Lorettas Leselampe Juli 2008
ID 23383
Jacques Derrida: Jedes Mal einzigartig, das Ende der Welt. Das Buch versammelt alle Texte, die der französische Philosoph angesichts der Tode von Freunden gehalten hat.
Audio
13:25 min, 18 MB, mp3
mp3, 192 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 22.07.2008 / 00:21
13:25 min, 18 MB, mp3
mp3, 192 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 22.07.2008 / 00:21
Dateizugriffe: 407
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Jacques Derrida: Jedes Mal einzigartig, das Ende der Welt. Passagen Verlag 2007.
2004 ist Jacques Derrida gestorben. Ein Jahr zuvor erschien auf französisch eine Sammlung aller seiner Totenreden unter dem Titel Jedes Mal einzigartig, das Ende der Welt. Jetzt ist dieses Buch übersetzt erschienen und versammelt alle Texte des Philosophen, die aufgrund des Todes eines Freundes entstanden sind. Derrida hat von 1981 an, mit dem Tode Roland Barthes und seinem Text Die Tode von Roland Barthes, Totenreden gehalten. Der französische Philosoph beschreibt, dass ihm dies nicht leicht gefallen wäre, hat er doch zuvor schon einiges allgemeines zum Verhältnis von Sprache und Tod formuliert. Aber eine Rede für einen Toten, an einen Toten, an die Trauernden zu halten, einen Nachruf – das ist etwas anderes. Es birgt einige Gefahren, derer sich mancher gerne entziehen würde – und gerade deshalb eine gewisse Verantwortung bedeuten, der sich die Überlebenden zu stellen haben. Die Trauer verinnerlicht den Toten immer, er wird zu nah und deshalb leicht vereinnahmbar. Das ist die erste Gefahr, für den Toten zu reden. Die eigene Verinnerlichung aufgrund des Endes des Anderen, der immer auch fremd geblieben ist, an die Stelle des anderen zu setzen. Noch gefährlicher wäre es allerdings, diese Verinnerlichung zu leugnen. Sie ist Teil des Todes des Freundes. Doch wie ist mit ihr umzugehen. Die Herausgeber der französischen Ausgabe Pacale-Anne Brault und Michael Nass formulieren dies mit Derrida als „unmögliche Wahl zwischen zwei Arten der Untreue“ gegenüber dem Freund. Derrida schreibt:
„Geschieht diese aufs äußerste tödliche, ja mörderische Untreue in der möglichen Trauer, die uns das Bild, das Idol oder das Ideal des gestorbenen und nur noch in uns lebenden anderen verinnerlicht.
Oder aber in all die unmögliche Trauer, die dem anderen seine Andersheit beläßt, seine unendliche Entfernung achtet, sich verweigert oder sich als unfähig erweist, ihn in sich als in das Grab oder die Höhle eines Narzissmus hieninzunehmen?“ (31)
Diese Untreue muß sich der Totenredner stellen.
„Die Grab- oder Totenrede ist ein Genre, dem von allen Seiten her Unaufrichtigkeit, Verblendung, sowie, natürlich, Verleugnung auflauern“ –
beschreiben die Herausgeber. Derrida nimmt diese Bewegungen auf, nicht zuletzt um zu zeigen, dass die Situation der Totenrede nicht erst mit dem Tod des anderen eintritt. Die mögliche und die unmögliche Trauer bestimmen schon in der Freundschaft deren Struktur.
Das wichtigste Argument ist in diesem Zusammenhang sicher, dass die Schrift selbst – und Derrida versteht bekanntlich auch die gesprochene Sprache als Schrift – nur als Schrift aufgrund der möglichen Abwesenheit ihres Sprechers verständlich sein kann. Strukturell ist jeder Sprecher im Sprechen tot, sonst könnte ich jetzt nicht sprechen. Zugleich sprechen wir nicht mehr mit den Toten. Sie sind tot, ihre einzigartige Welt ist mit ihnen gegangen. Kein Sprechen, kein Zitieren der von ihnen geschriebenen Sätze wird sie wieder lebendig machen, sie sprechen nur von dem Tod.
