"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Cameron -

ID 45080
 
AnhörenDownload
Es lässt sich nicht ausschließen, dass die Zeit, in der wir leben, in zweihundert Jahren prächtigen Stoff hergibt für das, was dann die Nachfahren der heutigen Romanciers oder Theaterautoren oder Filmregisseure sind.
Audio
11:22 min, 13 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 13.12.2011 / 14:59

Dateizugriffe: 599

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 13.12.2011
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Vielleicht machen die dann nicht einfach 3-D-Filme, sondern begehbare Stücke, in denen man sich frei nach Wahl in die Figur der Angela Merkel einloggen kann oder in jene von David Cameron. Möglicherweise sind dann die Hirnfunktionen so weit erschlossen, dass man in solchen Romanen, Theatern oder Filmen auch die Handlungsmotive der jeweiligen Personen mitkriegt, von den Grundlagendokumenten bis hin zur Antipathie oder Sympathie gegen oder für die weiteren Akteure. Diese Sorte von Reality-Spektakel würde sich somit in zwei Genres unterteilen, in jenes, bei dem man selber bestimmen kann, was nun geschehen soll, und in ein anderes, bei dem einem die Vita der dargestellten Personen möglichst echt in den Kopf gefiltert wird - das ist übrigens ein interessanter Gegensatz, der für das moderne Leben insgesamt von enormer Bedeutung ist, und gleichzeitig ist dabei eine neuartige Form des Lernens unterstellt, nämlich die Übertragung oder Einpflanzung über Direktimpulse, was sämtlichen pädagogischen, didaktischen und methodischen Überlegungen ein für allemal ein Ende setzt, der Mensch lernt nicht mehr auswendig bzw. er lernt überhaupt nichts mehr, ihm wird von nun an alles implantiert, was auch nicht völlig ohne Tücken ist, vielmehr handelt es sich um die Wunschvorstellung eines jeden Machtsystems, unabhängig davon, ob es totalitär ist oder direktdemokratisch. – Im künftigen Spektakel aber kommt es dann eben zum Showdown zwischen Cameron und Merkel. Angela Merkel setzt sich aus Gründen, die mir wirklich radikal verschleiert bleiben, ein für eine Kapitaltransaktionssteuer. Ich meine, dass der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geissler vor 10 Jahren Mitglied der globalisierungskritischen attac geworden ist, muss ja nicht zwingend bedeuten, dass heute die CDU-Bundeskanzlerin die wichtigsten attac-Forderung, nämlich eben jene nach einer Kapitaltrans¬aktionssteuer, in ihr Regierungsprogramm aufnimmt, mehr noch: als Forderung für die gesamte EU aufstellt. Ich begreife die Reaktion von David Cameron. Jetzt hat man den angeblichen Sozi, den Blair-Pudel ausgestanden und seinen Nachfolger, die Brown-Bulldogge abgetrocknet, und jetzt kommen die Sauerkrautfresser mit der Tobin-Tax. Ausgerechnet eine Finanzplatz-Steuer, wo doch die Briten praktisch ausschließlich auf die Karte Finanzindustrie setzen, die hat sich doch so gut bewährt in der Vergangenheit, siehe Royal Bank of Scotland oder HBSC oder was auch immer. Ich weiß nicht genau, wie diese Medizinrichtung heißt, Homöopathie ist es wohl nicht, welche ein Gift mit der doppelten Menge des gleichen Giftes bekämpfen will. Jedenfalls wirkt die Methode über eine gewisse Zeitdauer hinweg bei Alkohol. – Aber es steht David Cameron natürlich frei bzw. eben nicht, da er ja in Ermangelung von Visionen oder Prinzipien gar keine Wahl hat, als die Geldgeber seiner Partei zufrieden zu stellen, also eben den Finanzsektor, der im übrigen mit Sicherheit auch die Labor-Partei finanziert, welche für den Ausbau des Finanzplatzes London mit verantwortlich zeichnet; abgesehen von allem anderen arbeiten in Grossbritannien 80% der Beschäftigten im Dienstleistungssektor und eben nicht zuletzt im Bankbereich. Dennoch wäre auch für diese Insel eine Kapitaltransaktionssteuer gar nicht so abscheulich, wie die jetzt immer tun; effektiven Schaden davon tragen täten nämlich praktisch nur die spekulativen Bereiche, während reale Investitionen und deren Erträge davon kaum betroffen sind. Mit anderen Worten: Cameron setzt auf die Spekulanten, und er weiß sich dabei in guter Gesellschaft mit den ebenfalls krisenerprobten US-amerikanischen Partnern, während die Finanzmärkte in Singapur und Hongkong das Geschehen wohl eher belustigt verfolgen. Mit anderen Worten: Jetzt macht halt der Cameron den Pudel der US-amerikanischen Finanz- und Spekulantenhorde, welche das US-amerikanische Parlament jedes Jahr mit mehreren hundert Millionen US-Dollars schmiert. Damit muss man leben.

