Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Politische Kommentatoren"

ID 25901
 
AnhörenDownload
[2.Kalenderwoche]
Politische Kommentatoren, zu denen ich unglücklicherweise bis zu einem gewissen Grad ebenfalls zähle...
Audio
10:24 min, 9744 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 20.01.2009 / 10:00

Dateizugriffe: 705

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Entstehung

AutorInnen:
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 06.01.2009
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
[2.Kalenderwoche]
Politische Kommentatoren, zu denen ich unglücklicherweise bis zu einem gewissen Grad ebenfalls zähle, bilden mit wenigen Ausnahmen eine eigene biologische Frosch-Klasse, aus der es jahraus, jahrein ewig gleich heraus tönt: Quak. Manchmal auch Quak quak. Zum Jahresbeginn schwillt das Gequake aus logischen Gründen zu einem richtigen Chor an, wobei die ewige Wiederkehr des ewig Gleichen schon fast tröstlichen Charakter hat. Vermutlich tönt es in Deutschland nicht anders als in der Schweiz, nämlich: Das Land droht im Mittelmaß zu versinken; Kreativität und Innovationskraft sind erloschen; ein besonders tüchtiger Querdenker holt trotz den Billionen schweren Rettungspaketen der Staaten für die liberalisierte Privatwirtschaft eine Kolumne aus dem letzten Jahrzehnt aus dem Archiv und wettert gegen die staatliche Bürokratie, und so weiter und so fort. Die Welt ist offensichtlich nach wie vor in Ordnung, wenn sich Ende Januar die Putins und Merkels und Achermanns in Davos zum Weltwirtschaftsforum treffen und ihre Stirn in Falten legen. Auch Bill Clinton, die alte Festhütte, ist für dieses Jahr wieder angesagt und kann als angeheirateter US-amerikanischer Außenminister sicher viele wichtige Impulse geben. Quak quak.

Bei all dem fragt man sich manchmal, ob es nicht doch auch noch irgendwo einen Storch gebe, der die lautesten Sänger des Froschchors am schnellsten verschlucke. Aber mir ist nicht bekannt, dass in letzter Zeit oder überhaupt je jemand wegen übertrieben krassen Blablas aus dem Ensemble geworfen wurde. Die Spezies ist geschützt, vielleicht sogar als Orakel, dessen Urteile zwar nie eindeutig, aber immer unumstößlich waren. Uns dagegen bleibt nur die Einsicht, dass sich wirklich niemand den Untergang des Abendlandes so vorgestellt hat, wie er nun bevorsteht, nämlich als Folge mathematisch-derivativer Spekulationen. So scheinen jene Leute Recht zu erhalten, die sich nie groß ums Rechnen gekümmert haben und nicht mal eins und eins zusammen zählen wollten. Damit ist offensichtlich auch in der Wissenschaft eine weitere Spaltung besiegelt: Nach der Unterteilung in Geistes- und Naturwissenschaften hat sich die Mathematik in ihrer finanziellen Form als eigene Sparte etabliert. Das sollte eigentlich an verschiedenen Mathematikerkongressen gebührend gefeiert werden; aber ich fürchte, dort sieht man wieder nur beduselte Wissenschaftlerinnen sich die Köpfe einrennen, weil sie die Türen in der dritten Dimension nicht finden, während sie in der neunten Dimension rechnen. Deshalb haben die wohl auch ihre Lehrlinge aus der zweiten, nämlich der statistischen und finanzwissenschaftlichen Dimension, durchaus nicht im Griff. Eigentlich wäre es ja schön, wenn auch die Fachleute aus anderen Bereichen mindestens zeitweise in den Wolken schweben würden. Aber seit der völligen Verschulung der universitären Ausbildungsgänge mit dem Bologna-Prozess ist mindestens in den Geisteswissenschaften das umfassende Desinteresse am Stoff vorausgesetzt. Anderseits muss man auch einräumen, dass Menschen, die sich zum Beispiel mit moderner Kunst beschäftigen, nirgends so recht ein Sprungbrett finden, um in höhere Sphären abzuheben, wenn man einmal vom Kunstmarkt absieht mit den wirklich wunderbaren Preisausschlägen für sonderbare Werke. Wie hieß dieser Witz doch gleich: «Ein Schnäppchen! Ein Schnäppchen!», ruft ein Kunstliebhaber immer wieder und tanzt durchs Haus, «ich habe einen VW Polo für 150 000 Euro gekauft!» - «Ein Schnäppchen würde ich das nun nicht gerade nennen», hält jemand dagegen, und der Kunstliebhaber sagt: «Und ob das ein Schnäppchen ist - Damien Hirst hat hinein geschissen!» – Ich zitiere diesen Witz übrigens nicht, weil mir Damien Hirst missfiele, ganz im Gegenteil, er gefällt mir, mindestens dort, wo er lustig und originell ist, und das ist durchaus nicht selten. Aber das steht in keinem Verhältnis zu den bezahlten Preisen; der Kunstmarkt macht oft den Eindruck eines unkontrolliert frei gesetzten genmanipulierten Experiments. Bei genauerer Betrachtung muss ich aber auch hier einräumen, dass ich nicht angeben könnte, was denn ein sozusagen echter oder angemessener Preis für ein spezifisches oder für eine ganze Gattung an Kunstwerken wäre; da haben die effektiv bezahlten Preise doch den Vorteil, dass sie bezahlt wurden und insofern real sind. Genau so real wie die Finanzmathematik, deren Kunst um der Kunst willen jeweils geadelt wird durch die Konkretisierung mit einer beliebigen Währung. Wir schieben nicht einfach 10 hoch 17 herum, sondern 10 hoch 17 US-Dollars oder Euro. Das hat eine eigene Schönheit, genau betrachtet; denn dass man mit solchen Zahlen in der Praxis irgend etwas anfangen könnte, dürfte weit gehend ausgeschlossen bleiben. Die Finanzwelt ist eine reine Cyber-Welt, die hin und wieder Avatare in die Wirklichkeit setzt. Für Normalbürgerinnen und -bürger ist dringend davon abzuraten, solche Zahlen etwa ins Verhältnis mit dem eigenen Verdienst oder ähnlich zu setzen. Das Bild von Onkel Dagobert, der ein Bad nimmt im Goldstückespeicher, gilt nur für Kinder. Für die anderen gilt: Es hält, wenn’s hält, und wenn’s nicht hält, hält’s nicht.

