Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Krisen sind auch immer Chancen"

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[6.Kalenderwoche]
Krisen sind immer auch Chancen, heißt es angeblich beim Chinesen, der für beide das gleiche Wort benützt,
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Upload vom 03.02.2009 / 08:44

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Entstehung

AutorInnen:
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 03.02.2009
CC BY-NC-SA
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Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
[6.Kalenderwoche]
Krisen sind immer auch Chancen, heißt es angeblich beim Chinesen, der für beide das gleiche Wort benützt,


deshalb gibt es auf der Speisekarte neben Reis mit Rind auch Rind mit Reis. Das ist eine Frage der Systematik. Und was sagt er denn nun, der Chinese, wenn er nach Europa kommt und über die Wirtschaftsgipfel schreitet und Krise und Chance brüllt? Er sagt Yippieh. Nein, stimmt nicht: Er sagt Juhui. Jihui, um genau zu sein, aber Juhui ist sicher eine gute Übersetzung für Chance. Risiko dagegen heißt etwas ganz anderes, nämlich Weiji, Xuanrandabo, Nanguan, Fenbgo, Jinjiguantou oder Weixianqi. Midlife Crisis heißt Zhongnianweiji. Also benützt der Chinese offensichtlich nicht das gleiche Wort für Krise und Chance. Wer behauptet denn aber so was? Ich weiß es nicht, aber es wird so überliefert, von einem blöden Kommentar bis zum nächsten.

Immerhin gibt es eine Logik dabei: Je tiefer die Krise, desto größer die Chancen, das stimmt schon, nur steht nicht fest, wo diese Chancen liegen. Nehmen wir bloß die Automobilindustrie: Ich glaube nicht, dass sich irgend ein Land es leisten kann, diesen Industriezweig von einem Tag auf den anderen zu liquidieren; es hängen allzu viele wirtschaftliche Früchte an diesem absterbenden Baum, als dass man ihn einfach so umholzen könnte. Was aber angesagt ist, das ist eine gründliche, allerdings geordnete Restrukturierung, bei der die Firmen auf die Hälfte geschrumpft werden bei gleichzeitiger Erhöhung der Produktivität und der Umstellung auf möglichst verbrauchsarme Modelle. Damit einher muss von Seiten des Staates der Aufbau von Alternativindustrien oder -Sektoren gehen, was nicht zuletzt bedeutet, auch das ideologische Gewicht dieser mobilen Kleinst-Einraumwohnung abzubauen. Dies wiederum geht bekanntlich nur durch einen radikalen Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel auf der Schiene und auf der Straße. Ob man das aber nun macht, d.h. ob man diese Chance nicht nur sieht, sondern auch ergreift, scheint noch durchaus nicht festzustehen. Zwar ist in den letzten Monaten vieles in Bewegung geraten, aber so weit, dass sich gestandene PolitikerInnen aus den großen Volksparteien für eine gründliche Verschiebung der Gewichte hin zur öffentlichen Mobilität aussprechen, ist es noch nicht gekommen. Dabei ist dies, ich garantiere es, die Nagelprobe dafür, ob diese auf das Automobil fixierten Gesellschaften die Kurve kriegen bzw. wie schmerzhaft der Lern- und Umstellprozess letztlich sein wird. Der Chinese würde das Ganze Qiche Fengbo nennen, die Automobilkrise. Könnt ihr euch das merken? Qiche Fengbo. Das ist der wirkliche Strukturwandel, der heute vorzunehmen ist, während sich die Finanzwelt nach meinen Annahmen bei Gelegenheit wieder aufrappeln wird und vorderhand ihr Tagesgeschäft auf einem etwas niedrigeren Niveau, aber immerhin normal weiterführen wird.

Hier kann man sich ohne jedes weitere Problem als Hellseher betätigen, nämlich geht das so: Im Moment beginnt die Finanzwelt wieder langsam Vertrauen zu fassen, noch nicht so richtig, aber immerhin; relativ langsam, aber gleichzeitig relativ schnell – ihr wisst schon, alles ist relativ – nimmt die ganze Geschichte Fahrt auf, die Banken beginnen wieder Kredite zu sprechen oder mindestens untereinander wieder die üblichen Geldtransaktionen zu tätigen; dies dauert eine gewisse Weile, beschleunigt sich dann und mündet in einen ersten Höhepunkt, den man auch spekulativ nennen könnte, und dann stürzt das System wieder ab, jedoch nicht auf die vorigen Tiefpunkte, sondern nur auf ein Zwischentief, wobei durchaus möglich ist, dass der Staat hier nochmals eingreift; und dann verfestigt sich auch diese Aufwärtsbewegung, und wir landen bei stabilen Wachstumsraten im Finanzsektor von 5%-10%, was dann auch etwas davon abhängt, wie weit die Wirtschaft unterdessen den Ausstieg aus dem Automobilismus vorangetrieben hat.