Es geht deshalb darum zu trauern – und in diesem Sinne sind die in dem Band versammelten Reden und Essays Trauerarbeit. Diese Trauerarbeit beginnt immer mit dem Eingeständnis, dass es nahezu unmöglich ist zu sprechen, zugleich aber notwendig. Es ist dies eine rhetorische Wendung – uns versagen die Worte usw. -, die aber wie die Verinnerlichung des Toten nicht verleugnet werden darf. Sonst wird sie zum Negativen.
Angesichts des Todes ist aber das Leben zu bejahen – und es gibt eben die Notwendigkeit angesichts der Trauer zu sprechen.
Ich möchte dies an einem Beispiel veranschaulichen, wie Derrida im Detail vorgeht. Dabei ist jede Rede, jeder Anlass spezifisch, es geht immer um einen Toten. Zum Beispiel Jean Francois Lyotard, der am 21. April 1998 starb. Derrida widmet ihm den Text Lyotard und wir. Schon der Titel weist auf ein Problem hin. Welches Wir wird hier annonciert? Das professorale Wir des großen Philosophen? Das gemeinschaftliche Wir von Autor und LeserInnen? Oder gar das Wir der ganzen Gesellschaft, auf die sich Jean François Lyotards Schriften, allen voran Der Widerstreit beziehen? Wie so oft in der Dekonstruktion wird hier weniger eine Antwort gegeben, als zahlreiche Fragen gestellt, die der Tod Lyotards aufgibt.
Und doch macht Derrida Aussagen, die sich angesichts des Todes gegen bestimm¬te Gewissheiten in unserem Umgang mit Texten und unseren Glauben an deren Tradierung wenden. Er nimmt einen Satz von Lyotard als Anlass:
"Es wird keine Trauer geben".
Dies ist ein fürchterlicher Satz. Aus dem Zusammenhang gerissen, behauptet er nicht weniger, als dass um den Toten niemand trauert. Aber ist dem so? An wen wendet sich der Satz überhaupt? Derrida stellt fest:
"Die Unmöglichkeit, diesem Satz einen einzigen Adressaten zuzuordnen, ist auch die – wahrscheinlich kalkulierte Unmöglichkeit, einen Kontext festzuhalten, mit dem Sinn oder dem Referenten der Aussage – die übrigens eher als einen Diskurs, noch bevor, sie ein Aussagen ist, eine Spur bildet und hinterläßt. Unmöglich, einen Kontext zu beschreiben, dessen Grenzen gewiß sind".
Der Kontext, in den jede Äußerung geworfen wird, bleibt so immer ungewiss. Der Tod macht es unmöglich, den Kontext zu kontrollieren. Jeder Satz bleibt strukturell notwendig in jedem anderen Kontext zitierbar. Eine Trauerrede wendet sich an den Toten und dieser kann zum Adressaten werden, weil alle Adressaten im Prinzip tot sind.
„Es wird keine Trauer geben.
Die Unmöglichkeit, diesem Satz einen einzigen Adressaten zuzuordnen, ist auch die – wahrscheinlich kalkulierte Unmöglichkeit, einen Kontext festzuhalten, mit dem Sinn oder dem Referenten der Aussage – die übrigens eher als einen Diskurs, noch bevor, sie ein Aussagen ist, eine Spur bildet und hinterläßt. Unmöglich, einen Kontext zu beschreiben, dessen Grenzen gewiß sind".