Nun kommt es sicher auf die Perspektive an, ob man es erfreulich findet, dass das internationale Finanzsystem bisher dank den staatlichen Unterstützungsmaßnahmen gehalten hat und gar erste Anzeichen einer Stabilisierung zeigt. Als Hardcore-Systemkritiker kann einem so was nicht ins Konzept passen. Anderseits sehen die Hardcore-Systemkritiker wahrscheinlich genau in diesem Zeitpunkt, dass sie keine globale Alternative bieten können. Im Moment ist schlicht kein grundsätzlicher Wettstreit der Systeme erkennbar, und das macht für Euch die Lage im sogenannten Superwahljahr 2009 echt schwierig. Alle Parteien wollen das gleiche; bloß ihre Lobbies sehen etwas anders aus, was aber nicht bedeutet, dass diese Lobbies allesamt oder zum Teil im höheren Interesse der Gesamtgesellschaft aktiv sind. Dieses Dilemma zeigt sich beispielhaft an einer der stärkeren Lobbies im Land, an den Gewerkschaften. Sie sind praktisch dazu verdammt, Arbeitsplätze und Fantasielöhne zu fordern, auch wenn es sich um den Automobilsektor handelt, also jene Eisscholle, von der man am besten abspringt, bevor sie ganz weg schmilzt. Mit ist nicht bekannt, dass irgend eine Gewerkschaft auf der ganzen Erde dazu aufgerufen hätte, die Produktion von Grund auf neu auszurichten und dabei auch den Beschäftigten nicht einfach nur mehr Lohn, sondern mehr Einsicht zu verschaffen. Das können die Gewerkschaften gar nicht; sie schneiden sich ins eigene Fleisch oder sägen auf dem Ast, auf dem sie sitzen, um diese altbekannten Vergleiche zu benutzen. Das Dumme ist nur, dass sie es über kurz oder lang trotzdem tun werden müssen. Und je später sie damit beginnen, desto schmerzhafter dürfte das dann sein. Jedenfalls ist es heutzutage wirklich schwierig, so ordentlich Partei zu ergreifen, sei es für die Armen und Entrechteten oder auch nur für sich selber. Alles hoch komplex, und deshalb sind auch Wahlempfehlungen ziemlich schwierig. Aber darauf kommen wir wohl später noch zu sprechen.

