Abstieg des Westens - Nato gegen BRIC(S) - Nato 3.0 ? Neue Konfrontationslinien oder neue Allianzen?

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IMI-Kongress 2011, Ulli Cremer: Zukünftige Kriege USA-EU-Rußland gegen ? Welche Interessen hat Rußland bei der Unterstützung des Kriegs in Afghanistan? "Wenn strukturelle Gewalt nicht mehr wirkt, muss man zur militärischen Macht greifen." "Ich bin ja einer der davor warnt"

BRICS Staaten: Brasilien,Rußland,Indien,China,Südafrika

Wendezeiten
Weltpolitische Umbrüche: Chance oder Gefahr

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30:54 min, 28 MB, mp3
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Klassifizierung

Beitragsart: Reportage
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Arbeitswelt, Umwelt, Kultur, Politik/Info
Serie: sonar -aktuell-
Entstehung

AutorInnen: sonar aktuell
Radio: bermuda, Mannheim im www
Produktionsdatum: 09.11.2011
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Umbrüche und erhöhte Interventionsbereitschaft


Bericht zum 14. Kongress der Informationsstelle Militarisierung „Wendezeiten: Weltpolitische Umbrüche – Chance oder Gefahr?“


Am Wochenende des 5. und 6. November 2011 fand der mittlerweile 14. Kongress der Informationsstelle Militarisierung statt. Der diesjährige Kongress war mit über 120 Teilnehmern bei einzelnen Vorträgen und insgesamt mehr als 150 Interessierten aus dem ganzen Bundesgebiet sowie Teilnehmenden aus Belgien, den Niederlanden und Frankreich sehr gut besucht.

Im Mittelpunkt der zweitägigen Veranstaltung standen die zahlreichen gravierenden Umbrüche der letzten Jahre und die Frage, inwieweit sich durch sie Chancen für eine friedlichere und sozialere Welt eröffnen oder ob sie nicht auch die Gefahr einer weiteren Militarisierung und sich verschärfender Konflikte bergen. Diesem Spannungsverhältnis wurde in den einzelnen Beiträgen nachgegangen: Sie umfassten die Folgen der gegenwärtigen Machtverschiebungen im internationalen System, die Militarisierung der Weltmeere, die Revolutionen im arabischen Raum, den Auswirkungen der Interventionen im Irak und in Afghanistan, in Libyen und in der Elfenbeinküste, die Militarisierung der Vereinten Nationen sowie den Umbau der Bundeswehr. Dabei wurde deutlich, dass westlicherseits versucht wird, dem spürbaren Machtverlust durch einen verstärkten Rückgriff auf Gewalt und Militärinterventionen Einhalt zu gebieten. Deshalb wurden abschließend Perspektiven und Möglichkeiten der Friedens- und Antikriegsbewegung erörtert, wo die wichtigsten Ansätze liegen, dieser Entwicklung Widerstand entgegensetzen zu können.


Gefahr sich verschärfender Großmachtkonfrontationen?

Den Auftakt am Samstag-Mittag mit dem Titel „Abstieg des Westens, NATO gegen BRIC(s)? Neue Konfrontationslinien oder neue Allianzen?“ bestritten IMI-Vorstand Jürgen Wagner (er übernahm den Part Erhard Cromes, der leider kurzfristig absagen musste) sowie Uli Cremer von der Grünen Friedensinitiative. Jürgen Wagner warnte davor, dass der Machtverlust der westlichen Staaten, vor allem gegenüber den so genannten BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China), eine große Gefahr in sich berge, zu neuen Blockbildungen sowie sich verschärfenden Großmachtkonflikten zu führen. Anstatt diese Veränderungen als Ausgangspunkt für eine Neuordnung der internationalen Beziehungen auf Basis einer faireren Verteilung von Macht- und Einfluss zu nutzen, würden die westlichen Staaten zunehmend versuchen, ihre Vormachtstellung mit Gewalt zu erhalten. Die Verschärfung von Konflikten sei leider die logische Konsequenz dieser Bestrebungen. Hinzu kämen jedoch auch noch sich verstärkende innereuropäische Rivalitäten, so Wagner, die mit dem deutschen Anspruch auf die alleinige Führungsrolle in der Europäischen Union zusammenhingen. Die Frage neuer Blockbildungen werde demzufolge nicht unwesentlich davon mit beeinflusst, inwieweit sich diese europäischen Binnenkonflikte zuspitzen würden. „Dann hat die Europäische Union andere Probleme, als sich einer Auseinandersetzung mit den BRIC-Staaten zu widmen. Gelingt es allerdings, diese Differenzen irgendwie beizulegen, besteht eine große Gefahr sich verschärfender Großmachtkonfrontationen“, so Wagner.

