"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Die EU wieder mal -

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Kürzlich hat jemand aus dem Fernsehen heraus zu mir gesprochen und gesagt, die Vereinigten Staaten von Amerika seien eine Willensnation. Das war mir neu. Bisher hatte bei mir der alte Begriff von de Tocqueville vorgeherrscht, nämlich die Moral.
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10:43 min, 20 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 06.11.2012 / 09:00

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 06.11.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die USA seien eine Nation, die neben und mit den Institutionen vor allem von der Moral zusammen gehalten würde, in erster Linie deshalb, weil sie keine feudale und antike Vergangenheit und natürlich auch keine koloniale Gegenwart besaßen. Es hat eine gewisse Logik, dass der Überbau eines solchen mehr oder weniger frei wuchernden Landes aus gemeinsamen Moralvorstellungen entstehen muss, was offensichtlich auch in relativ kurzer Zeit gelungen ist und die Grundlagen für eine gesellschaftliche Freiheit darstellte, die im Vergleich zum damaligen Europa unerhört anmuten musste. Die Sklaverei wollen wir dabei einmal beiseite lassen und daran erinnern, dass die Vereinigten Staaten immerhin in den 60-er Jahren des 19. Jahrhunderts in einem Bürgerkrieg, der über 600'000 Menschen das Leben kostete, diese Sklaverei formell abgeschafft haben, wobei die Gleichberechtigung damit noch lange nicht hergestellt war, wie wir ebenfalls wissen. Aber so oder so, die USA sind tatsächlich eine Nation ohne Geschichte und an ihrer Stelle mit Moral, was vermutlich verschiedene politische Phänomene erklärt, unter anderem die weiß glühende Ablehnung einer obligatorischen Krankenversicherung und der geifernde Kampf für Steuersenkungen für Reiche, denn Moral ist nicht gleich Moral, wie wir ja ebenfalls wissen. Aber darum geht es mir hier gar nicht, sondern mir geht es um Europa. Wenn ich hier die gleichen Kriterien anwenden wollte, dann würde ich wohl in den Grundzügen ebenfalls eine gemeinsame Moral ausmachen, die ich an dieser Stelle seit Jahr und Tag als sozialdemokratisch bezeichne, die aber in jeweils unterschiedliche staatlichen und institutionellen Realitäten ausgeprägt ist. Innerhalb der Nationalstaaten wirken jene Interessengruppen, die sich im Lauf der Jahre in den jeweiligen nationalen Ausprägungen herausgebildet haben und so die Eigenarten der verschiedenen Länder ausmachen. Wir hätten mit anderen Worten für Europa zwar eine gemeinsame moralische Grundlage, aber keinen Willen zur tatsächlichen Bildung der vereinigten Staaten von Europa. Das ist mindestens die Diagnose im November 2012, und zwar nicht etwa meine persönliche Diagnose oder Interpretation, sondern eine harte, unbestrittene Tatsache.

In Deutschland wird im nächsten Jahr gewählt. Europa spielt dabei voraussichtlich keine Rolle außer in Randbemerkungen, bei denen sich alle Seiten darin einig sein werden, dass Deutschland von Europa profitiert, und auf allen Seiten wird der Subtext lauten: zulasten anderer EU-Mitglieder. Diesen Subtext hat man zum Beispiel in Großbritannien viel deutlicher vernommen als den Haupttext; das ist mit ein Grund für die gegenwärtig ausgeprägt ablehnende Haltung der Briten gegenüber der EU, wobei zwei Elemente sicher ein größeres Gewicht haben, nämlich die historische Distanzierung vom Kontinent zum einen, die auch den eigenartigen Unwillen beinhaltet, die eigenen Institutionen im kontinentalen Sinn zu modernisieren, und zum anderen der Finanzplatz London, welcher heute die markanteste Differenz bei der staatlichen und institutionellen Ausprägung verursacht; er steht natürlich nach der Finanzkrise bzw. den irrlichternden Versuchen, das Finanzmonster in den Griff zu kriegen, ohne wirklich etwas zu ändern, unter starkem Druck, und gegenwärtig sind dort die vordersten Verteidigungsstellungen besonders aktiv mit der Ablehnung der Finanztransaktionssteuer. Deutschland aber steht gegenwärtig wirtschaftlich und politisch kerngesund da in der EU, man könnte sagen auf dem Gipfel seiner Macht, wobei dies nur dann korrekt wäre, wenn es Deutschland tatsächlich um die Machtübernahme in der EU ginge. Das ist mit einiger Sicherheit nicht der Fall; anderseits stellen die Bemühungen, der Vormacht Deutschlands entgegen zu wirken, ein objektives Hindernis für weitere interne Fortschritte in der EU dar.