Erstaunlich ist ja bloß, dass der Widerstand gegen die Tobin Tax auf dem Kontinent bisher keine schärferen Konturen angenommen hat; schließlich gibt es auch hier ein paar nicht völlig unbedeutende Institute. und hier muss sich letztlich entscheiden, ob dieser Mechanismus für das Resteuropa eingeführt wird, also auf der Stufe von PNB Paribas, Crédit Lyonnais, Crédit Agricole, Société Générale in Frankreich, Unicredit und Intesa San Paolo in Italien, Deutsche Bank und Commerzbank in Deutschland und ein paar weitere ansehnliche europäische Häuser. Hier scheint man sich gegenwärtig einig zu sein darüber, dass die Steuer eine mögliche Konzession darstellt, welche das Geschäft nicht übermäßig beeinflusst, wenn sie bloß von allen bezahlt werden muss. Mit anderen Worten: die Tobin-Tax als besondere Form einer Spekulationssteuer ist nicht nur nicht weltfremd, sondern sie findet sogar eine gewisse Akzeptanz unter den Bankiers, wobei hier sicher ein Rest an Scham- und Schuldgefühlen mitschwingt, der auf der britischen Insel offenbar undenkbar ist, wobei dies kaum damit zusammenhängt, dass die Briten keine solchen Emotionen kennen, bloß werden sie in anderen Zusammenhängen und in anderen Formen ausgedrückt.
In Deutschland, wo nur 68% der Beschäftigten im Dienstleistungssektor arbeiten und immerhin noch 30% in der Industrie, würde man wohl eher aufjaulen, wenn eine andere Art der Besteuerung eingeführt würde, über die auch schon diskutiert würde, nämlich die Maschinensteuer. Tatsächlich empfindet der Brite die Tobin Tax ungefähr wie eine Maschinensteuer eben auf den Transaktionen. Er macht keinen großen Unterschied zwischen der so genannten Realwirtschaft und der Finanzwirtschaft, schließlich gehören beide zum großen kapitalistischen System. Und da hat er auf seine Art wieder Recht, unser Cameron. Allerdings könnte man auch die Maschinen besteuern, wenn man wollte; wenn man zum Beispiel stattdessen die Gewinnbesteuerung für die Unternehmen streichen würde, käme das vielleicht fast aufs gleiche hinaus. Besteuern kann man immer alles, soweit dies politisch durchsetzbar ist; man kann den Energieverbrauch besteuern, den Alkoholverbrauch, den Verbrauch ganz allgemein über die Konsumsteuer, am schönsten wäre es natürlich, eine Dummheitssteuer einzurichten, die wäre ganz sicher sehr ertragreich, wobei ich mich dann gerne um den Vorsitz dieser Behörde bewerben möchte, damit man Dummheit auch korrekt auslegt und anwendet. Das wäre eine große Verantwortung, die übrigens nichts zu tun hat mit einer allfälligen eigenen Intelligenz, sondern nur mit so etwas wie dem gesunden Menschenverstand, welcher auf der Liste der Dummheit erzeugenden Arten seinerseits ganz weit oben steht. Und weil sich hier eine Spirale zusammen zu brauen droht, lassen wir die Idee mit der Dummheitssteuer wieder fallen und sagen lapidar, dass eh all jene dumm sind, welche über keine Steuerschlupflöcher verfügen. Ich bin überzeugt, dass mit dieser Definition sauber die gesamte Elite in Europa abgetrennt und für nicht dumm erklärt wird.