Uli Cremer ging vor allem auf die Veränderung der westlichen Militärallianz ein, die in drei Phasen erfolgt sei. Die NATO 1.0 von 1949 bis 1990 sei zumindest auf dem Papier noch ein „klassisches“ Verteidigungsbündnis gewesen. NATO 2.0 sei geprägt vom Umbau in ein globales Interventionsbündnis. Diese Phase sei mit dem Angriffskrieg gegen Jugoslawien sowie der NATO-Beteiligung am Afghanistan-Krieg mehr oder minder abgeschlossen. Nun befinde sich die NATO 3.0 im Entstehen und richte sich darauf aus, dem machtpolitischen Abstieg der westlichen Staaten militärisch entgegenwirken zu können. Hierfür werde versucht, aus der NATO einen „Nordpakt“ zu machen, der nur bedingt gegen andere Großmächte, sondern vor allem gegen die Länder des globalen Südens gerichtet sei. Aus diesem Grund werde auch versucht, Russland in dieses Bündnis zu integrieren, um so die „Schlagkraft“ des Bündnisses zu vergrößern. Demgegenüber betonte Wagner, die NATO werde nicht nur auf Interventionen in südlichen Ländern, sondern zudem gegen China, insbesondere aber auch Russland in Stellung gebracht, wofür zahlreiche sich verschärfende Konflikte sprächen.


Die Waffengattung der Globalisierung

Andreas Seifert, Vorstandsmitglied der IMI, arbeitete im zweiten Vortrag heraus, wie diese Großmachtkonflikte und Rivalitäten derzeit buchstäblich aufs Meer überschwappen würden. Unter dem Titel „Umkämpfte Meere“ wurde dabei zunächst auf die grundlegend gestiegene Bedeutung des Seeverkehrs eingegangen. Die Globalisierung selbst zeichne sich wesentlich durch den extrem angestiegenen Handel mit Gütern aller Art aus, er habe zwischen 1960 und 2009 um 1200% zugenommen. Der Großteil dieses Handels werde über See transportiert, weshalb dem „Schutz“ von Handelswegen von Seiten der Politik mittlerweile große Bedeutung beigemessen werde. „See, Seewege, Seemacht werden als Begriffe verknüpft mit Globalisierung - die Marine, so legt eine solche Assoziationskette nahe, ist die Waffengattung der Globalisierung“, so Seifert.

Vor allem Deutschland rüste derzeit die Seestreitkräfte mit dem Argument auf, nur so die Sicherheit der Handelswege garantieren zu können. Dabei werde eine "Abhängigkeit" vom Export und der See vorgeschoben, um Kapazitäten für militärische "Lösungen" zu schaffen. Um zu illustrieren, welche Überlegungen und Ziele dabei im Zentrum stünden, zitierte Seifert den Marine-Vizeadmiral Axel Schimpf: "Mit ‚Protect‘ ist die Bedeutung des Schutzes von Deutschland, unserer Bürger und deutscher Interessen in der Welt angesprochen, während mit dem Begriff ‚Project‘ die Fähigkeit zur Präsenz und der Beteiligung an streitkräftegemeinsamen, multinationalen Einsätzen weltweit hinterlegt ist." Doch auch in anderen Ländern werde der militärischen Seepräsenz verstärkte Aufmerksamkeit gezollt. Dies betreffe viele Länder weltweit, wurde aber insbesondere anhand der asiatischen Staaten illustriert. Gerade dort verspüre man die gleiche "Abhängigkeit" vom Seehandel und entwickele den gleichen Anspruch, die Seewege zu sichern. Asiens Anteil am globalen Seehandel steige stetig. Dort führten die Versuche, die jeweilige militärische Seepräsenz auszubauen, zu einer regelrechten Aufrüstungsspirale und erhöhten damit die Gefahr regionaler Konflikte. Dies betreffe vor allem China, Indien und Japan. Damit nicht genug, würden vor allem die USA, aber auch die Europäische Union ihrerseits versuchen, ihre Präsenz in der Region zu vergrößern, um den wachsenden chinesischen Einfluss einzudämmen. Hierdurch würden bestehende Konflikte zusätzlich angeheizt. „Die Marine ist der Ausdruck offensiver Machtpolitik“, dies zeige sich immer deutlicher, so Seifert.

