stern dieses Berufsstandes ist im Niedergang begriffen. Daneben lautet die herrschende Vorstellung so, dass die Jugend in geordnete Berufslehren oder Studiengänge geschleust wird, ansonsten es zu einem weltweiten, mindestens aber kontinentalem Geheul kommt; dass die heutige Jugend aber irgendwelche Konflikte mit den Eltern hätte, welche sie zum Vaganbundieren triebe, das ist überhaupt nicht mehr vorgesehen und eben – nur noch Stoff für Bücher.

Dieses Thema eignet sich doch ausgezeichnet für eine angeregte Diskussion nach dem Nachtessen, bei einem doppelten Grappa oder was auch immer.