In dem bei¬läu¬figen Wort übrigens verbirgt sich übrigens eine Erinnerung an Derridas erstes großes Buch – die Grammatologie. Noch bevor die Aussage ein Aus¬sa¬gen ist, noch bevor sie mit einem Subjekt, einem Referenten oder Sinn identifiziert werden kann, hinterläßt die Aussage eine Spur, die nicht eindeutig lesbar ist. Sie hat unbegrenzte Kontexte. Sie ist, mit einem anderen Wort, das den Begriff der Spur gegenüber dem Begriff des Zeichens erklärt, historisch. Zeichen sind als Aussagen immer im strengen Sinn historisch. Sie entstehen in einem Kontext, der ihnen aber nicht anhaftet. Sie können, wie Gespenster, in jedem anderen Kontext erscheinen. Das macht sie nicht beliebig, sondern historisch genau. Deshalb betont Jacques Derridas die genaue, die immer wieder das Gelesene durchgehene und gegen den Strich lesende Lektüre der Schriften des Toten. Sie muss auch die Gespenster des Textes, das Gespenstische aller Texte lesen.
Jede Lektüre dringt nicht zu einem Kern des Textes vor, seinem Sinn oder seinem Referenten, der ihn endgültig erklären würde. Nein: Sie erforscht mögliche Kontexte, schafft neue, über¬raschende, kurz sie nimmt die Texte in ihrer Zerstreuung wahr. Nicht als einmalige Aussagen, sondern als immer wieder zu lesende Aussagen. Dieses Anliegen verband Derrida mit Lyotard. Der Vortrag ist an den Toten adres¬siert, gehalten vor Menschen, denen Derrida seine Freundschaft mit Lyotard folgendermassen beschreibt:
"Was die Schuld betrifft, so werde ich jedenfalls noch nicht einmal anfangen, Bilanz zu ziehen, ob es sich nun um die Freund¬schaft handelt, um die Philosophie oder um das, was die Freundschaft mit der Philosophie verbindet und was uns, J.-F. und mich, an so vielen Orten und zu so vielen Zeiten zusammengehalten haben wird (zusammengehalten ohne Synchronie, ohne Symmetrie, ohne Rezipro¬zität, in immer wieder bejahter Zerstreuung), daß selbst die Umrisse davon für mich immer unscharf bleiben werden".
Zusammengehalten ohne Synchronie, ohne Symmetrie, ohne Reziprozität, in immer wieder bejahter Zerstreuung: Die Zerstreuung, die Schrift bedeutet, die Materialität der Schrift, die immer wieder verneint wird, bejaht Derrida – als ihre möglichen Kontexte. Jede Kritik an dem Projekt der Dekonstruktion ist nur glaubhaft, wenn sie darum weiß. Wenn sie nicht die lange Tradition der Verdrängung, Ausgrenzung und Minimierung der Zerstreuung fortsetzt. Eine Zerstreuung über den Tod hinaus, der die Struktur des Todes – die Abwesenheit – innewohnt, sich aber gerade in der Äußerlichkeit der Zeichen zeigt.
So abstrakt dies jetzt klingen mag: linke Theorie, die sich anschickt, die Welt zu erklären, wie sie hinter ihren Erscheinungen in Wirklichkeit ist, hat ihre Lektion aus der Lektüre Derridas nicht gelernt. Dieses auf Texte bezogene Verfahren hat ausgreifende politische Implikationen, die noch längst nicht abzusehen sind. Das ist schließlich der Grund für die seltsamen Futur-Konstruktionen Derridas:
"was uns, J.-F. und mich, an so vielen Orten und zu so vielen Zeiten zusammengehalten haben wird (zusammengehalten ohne Synchronie, ohne Symmetrie, ohne Reziprozität, in immer wieder bejahter Zerstreuung)."
Die Geschichte ist noch nicht vollendet, auch wenn die Toten nicht mehr an ihr teilhaben. Noch während sie geschicht ist sie ohne Synchronie, ohne Symmetrie, ohne Reziprozität, in immer wieder bejahter Zerstreuung. Das ist Teil der Trauerarbeit, die Lyotard und wir uns aufgibt. Es wird nicht leicht zu begreifen sein, das wird ein Problem und eine Frage bleiben.