Schließlich sei mit der Zunahme der Piraterie ein Phänomen entstanden, welches vor allem dort auftrete, wo Länder und Menschen von den globalen Waren- und Handelsströmen abgehängt wurden. Armut und Perspektivlosigkeit seien wesentliche Triebfedern hinter dem Anwachsen der Piraterie, so Seifert. Doch anstatt sich diesen Ursachen zu widmen, werde mehr und mehr der Versuch unternommen, militärisch für den Schutz von Handelsrouten zu sorgen. Damit sei dem Phänomen jedoch nicht beizukommen, wie sich gerade vor der Küste Somalias zeige. Vielmehr werde an Somalia deutlich, wie die Politik das Phänomen Piraterie instrumentalisiere, um weitere Aufrüstungen und geostrategische Konzepte zu rechtfertigen. Dass sinnvolle Konfliktlösungsmöglichkeiten immer ziviler Natur sein müssten, wenn sie Erfolg haben wollen, werde unter anderem am Beispiel der Straße von Malakka sichtbar, wo erst zivile Maßnahmen an Land zu einem Rückgang der Piraterie geführt hätten.


Das Korrektiv der Strasse

Claudia Haydt und Christoph Marischka diskutierten anschließend, ob die „Umbrüche in Nordafrika und auf der Arabischen Halbinsel“ Chancen der „Emanzipation oder ein neues imperialistisches Einfallstor“ eröffneten. Marischka bezeichnete dabei das Mittelmeer als „Bernnpunkt des Nord-Süd-Verhältnisses“, das sich insbesondere in der Migration zwischen Afrika und Europa offenbare. Dieses Verhältnis werde durch ein komplexes Beziehungsgeflecht, die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen wie UNO und WTO, die Einbindung in Freihandelsregime, Finanzmärkte, Sicherheitsarchitekturen und Migrationsregime sowie die Unterwerfung unter Patentrechte, Standardisierungen etc. definiert, weshalb es einem einzelnen Staat kaum möglich wäre, aus diesem auszubrechen oder dieses Verhältnis nennenswert zu verändern. In der Anfangsphase der Revolutionen hätte jedoch die Möglichkeit bestanden, dass durch die grenzüberschreitenden Proteste gleich mehrere Regierungen gestürzt würden und ein neuer Block entstehe, der auch aus dem antikolonialen Impetus, der den Revolutionen zunächst innewohnte, die Bedürfnisse seiner Bevölkerung über internationale Gepflogenheiten, Abhängigkeiten und Verpflichtungen stelle. Nicht zuletzt sei dies durch „zwei Formen der militärischen Intervention“ verhindert worden: „die bedingungslose Unterstützung des Westens für den Militärputsch in Ägypten und die NATO-Intervention in Libyen“. Nun habe es die EU in ihrer südlichen Nachbarschaft zumindest mit Tunesien, Libyen und Ägypten mit drei geschwächten Staaten zu tun, die von massiven Finanz- und Legitimationstransfers abhängig seien.

Marischka verwies dabei auf den IMI-Kongress im vergangenen Jahr, bei dem herausgearbeitet wurde, dass die EU grundsätzlich bereit sei, gemeinsam mit der NATO widerspenstige Staaten militärisch zu zerschlagen, sich darüber hinaus jedoch ein breites Instrumentarium zugelegt hat, um schwächere Staaten einzubinden und zu gängeln. Entsprechend sei die Europäische Nachbarschaftspolitik bereits neu formuliert worden. „Während die alten strategischen Ziele und Grundsätze gültig bleiben, werden die Finanzhilfen nun nach dem Prinzip 'more for more' unmittelbarer an konkrete Fortschritte – etwa im Bereich des Freihandels – geknüpft.“ Zugleich sei in Tunesien, Ägypten und Libyen bereits europäische und auch deutsche Unterstützung beim Aufbau neuer Sicherheitskräfte geplant, wobei insebesondere auch der Grenzschutz eine zentrale Rolle einnehme. Abschließend beschrieb Marischka die massive Repression, mit der v.a. die säkularen Teile der Protestbewegung in Ägypten konfrontiert sei ohne dass die Bundesregierung oder die EU dies thematisiere. Es gelte, sich mit den Opfern dieser Repression zu solidarisieren und so dazu beizutragen, sie vor weiteren Menschenrechtsverletzungen zu schützen, so Marischka abschließend.