Auf der anderen Seite erweist sich die Osterweiterung bzw. die ganze Südostabteilung der EU als heikle Sache für die EU selber und für den Prozess der politischen Integration. Ich gehe davon aus, dass die EU-Spitzen dieses Risiko bewusst in Kauf nahmen; dafür gibt es auch stichhaltige Gründe, die aber alle von der einen Bedingung abhängen, nämlich dass es im Lauf der Zeit gelingt, die entsprechenden Staaten und Gesellschaften auf ein sozialdemokratisches Niveau anzuheben, die Korruption so weit als möglich abzuschalten und eine angemessene wirtschaftliche, soziale und politische Rolle für diese Länder zu definieren. Das wiederum setzt voraus, dass die EU intern eben reifer wird, und das heißt, dass sie stärkere zentralstaatliche Zu- und Eingriffsrechte in die Staaten erhält. Dies wiederum und endgültig setzt aber voraus, dass die EU sich endlich grundlegend verwandelt von einem Europa der Konzerne und Interessengruppen, das dieses Gebilde bisher vor allem war, in ein Europa der europäischen Bevölkerung mit all den Rechten und Einflussmöglichkeiten, welche strikt damit verbunden sind, also ein Parlament, das die Oberaufsicht hat über die Kommission, sowie mit einem echten gegenseitigen Informations- und Bestimmungsprozessen.

Keine politische Bewegung in Europa führt diese absoluten Prioritäten gegenwärtig in ihrem Programm. Wir haben einzelne Figuren, welche sich seit Jahren immer wieder dafür stark machen; so habe ich neulich Besprechungen gelesen des Buches «Das deutsche Europa» von Ulrich Beck oder des vielleicht praktischeren Werkes «Für Europa!» von Daniel Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt, aber Eingang in die politische Praxis oder eben in einen nationalen Wahlkampf findet diese Ebene nicht. Warum? Ich gehe mal davon aus, dass die wichtigen politischen Kräfte eigentlich nicht antieuropäisch sind, eben, nicht zuletzt deswegen, weil die Vorteile der EU allzu offensichtlich sind. Es gibt somit nur zwei Möglichkeiten: Entweder haben die Parteien Angst davor, mit pro-europäischen Stellungnahmen – die ja durchaus auch kritisch ausfallen könnten mit Verbesserungsvorschlägen und so – ihre Wählerinnen und Wähler zu vergraulen oder der Konkurrenz Schwachstellen zu bieten oder vollends gar die Rechtsextremisten zu unterstützen; oder aber die Parteien sind derart perfekt eingebunden in das System der Verteilung von Privilegien, Pöstchen und Funktionen auf Stufe der Europäischen Union, dass sie überhaupt kein Interesse daran haben, mit ihren Wählerinnen und Wählern darüber zu kommunizieren. Schließlich sind sie, nämlich die Parteispitzen, ja voll dabei bei den Entscheidungsprozessen in einem Universum, in welches die ungebildeten Bevölkerungsschichten der Pseudodemokratien Gottseidank keinen Einblick haben. Ich fürchte, das ist der Kern der Sache. Brüssel wird im Moment betrieben wie der französische Königshof in Versailles im 17. und 18. Jahrhundert, und die PolitikerInnen der wichtigen Parteien spielen dabei die Rollen der Hofschranzen. Wir nennen es bloß deswegen nicht Monarchie, weil die wichtigste Figur dazu fehlt, nämlich der europäische König. Trotzdem erscheint mir eine solche Struktur nach zahlreichen demokratischen und anderen Erfahrungen und vor allem im Zeitalter des Internet als grauenhaft verächtlich und überholt.