Umgekehrt ist es allerdings nicht einfach dumm, Steuern zu bezahlen, denn bei allem Missgeschick, das einem auf den Behörden und mit einem oder mehreren Beamten gerne mal zustoßen kann, braucht es für eine moderne Gesellschaft einen leistungsfähigen Staat, nach Möglichkeit schlank und flexibel und ebenfalls nach Möglichkeit oder nach Notwendigkeit bürgerinnennah. Aber dies ist wieder ein anderes Kapitel.

Der Cameron empfindet also die, hauptsächlich deutsche Initiative zur Stärkung der europäischen Zentralinstanzen als Angriff auf die insulierte Pracht. Na dann. Die EU steckt schon derart tief im Strudel der unterschiedlichsten Interessen und Kräfte, dass es darauf weiß Gott nicht mehr ankommt. Originell ist bloß die Lösung, die sich abzeichnet mit Zusatzverträgen, welche wahlweise unter 26 von 27, aber warum nicht auch von 13 unter den 27 oder von 7 oder von 21 abgeschlossen werden können, einmal abgesehen von der meiner Ansicht nach schwerer wiegenden Entwicklungs¬probleme, welche sich die EU mit Ländern wie Rumänien oder Bulgarien eingehandelt hat. Dazu kommt nun auch noch Kroatien, das vielleicht vom Nachbarn Slowenien ein bisschen im Zaum gehalten werden kann, während Ungarn offensichtlich völlig von der Rolle ist, und von Griechenland braucht man gar nicht zu reden. Wenn man auf höchster Ebene strukturpolitische Entscheide fällen könnte, dann wären sie gegenwärtig relativ einfach zu treffen; und vielleicht ist dies das einzig gute an der Schuldenkrise in Europa, dass es nämlich einzelnen Ländern derart misslich geht, dass sie sich nicht einmal mehr die verbohrteste nationalistische Dummheit leisten können, und einige andere Länder verzichten im Hinblick auf solche trübe Perspektiven ebenfalls auf einen Rückfall in eine voreuropäische Rhetorik, geschweige denn Politik. Mit Ausnahme eben von Ungarn und auf der anderen Seite Großbritannien. Na dann.

Offensichtlich dauert es erheblich lange, bis Europa als politischer Prozess wirklich eine Realität im Alltag aller Länder wird. Eigenartigerweise hat die Öffnung der Grenzen mindestens in den Kernlanden durchaus nicht zu einem wirklichen Austausch geführt; man hat den Eindruck, als würden die Franzosen jetzt noch weniger nach Deutschland und die Deutschen noch weniger nach Frankreich fahren, und unter den Facharbeitern oder vollends bei den Hilfskräften sind in allen Ländern tendenziell die außereuropäischen am beliebtesten, weil am billigsten. Anderseits ist das Unterfangen von einer Komplexität, die an den Aufbau eines niedrigen Organismus erinnert, also mindestens eines Regenwurms oder so. Eine wirkliche Beschleunigung gäbe es wohl dann, wenn sich eine europäische Bewegung konstituieren täte, die in allen Ländern theoretisch und praktisch, vor allem aber in der öffentlichen Meinung für ein neues Selbstverständnis sorgen würde. Vor 1000 Jahren entstand das Heilige Römische Reich, und vor fünfhundert Jahren nannte man es auch noch Deutscher Nation. Daraus lassen sich Mythen schöpfen, was auch nicht ganz unwichtig ist, aber heute braucht Europa mehr, ein Selbstverständnis, das auf gegenseitiger Kenntnis, guten Institutionen und auf Vertrauen beruht, eine Identität, welche über, unter oder mit der nationalen Identität mit schwingt. Wie man so etwas herstellt, davon habe ich keine Ahnung, aber eben: noch ein paar Wirtschafts- und Finanzkrisen, und dieser Kontinent ist dann letztlich durch die Not doch zu dem zusammengeschweißt worden, was er eigentlich besser aus freien Stücken wäre, eben eine Einheit. Und dann kommt es immer noch darauf an, welche Einheit es denn konkret wird. Ach Gott, da gibt es ja wirklich noch genügend zu tun. – Und irgendwo in den Unweiten des Atlantiks versinkt England, zerrissen im Bemühen, den Spagat zwischen Nordamerika und Europa immer wieder neu zu leisten.