Claudia Haydt forderte dazu auf, Abstand von einem neokolonialen Blick auf die Entwicklungen in Nordafrika und der arabischen Halbinsel zu nehmen. Die Umbrüche in Tunesien und Ägypten seien auch deswegen möglich gewesen, weil wichtige Informationen über Korruption und Folter über das Internet (z.B. WikiLeaks) erstmals für einen größeren Kreis von Menschen zugänglich waren und da konkrete Aktionen wie Demonstrationen und Blockaden durch virtuelle soziale Netzwerke besser hätten organisiert werden können. Der Kampf um Informationsfreiheit und gegen Kontrolle des Internets ist folglich eine gemeinsame Aufgabe in Europa und weltweit. Die Referentin wies außerdem darauf hin, dass die Bundesregierung versuche, in den Ländern, die sich erfolgreich ihrer Diktatoren entledigt haben, die zukünftigen Prozesse zu beeinflussen. Andererseits jedoch habe die Bundesregierung kein Interesse an Veränderungen in den repressiven Staaten, die sich als Bündnispartner bewährt hätten. Folglich unterstütze die Bundesregierung Regime wie etwa in Saudi-Arabien mit Waffenlieferungen und Ausbildungshilfen für Polizei und Militär. Genau diese Unterstützung werde von Oppositionellen als problematisch bezeichnet.
Haydt warb auch dafür, auf eine Dämonisierung islamischer Parteien zu verzichten und sich dagegen auf die Auseinandersetzung um konkrete politische Inhalte zu konzentrieren. Interessant seien hierbei z.B. die Forderungen der meisten in Tunesien gewählten Parteien nach Neuverhandlung der Assoziierungsabkommen mit der EU, nach einer sozialeren Politik sowie deren antikolonialer Konsens gegenüber NATO-Machtansprüchen. Ob emanzipatorische Kräfte sich tatsächlich längerfristig durchsetzen können, hänge v.a. davon ab, wie sehr die Freiräume, die sich die Menschen erkämpft haben, nun wieder mit „Schützenhilfe“ der EU und Deutschlands eingeschränkt werden. Claudia Haydt war sich sicher, dass zumindest in Tunesien und abgeschwächt auch in Ägypten, die eigentliche politische Macht immer noch bei der Bevölkerung liege, die ihre Angst verloren habe. Dieses „Korrektiv der Straße“, könne von den jeweiligen Machthabern nicht ungestraft ignoriert werden. Schwierig sei es jedoch, tragfähige und überzeugende politische Alternativen für die Zukunft der Länder zu entwickelt. Vor dieser Aufgabe stehen jedoch nicht nur die Menschen in Nordafrika, sondern auch in Europa.


Blinder Interventionismus

Der Abendvortrag von Joachim Guilliard vom Heidelberger Forum gegen Militarismus sowie IMI-Vorstand Jürgen Wagner beschäftigte sich mit der Frage „Afghanistan und Irak: Scheitern des Interventionismus?“ Beide Referenten betonten, dass diese Militärinterventionen gemäß ihren offiziell propagierten Zielen - Demokratie, Menschenrechte usw. – nur als riesige Fehlschläge bezeichnet werden könnten, die den Menschen in den betroffenen Ländern unsägliches Leid gebracht hätten. Aus diesem Grund beschäftigten sie sich auch mit der Frage, inwieweit hinsichtlich der tatsächlich hinter den Einsätzen stehenden geostrategischen und ökonomischen Interessen von einem Erfolg oder Misserfolg dieser Kriege gesprochen werden kann.

Der Zustand, in dem sich der Irak nach acht Jahren Krieg befinde, sei verheerend, so Joachim Guilliard: „Über eine Million Irakerinnen und Iraker wurden seit 2003 von Besatzungs- und irakischen Regierungstruppen getötet oder fielen der sektiererischen Gewalt zum Opfer, die von Washington und seinen Verbündeten angeheizt wurde. Mehr als zwei Millionen sind ins Ausland geflohen, eine ähnliche Zahl wurde zu Binnenflüchtlingen. In einem Land, in dem ein großer Teil der Vertreter der politischen Opposition und des Widerstands gegen die ausländische Besatzung eingesperrt, verschleppt, getötet oder vertrieben wurde und in dem nach wie vor 50.000 Besatzungssoldaten operieren, von Demokratie zu reden, ist absurd.“