Also sprechen wir von etwas anderem, wobei ich am liebsten einen Bogen um die Palästinafrage machen würde, wo es ja auch wieder aussieht wie vor, was weiß ich: 5 Jahren oder so. Hierzu habe ich eigentlich nur noch kriegstechnische Überlegungen: Liefert irgendjemand irgendwann mal der dannzumaligen Nachfolgeorganisation der Hamas eine Mittelstreckenrakete und einen dazu gehörigen Atomsprengsatz? Wenn es nach der Rhetorik ginge, müssten diese Ausrüstungen schon längstens im Gazastreifen stehen. Aber vielleicht sind die Iraner noch nicht so weit, und vielleicht haben die Iraner oder wer auch immer kein wirkliches Interesse daran, einen solchen Schlag auszuführen. Man kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass die Israeli dann den gesamten Gazastreifen in die Luft jagen würden. Das ist wohl nicht mal für die Iraner besonders lustig. Und für unsereins, der diesen Konflikt kopfschüttelnd aus dem Sofa heraus verfolgt, ist’s auch nicht lustig. Wir haben die ja schon fast genetisch bedingte Überzeugung, dass sich Menschen auch friedlich miteinander einigen können, und diese Option scheint im Konflikt zwischen Israel und den Palästinenserinnen und den Araberinnen schlicht nicht zu existieren. Da kann man nicht viel machen. Abwarten und Kopfschütteln.

Sprechen wir aber vom neuen Jahr lieber als einem Jahr eines wirklichen Neubeginns. Auch wenn sich beim Kollaps des internationalen Finanzsystems keine Alternativen anbieten und auch keine politischen Alternativen bestehen, steht gegenwärtig die Türe weit offen für Debatten über unsere Gesellschaft, wie wir sie einrichten wollen, welches die Ziele sind. Vorausgesetzt ist dabei allerdings, dass man auf die hergebrachten Floskeln weiträumig verzichtet und versucht, die Realitäten des auslaufenden ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausend einmal in wissenschaftliche Begriffe zu fassen. Dass dies schwierig ist, wissen alle, nicht nur wegen der politischen Kommentatoren, welche halt für die Produktion von Haferbrei oft gut bezahlt werden, sondern weil die Wissenschaft halt auch immer wieder Schlag hat. Nenne mir einen Soziologen, der nicht von einem Klüngel an Kongressen, Publikationsreihen und ganz prominent Machtvertretern in der Sozialpolitik abhängig ist. Es gibt keinen. Die Ethik nennt sich unterdessen schon Wirtschaftsethik und befasst sich mit Menschenwürde aus Sicht des Marktes. Es gibt schlicht und einfach keine unabhängige Wissenschaft mehr, mit Ausnahme natürlich der Finanzmathematik. Das ist für unsereins etwas problematisch, die wir noch an so etwas wie Wahrheit geglaubt haben und vielleicht in einem Abstellraum des Hirns immer noch daran denken. Eigentlich müssen wir an diesem Abstellraum trotzdem festhalten, denn sonst geschieht nur gerade das, was wir in den Medien jetzt laufend beobachten: Wenn es schon keine Wahrheit mehr gibt, dann gibt es einfach den grenzenlosen und umfassenden Spaß im Zeitalter von Stefan Raab und Atze Schröder und Hella von Sinnen. Diese Spaßigkeit ist aber auf Dauer auch nicht lustig, auch wenn sie jeden Abend neu aufgebrezelt daher kommt; deshalb ringen wir halt weiter um die Wahrheitsvermutung. Es gibt hierzu ebenfalls kaum Alternativen. Die eine ist die, einfach mal etwas zu tun. Ein Projekt anzureißen und es durchzuführen, wenn möglich zusammen mit anderen. In solchen Arten von Tätigkeiten liegt eine höhere Form von Wahrheit, und meiner Treu, geschätzte Hörerinnen und Hörer von Radio F.R.E.I., indem ihr diesen Sender hört, befindet Ihr Euch genau mitten in einem solchen kreativen Wahrheitsfeuchtgebiet. Das ist doch schon mal ein guter Auftakt.

Albert Jörimann