Und wie gedenkt ihr dies nun zu ändern, geschätzte Hörerinnen und Hörer? – Na, überhaupt nicht, nehme ich mal an, dabei wäre es doch nicht so besonders schwierig. Unterstellen wir mal, dass es in der EU auf eine gewisse Zeit hinaus regionale Disparitäten gibt vor allem im wirtschaftlichen Bereich, das heißt, man muss mit unterschiedlichen Löhnen und Sozialversicherungen rechnen. Aber in Bezug auf Institutionen und Gesetze könnte man sich doch auf eine einheitliche Struktur einigen. In den Grundzügen stimmen die Dinge ja schon überein, man hat ein Strafrecht, ein Zivilrecht, ein Recht für die Verwaltung; man hat die Grundgesetze oder Verfassungen und so weiter, was steht einem Versuch im Wege, die zu vereinheitlichen?

Oder dann die Institutionen, vor allem im politischen Bereich: Müssen die Französinnen vor dem Betreten der Wahllokale zuerst einen HIV-Test absolvieren und die Deutschen einen Schottisch tanzen, oder wie ist das? Im Grunde genommen liegt das doch alles bereits mehr oder weniger identisch vor, was hindert euch denn daran, die Sache definitiv zu vereinheitlichen?

Vielleicht wäre ein europaweiter Diskurs über Vor- und Nachteile gewisser Organisationsformen ganz lustig und würde in erster Linie in Osteuropa zu einer völlig neuen Sichtweise gewisser Dinge führen. Aber man müsste das Ding halt mal unternehmen, anpacken, in die Wege leiten.

Strukturentscheide würde ich der Bevölkerung zunächst noch nicht zumuten, denn solange der Wissensstand nicht wirklich allgemein und allgemein gleich ist, können solche Sachen nicht im Ernst diskutiert werden, einmal abgesehen davon, dass sich verschiedene Strukturelemente dem Zugriff eines demokratischen Entscheides sowieso entziehen, wenn zum Beispiel irgend eine Leittechnologie abstirbt, welche einen ganzen Landstrich am Leben gehalten hat wie z.B. der Bergbau in Belgien oder in der DDR oder wo auch immer. Aber über Institutionen und Gesetze kann man sich unterhalten, man kann sich die Köpfe zerbrechen, ohne sie sich einzuschlagen.

Und wenn das mal soweit ist, kommt der nächste Schritt mit der Einrichtung der wirklich demokratischen Institutionen in der EU, begleitet mit echten Kompetenzen für das Parlament, welches dann mit der Zeit die Europäische Kommission entmachtet. Dieser Prozess ist nur dann von Dauer, wenn er begleitet ist von der Diskussion der föderalen Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der europäischen Zentralregierung, den verbleibenden nationalen Regierungen und den verbleibenden Ländern und am Schluss den Kommunen. Wie auch immer solche Entscheide dann ausfallen, eines steht fest: Die Zentralregierung braucht ein zentrales Budget, das nicht von den Ländern gespeist werden soll, sondern auf direkten Einnahmen beruht, meinetwegen auf einem Anteil der Mehrwertsteuer, darüber kann man sich ja unterhalten, wie man will. Die Zentralregierung braucht auch einige zentrale Instanzen, z.B. eine Strafverfolgungsbehörde, die Wirtschaftsaufsicht, und schön wäre es, mit der Zeit einen obligatorischen Zivildienst für sämtliche BewohnerInnen der Europäischen Union einzuführen. Dieser Zivildienst würde vermutlich rund 6 Monate dauern, zu absolvieren im Alter von ungefähr 20 Jahren, und im Alter von 50 Jahren gäbe es einen Nachbesserungskurs von erneut 6 Monaten. Ein Hauptzweck dieses Dienstes wäre es, die Menschen in den verschiedenen Teilen der EU herum zu führen. Ein Monat Skandinavien, ein Monat Spanien, ein Monat Rumänien, einer in England, einer auf Sardinien und einer auf Korsika. Das würde sofort zu einem der wesentlichen Motoren der europäischen Integration.

Eigentlich sind die Dinge ziemlich einfach. Warum macht ihr das nicht?