Tatsächlich sei es den USA ohnehin nie um Massenvernichtungsmittel, Demokratie oder Ähnliches gegangen, sondern vor allem darum, ihre Militärpräsenz am Persischen Golf auszubauen sowie die riesigen irakischen Ölvorkommen zu privatisieren. Doch selbst gemessen an ihren eigenen – imperialistischen – Zielen könne von einem „Erfolg“ der Besatzer keine Rede sein. Es sei nicht gelungen, den Widerstand niederzuschlagen und der Versuch, sich den Rohstoffreichtum des Landes unter den Nagel zu reißen, sei vor allem an der Gegenwehr der Ölarbeitergewerkschaft gescheitert. Der zunehmende Druck habe mittlerweile sogar zu der offiziellen US-Ankündigung geführt, sich aus dem Irak zurückzuziehen. Allerdings würden gerade zahlreiche Versuche unternommen, diese Niederlage anderweitig zu kompensieren, da von dem Ziel der Kontrolle des Irak und der Region nicht abgerückt werde. Hierfür würde die Militärpräsenz in einigen Anrainerstaaten ausgebaut, aber auch eine private Söldnerarmee in Höhe von 5.000 Mann unter dem Kommando des US-Außenministeriums im Irak belassen. Das sei leider ein deutliches Zeichen, dass die Auseinandersetzungen um die Zukunft des Irak gerade erst begonnen hätten.

Auch Jürgen Wagner präsentierte eine ernüchternde und erschreckende Bilanz von zehn Jahren Krieg in Afghanistan. Die immer brutalere Kriegsführung der NATO habe lediglich zu einer dramatischen Eskalationsspirale und immer weiteren Opfern geführt. Jährlich würden die zivilen Kriegsopfer zunehmen, während gleichzeitig die westlich installierte Karzai-Regierung immer autoritärere Züge annehme. Neoliberale Reformen hätten zudem dazu geführt, dass die Bevölkerung ärmer als zu Beginn des westlichen Einmarsches sei. Gemessen an den offiziellen Kriegszielen könne demzufolge auch in Afghanistan niemand ernsthaft von einem „Erfolg“ sprechen.

In Afghanistan gehe es ebenfalls tatsächlich um ökonomische und strategische Interessen, vor allem aber darum, den Anspruch der NATO, überall auf der Welt westliche Interessen durchsetzen zu können, zu untermauern. Hierfür sei es jedoch erforderlich, ein pro-westliches Regime zu etablieren, das auch in der Lage sei, sich dauerhaft an der Macht zu halten. Gelänge dies nicht, stehe die Fähigkeit der NATO, die Interessen ihrer Mitglieder in anderen Ländern gewaltsam durchsetzen zu können, ernsthaft in Frage. Hierfür sei jedoch eine dauerhafte Militärpräsenz vor Ort unumgänglich. Deshalb warnte Wagner vor der „Nebelkerze Truppenabzug“. Es gehe lediglich darum, Teile der westlichen Truppen abzuziehen, keineswegs um die vollständige Beendigung der Besatzung, auch wenn gegenwärtig stets etwas anderes suggeriert werde. Die NATO verfolge derzeit zwar allerlei Strategien, den Krieg doch noch „siegreich“ zu beenden, damit würde jedoch lediglich weiter an der Eskalationsspirale gedreht. „Die NATO hat zwar keinen Plan, was sie in Afghanistan treibt, den verfolgt sie aber mit aller Härte“, so Wagners Kritik. Da die westlichen Staaten keinerlei Absicht hätten, den Krieg zu beenden, sei Druck erforderlich, weshalb der Referent seinen Beitrag mit einem Apell abschloss, nun verstärkt in die Mobilisierung zu den Protesten gegen den Petersberg-Gipfel in Bonn zu gehen, wo Anfang Dezember die Weichen für die weitere westliche Kriegspolitik gestellt werden sollen.


Peacekeeping ist Krieg

Den letzten Kongresstag am Sonntag eröffnete Thomas Mickan, Autor der IMI-Broschüre „Die UN und der neue Militarismus“, mit einem Vortrag zur „Militarisierung der Vereinten Nationen“. Dabei wurde zunächst auf das in der Öffentlichkeit positiv besetzte Image der Friedensbemühungen der UN eingegangen und gezeigt, wie zum Beispiel die Bundesregierung das Bild der Friedenstaube mit blauem UN-Stahlhelm zur Legitimation von Interventionen verwendet. Grundlegende Annahme sei dabei, dass UN-Blauhelm-Soldat_innen gerechte Anwält_innen des Friedens seien und militärische Gewalt ein legitimes, legales und funktionierendes Mittel der Konfliktbearbeitung darstelle.