Ebenfalls klar ist die weitere rasante Beschleunigung der Digitalisierung mit zwei Haupttrends: Einerseits wird eben weiter digitalisiert, immer mehr Bereiche des Alltagslebens erhalten ihre digitale Gestalt und werden kompatibel gemacht zu den anderen Bereichen des Alltagslebens; zweitens verlagern sich diese Prozesse zunehmend ins Mobiltelefonie- und Internetz. Die Mobiltelefone sind am Schluss nur noch Schaltstellen für Datenübermittlung, Fernsehen, Videofilme usw., die Daten selber liegen auf Großspeichern, die im ganzen Land verteilt sind, und die Arbeit selber erfolgt an irgendwelchen Peripheriegeräten zum Schnitt von Videos und Musikstücken, zur Textverarbeitung, mit Datenbanken usw. usf. Dies macht einigen anderen traditionellen Sektoren den Garaus, in erster Linie der Telefonie, die nur noch ein Accessoire ganz weit außen am Rand des digitalen Trends ist, aber auch im Verlagswesen und in der Unterhaltungsindustrie geraten die Strukturen massiv in Fluss. Die Auswirkungen auf das Sozialleben kann ich schon gar nicht abschätzen. Eigentlich braucht niemand mehr seinen Arsch zu bewegen, um mit der ganzen Welt in Kontakt zu treten, auch für produktive Tätigkeiten, wobei ich hier produktiv gleichsetze mit Geld erzeugen, was auch wieder lustig ist, denn im digitalen Bereich ist die Wertschöpfung natürlich längst von den handfesten materiellen Waren abgespalten. Ich habe übrigens keine Ahnung, wie das dann am Schluss aussehen wird, denn allein mit der digitalen Werbung bzw. mit Banner-Anzeigen auf allen Webseiten ist das Potenzial der digitalen Wirtschaft wohl ebenso wenig erschöpft wie mit den verschiedenen Recherche- oder Detektivarbeiten für möglichst kreative Hacker. Da steht ein zugrunde liegender ökonomischer Schöpfungsprozess bevor, der dann allerdings mindestens in der Tendenz sämtlichen bisherigen Wertschöpfungsthesen den Garaus machen wird, egal ob Keynes oder Schumpeter oder Milton Friedman oder wer auch immer.

Am Geld wird’s nicht liegen, im Gegenteil, das Geld ist derart omnipotent und insgesamt flexibel, das passt sich immer wieder an und dient auch hier als echtes Schmiermittel, und zwar global. Geld vermittelt bekanntlich auch über die Gräben unterschiedlicher Kulturen hinweg am besten, besser als jedes Übersetzungsprogramm, und das ist auch der Grund dafür, dass die Finanzkrise hier am Schluss doch auf festen Boden stößt, nämlich eben dort, wo der Staat bzw. wo die Staaten ihre zuverlässigen Geldmengen verwalten und zur Verfügung stellen. Ob die anderen Finanzprodukte, einmal abgesehen von den Firmenpapieren, welche den Firmen die nötigen Mittel zur Finanzierung ihrer Aktivitäten oder für neue Projekte beschaffen, ob also die Derivate und indexgebundenen Fisimatentchen nochmals im gehabten Umfang Verbreitung finden, kann ich nicht sagen; relevant wird dies offenbar erst dort, wo gewisse Grenzen überschritten werden, sodass das System kollabiert. Aber wenn heute jemand sagt, er hätte schon vor 20 Jahren vorausgesagt, dass das System zusammenbricht, dann muss ich den etwas eigenartig ankucken, denn das heutige System bzw. das System des Jahres 2007 hat mit dem System aus dem Jahr 1990 durchaus überhaupt nix mehr zu tun.