Anhand von drei Punkten – Regionalisierung, der Zusammenarbeit mit der Afrikanischen Union und der Rüstungsindustrie – illustrierte Mickan einige Tendenzen der Militarisierung und Instrumentalisierung der UN. So werde die Durchführung von Kapitel-VII-Einsätzen immer häufiger an so genannte Regionalorganisationen ausgelagert. Zu diesen zähle neben der EU und der Afrikanischen Union nach Auffassung des UN-Generalsekretärs mittlerweile auch die NATO. Die UN spiele darin nur noch eine untergeordnete, aber entscheidende Rolle. Sie sei zum ersten Legitimationsfigur über die Vergabe von Mandaten. Zum zweiten bilde sie damit eine Legitimationsfolie für Aufrüstung und Regionalisierung unter einem Verweis auf die angebliche „Notwendigkeit von Kapazitäten zur Friedenssicherung“. Zum dritten werde die UN insbesondere für Staatsaufbauprozesse umstrukturiert, so dass sie in begleitenden Missionen oder im Anschluss an Interventionen mit Aufgaben wie Entwaffnung und Demobilisierung, Sicherheitssektorreformen und Wiederaufbau betraut werden könne – bei denen sie regelmäßig scheitere, da sich durch Krieg und Besatzung nunmal kein Frieden stiften ließe. Die Umstrukturierung auf solche „Assistenzfunktionen“ beschrieb Mickan anhand der Umgestaltung der Hauptabteilung Friedenssicherung (Department of Peacekeeping Operations, DPKO) welche neue Kapazitäten in den Bereichen Stabilisierung, Sicherheitssektorreform oder Treuhandschaft geschaffen habe.

Neben dieser Unterstützungsfunktion für und damit Unterordnung unter NATO und EU beschrieb Mickan die sich durch die Mandatierung und Auslagerung entfaltende Aufrüstungsdynamik am Beispiel der Afrikanischen Union. Da diese zukünftig „afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme“ – gemeint ist die African Standby Force – bieten solle, unterstütze die UN deren Aufrüstung und Militarisierung, welche überwiegend durch westlichen Akteur_innen erfolge. Diese verstünden es dabei, über Ausbildungsprogramme, Peacekeepingschulen usw. starken Einfluss auf die Fähigkeiten und Strategien der neuen Eingreiftruppen zu nehmen und diese zugleich in Bereichen wie Aufklärung, Führung und Logistik von westlicher Unterstützung abhängig zu machen und zu halten. Ein ähnliches Verhältnis beschrieb Mickan auch zwischen den NATO-Staaten und der UN. Gerade indem der UN die Fähigkeiten zur eigenständigen Führung von Einsätzen vorenthalten und für solche Einsätze kaum Soldaten bereitgestell würden, sei diese zur Auslagerung an Regionalorganisationen gezwungen, was ihre Instrumentalisierung weiter erleichtere.

Abschließend verwies Mickan darauf, dass sich auch die Rüstungsindustrie diese Entwicklungen längst zu nutze mache. So habe etwa die Firma Krauss-Maffei-Wegmann eine eigene Variante ihres Leopard-II-Panzers für „Peace Support Operations“ auf den Markt gebracht, der sich besonders zur Aufstandsbekämpfung eigne und nun nach Saudi-Arabien exportiert werden solle. Auch habe die Rüstungsindustrie längst erkannt, dass sich Waffenlieferungen an arme oder instabile afrikanische Staaten leichter rechtfertigen ließe, wenn diese mit der Unterstützung für die African Standby Force begründet würde. Entsprechend endete der Vortrag das vorherrschende orwellsche Neusprech entlarvend mit der Formulierung „Peacekeeping ist Krieg“.


Fiktion des Schutzes der Zivilbevölkerung

Im zweiten Vortrag am Sonntag stellten Martin Hantke und Christoph Marischka „die Rolle der UN in Libyen und der Elfenbeinküste“ dar. Um das Stimmverhalten der Mitglieder des UN-Sicherheitsrates zur NATO-Intervention zu verstehen, müsse man sich die Verschiebungen der globalen Hegemonie vergegenwärtigen, so Martin Hantke. Wie bereits Jürgen Wagner zuvor, betonte er dabei die immer dominantere Rolle Deutschlands innerhalb der EU, welche Frankreich und Großbritannien mit eigenen Initiativen kontern wollten, Frankreich etwa mit der Mittelmeerunion und beide Staaten gemeinsame mit der französisch-britischen Militärkooperation, die im November 2010 beschlossen wurde. Auch auf internationaler Ebene habe sich gezeigt, dass diejenigen Staaten, die sich in ihrer Hegemonie bedroht fühlen, für den Krieg gestimmt hätten, während die „Krisengewinner“ Deutschland, Brasilien, Russland, Indien und China sich enthalten hätten.

Die Resolutionen zu Libyen selbst lieferten ein Bild davon, wie sich die UN in Zukunft verändern würden und gingen „von der Fiktion des Schutzes der Zivilbevölkerung aus“. Sie mandatierten damit erstmals offen das Intervenieren in einen Bürgerkrieg und seien damit im Grunde selbst ein massiver Verstoß gegen das Völkerrecht. Zudem seien „Kriegslügen, wie der Einsatz der Luftwaffe gegen Demonstranten, in die entsprechenden Resolutionen selbst eingesenkt“ worden. Hier spiele insbesondere die Resolution 2016 eine entscheidende Rolle, mit der die Mandatierung der NATO im Oktober 2011 aufgehoben wurde, mit der jedoch auch die Kriegslügen und die Funktion der NATO-Intervention zum Schutz der Zivilbevölkerung erneut – und diesmal einstimmig – bestätigt wurden. In dieser Resolution würden u.a. die „positiven Entwicklungen in Libyen begrüßt, angesichts eines Bürgerkrieges, der wohl an die 80.000 Menschenleben gekostet hat und mit massiven Verstößen gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht einherging“. Es bestehe damit die Gefahr, dass der „Regime Change als Gewohnheitsrecht“ etabliert werde und das „Gewaltverbot zu einem Gewaltgebot“ verkomme. Bereits jetzt hätte der UN-mandatierte, aber völkerrechtswidrige NATO-Krieg gegen Libyen die „Legitimität der Vereinten Nationen schwer beschädigt“. Die Resolutionen 1973 und 2016 stellten nach Hantke einen „Epochenbruch“ in der Rolle des UN-Sicherheitsrates dar.

Von einem „Epochenbruch“ sprach auch Christoph Marischka hinsichtlich der taktischen Rolle der UN-Blauhelme und auch der aktiven Rolle des UN-Generalsekretärs beim Regime Change in Côte d'Ivoire. Bereits im Vorfeld der Wahlen habe es die UN unterlassen, die Rebellen im Norden zu entwaffnen und ihrerseits in Erwartung eines durch die Wahlen ausgelösten Bürgerkrieges aufgerüstet. Ban Ki-moon habe persönlich die Verlegung von Kampfhubschraubern aus Liberia und auch von Truppen aus dem benachbarten Burkina Faso, das ganz offensichtlich Konfliktpartei in Côte d'Ivoire ist und war, begrüßt und dem Sicherheitsrat konkrete Stationierungskonzepte vorgelegt. Die offensichtlichen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl seien von dem Leiter der UN-Mission UNOCI negiert und auf dieser Grundlage Alassane Ouattara im Widerspruch zur ivorischen Verfassung als Präsident anerkannt worden. Der Vormarsch der für ihn kämpfenden Truppen und Milizen, während dessen es zu grausamen Verbrechen gekommen sei, wäre von der UNOCI nicht behindert, sondern insbesondere in seiner Endphase aktiv durch Luftangriffe der UN-Hubschrauber und einer französischen Eingreiftruppe unterstützt worden. „Minutiös“, so Marischka, sei dieser Vormarsch auch mit der EU abgestimmt gewesen, die ihn durch „gezielte Sanktionen“ unterstützte. „Diese Sanktionen – insbesondere gegen Häfen und die Kakao-Gesellschaft – sollten die Armee zur Meuterei gegen den amtierenden Präsidenten Gbagbo anstacheln und brachten das wirtschaftliche Leben vollständig zum Erliegen – mit schlimmen, tödlichen Folgen für die Zivilbevölkerung. Diese Sanktionen wurden sofort aufgehoben, nachdem die entsprechenden Häfen von Ouattaras Truppen eingenommen waren – noch vor der Festnahme Gbagbos“.