In der Regel finden auch in den turbulentesten Zeiten nicht sämtliche Entwicklungen zum gleichen Zeitpunkt statt. Neben den strukturellen Umstellungen in den entwickelten Ländern ist also damit zu rechnen, dass die so genannten Schwellenländer die Schwelle überschreiten und zu Schwellländern werden, die relativ rasch schwellen und quellen und es in den konventionellen Bereichen den entwickelten Staaten gleichtun wollen und zunehmend auch werden; auch hier kommen mit einiger Sicherheit zu den konventionellen Bereichen recht geschwinde auch die neuesten Tendenzen dazu. Hier scheint mir die soziale Frage eine ziemlich bedeutende Rolle zu spielen. Nämlich weisen Schwellenländer wie Russland und China mit einer langjähriger pseudokommunistischer Praxis doch einen relativ homogenen Bestand aus, bei allen vorhandenen Ungleichheiten, während Indien so etwas wie ein undefinierbares Gemisch ist aus hoch dynamischen Städten und streng veralteten Kastensystemen; in Lateinamerika weist gerade das am weitesten fortgeschrittene Land Brasilien in den Städten eine derart massive Segregation auf, dass für einen Außenstehenden wie mich nicht nachvollziehbar ist, wie solche soziale Gräben auch nur überbrückt werden sollen. Aber die Zeit und die Geschichte und die wirtschaftliche Entwicklung werden auch dafür eine Lösung finden.

Noch verschlungener sind die Wege in Afrika, wo ich aber ebenfalls keinen Grund sehe, von einer hoffnungslosen Situation zu sprechen. Hier wirkt sich vermutlich in erster Linie die internationale Kommunikation ganz gewaltig auf die Gesellschaften aus. Eines der Entwicklungsziele der westlichen Länder müsste es sein, eine Kaste von afrikanischen Millionären oder Milliardären zu produzieren, welche dann wieder in ihren Ursprungsländern investieren müssten. Aber solche Vorschläge traut sich natürlich im Zusammenhang der Migrationsfrage kein Schwein von Politiker oder Politikerin zu formulieren, obwohl diese Leute dazu ebenso gut in der Lage wären wie jede andere daher gelaufene Millionärin auch. Aber egal. – Und dann bleibt noch die schöne Unbekannte der arabischen Welt, die spätestens seit acht Jahren als eigenständiger Faktor wahrgenommen wird. Wirtschaftlich gesehen und auch kommunikationstechnisch sind diese Länder auf dem Stand des Westens, aber im politisch-religiösen Bereich scheinen die Ansprüche der verschiedenen Interessengruppen und Bevölkerungsschichten noch nicht sehr genau abgesteckt zu sein, weshalb auch das Spiel mit den Emotionen der Bevölkerung und das israelisch-palästinensische Theater immer wieder für Spektakel sorgt. Hinter den Kulissen, nehme ich an, bestehen rund ums Mittelmeer und im Nahen Osten insgesamt durchaus solide politische Abmachungen, aber wenn diese nicht zum Bestandteil des öffentlichen Bewusstseins werden, sind Fortschritte nicht einfach; und gegen solche Bewusstseinsentwicklungen arbeiten bekanntlich ganz unterschiedliche Kräfte.

In diesem Zusammenhang kann ich hier einmal mehr meiner ziemlich vorbehaltlosen Verblüffung über den türkischen Premierminister Erdogan Ausdruck geben bzw. über seine Rezeption oder Darstellung in unseren Medien. Seine Partei, die AKP, wird nach wie vor als islamistische Partei bezeichnet. Das geht logischerweise auf die entsprechenden Gegner in der Türkei zurück, wobei es sich sowohl um die reaktionären angeblichen Laizisten als auch um fortschrittliche Kräfte handeln dürfte. Per Saldo aber handelt es sich bei Herrn Erdogan um einen der vernünftigsten Köpfe, die dieses Land je gesehen hat. Nicht zuletzt seine Reaktion nach dem Eklat in Davos, als er vom Podium mit dem israelischen Staatspräsidenten Peres davonlief, war doch einfach Klasse. Als es anschließend zu antiisraelischen Demonstrationen in der Türkei kam, wies er die ganz gehörig zurecht. Das scheint mir wirklich ein brauchbarer Politiker zu sein, der halt einfach einer moslemischen Partei angehört, so wie bei Euch die eine oder andere Partei doch auch den Namen Christlich mit sich führen. Deswegen würde man ja noch lange nicht von einer evangelikalen Partei sprechen oder von katholisch-konservativen Eiferern, auch wenn der Papst jetzt die Türen für die guten alten Lefèbvre-Anhänger wieder aufgestoßen hat. Die CDU und die CSU würde ich darauf in keinem Fall behaften.




Albert Jörimann