Beide Interventionen, sowohl in Libyen als auch in der Elfenbeinküste, seien in Afrika als kolonialistischer Eingriff und schwere Demütigung wahrgenommen worden. Der ehemalige südafrikanische Präsident Thabo Mbeki beispielsweise hätte die UN in der Folge in der Zeitschrift „Foreign Policy“ als „ein weiteres Instrument in den Händen der größten Weltmächte“ bezeichnet.


Quantitative Abrüstung und qualitative Aufrüstung

Zum Abschluss des Kongresses berichtete der ehemalige Europaabgeordnete und IMI-Vorstand Tobias Pflüger über den „Umbau der Bundeswehr und die Perspektiven für die antimilitaristische Bewegung.“

Pflüger zeichnete nach, dass die Bundeswehr inzwischen eine "Armee im Einsatz" und damit weit weg von der Festlegung im Grundgesetz sei, wonach "[d]er Bund ... Streitkräfte zur Verteidigung auf[stellt]". Horst Köhler sei noch als Bundespräsident zurückgetreten, u.a. weil er davon gesprochen habe, dass die Bundeswehr auch für Wirtschaftsinteressen eingesetzt werde. Inzwischen sei dies in den Verteidigungspolitischen Richtlinien vom Mai 2011 jedoch ganz klar so festgelegt. Gerhard Schröder habe noch von der "Enttabuisierung des Militärischen" gesprochen, nach dem durch einen Bundeswehroffizier befohlenen Massaker von Kunduz sei dann bereits diskutiert worden, "wieviel Töten (durch die Bundeswehr) erlaubt“ sei. Hier habe in der politischen Elite ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Im Oktober 2011 wäre nun das neue Stationierungskonzept vorgelegt worden, das im Kern eine "quantitative Abrüstung und qualitative Aufrüstung" beinhalte. "Es geht um Kriegsführungsfähigkeit", so Tobias Pflüger. "Die Teile der Bundeswehr, mit denen Krieg geführt werden kann, werden gestärkt, die anderen abgebaut." Die Ausrichtung auf Auslandseinsätze sei strukturbestimmend. Pflüger beschrieb die umfangreichen Auslandseinsätze der Bundeswehr: Afghanistan, Kosovo, Somalia, Libanon etc. Diese Auslandseinsätze seien nicht nur politisch falsch, sondern auch extrem teuer: Das DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) habe allein Kosten des Afghanistaneinsatzes von jährlich bis zu 3 Milliarden Euro errechnet. Die Strukturveränderungen führten auch zu Standortschließungen. Von Seiten der Friedensbewegung sei es notwendig, aufzuzeigen, dass Konversion in zivile Strukturen für betroffene Kommunen keine Gefahr, sondern eine Chance sei.

Die Veränderung der Bundeswehr ginge zudem einher mit viel Pathos („Wir. Dienen. Deutschland.“, so ein neuer Slogan der Bundeswehr) und einer neuen Werbestrategie. Allein die Gelder für Nachwuchswerbung seien im Jahr 2012 doppelt so hoch veranschlagt, wie im Vorjahr. Die Wehrpflicht sei vor allem deshalb ausgesetzt worden, weil Wehrpflichtige nicht in Auslandseinsätze geschickt werden könnten. Für eine offensiv ausgerichtete Kriegsarmee seien diese nicht verwendbar. Allerdings entfalle hiermit das bislang wichtigste Rekrutierungsinstrument der Bundeswehr, die deshalb ihre Anstrengungen in diesem Bereich erheblich intensiviere. Damit gehe eine massive Militarisierung des öffentlichen Raums einher, da vor allem in Schulen und Hochschulen, aber auch in Arbeitsagenturen verstärkt für den Dienst an der Waffe geworben werde.

Mit der Aussage "die Krise als Rekrutierungshelfer" endete Tobias Pflügers Analyse: "Gerade der unsägliche Versuch der Bundeswehr, sich die Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher zu Nutze zu machen, indem sie direkt in den Arbeitsagenturen rekrutiert, zeigt, dass Krise und Krieg untrennbar miteinander verwoben sind. Notwendig ist der Protest und Widerstand gegen die Kriegspolitik im Innern und Äußern! Der Krieg beginnt hier und die Umstrukturierung der Bundeswehr zeigt, wo dieser Protest und Widerstand ansetzen könnte."

Neben der Notwendigkeit, die Rekrutierungsbemühungen der Bundeswehr bei jeder Gelegenheit zu untergraben und ihren Zugriff auf Schulen und Hochschulen