Dieser Exkurs zu einem der 17 Texte mag exemplarisch für Derridas Perspektive gelten. Der Text Lyotard und wir war schon 2002 beim Merve-Verlag als kleines Bändchen erschienen. Jedes Mal einzigartig, das Ende der Welt gliedert sich in schon bekannte Texte – besonders die umfangreicheren und bedeutenden Essays waren schon ins Deutsche übersetzt: zu Roland Barthes, Michel Foucault, Louis Marin, Emmanuel Levinas und Maurice Blanchot – und bisher im Deutschen unveröffentlichte Texte, die nicht weniger prominente Namen enthalten: Louis Althusser, Gilles Deleuze, Edmond Jabés und Sarah Kofman.
Dass Kofman die einzige Frau ist, der Derrida eine Totenrede widmete, ist sicherlich nicht nur Ausdruck einer gesell¬schaft¬lichen Situation, sondern reproduziert eben eine bestimmte Machtstruktur, die Jacques Derrida zwar immer wieder analysiert hat, aber oft nur bis zu einer bestimmten Grenze, die seine eigene Position nur bis zu einem gewissen Moment einbezieht. So wichtig Derridas Schriften für die feministische Philosophie sind, diese hat immer wieder sich genötigt gesehen, Derrida auch zu kritisieren.
Mit dem Band läßt sich zugleich gut durch Derridas Werk seit Anfang der Achtziger Jahre gehen. Er sammelt verstreut erschienene Texte ohne sie zu bündeln. Die verschiedenen Texte bleiben heterogen und spiegeln auch immer wieder, was den Philosophen umgetrieben hat, als der Tod eines Freundes diese Arbeit unterbrach und deren Trauerarbeit offensichtlich machte. Das hat Derrida in seinem letzten umfangreicheren Buch Politik der Freundschaft deutlich gemacht. Die Herausgeber beginnen damit ihre Einleitung:
„Einer geht immer vor dem anderen. In Politik der Freundschaft zeigt Jacques Derrida, dass dies das Gesetz der Freundschaft und also der Trauer ist. Von zwei Freunden muss immer einer vor dem anderen gehen; einer muß immer als erster sterben. Es gibt keine Freundschaft ohne die Möglichkeit, dass einer der beiden Freunde vor dem anderen stirbt. Ihre Freundschaft wird von Anfang an durch diese Möglichkeit strukturiert worden sein, dass einer der beiden den anderen sterben sieht, und dass der eine, als Überlebender, allein zurückbleibt, um den anderen zu begraben, seiner zu gedenken und ihn zu betrauern.“
Derrida war der Überlebende vieler Freunde, einer ganzen Generation, die versucht haben, ‚nach Auschwitz’ zu philosophieren.
2004 ist Jacques Derrida gestorben. Ein Jahr zuvor erschien auf französisch eine Sammlung aller seiner Totenreden unter dem Titel Jedes Mal einzigartig, das Ende der Welt. Jetzt ist dieses Buch übersetzt erschienen und versammelt alle Texte des Philosophen, die aufgrund des Todes eines Freundes entstanden sind. Derrida hat von 1981 an, mit dem Tode Roland Barthes und seinem Text Die Tode von Roland Barthes, Totenreden gehalten. Der französische Philosoph beschreibt, dass ihm dies nicht leicht gefallen wäre, hat er doch zuvor schon einiges allgemeines zum Verhältnis von Sprache und Tod formuliert. Aber eine Rede für einen Toten, an einen Toten, an die Trauernden zu halten, einen Nachruf – das ist etwas anderes. Es birgt einige Gefahren, derer sich mancher gerne entziehen würde – und gerade deshalb eine gewisse Verantwortung bedeuten, der sich die Überlebenden zu stellen haben. Die Trauer verinnerlicht den Toten immer, er wird zu nah und deshalb leicht vereinnahmbar. Das ist die erste Gefahr, für den Toten zu reden. Die eigene Verinnerlichung aufgrund des Endes des Anderen, der immer auch fremd geblieben ist, an die Stelle des anderen zu setzen. Noch gefährlicher wäre es allerdings, diese Verinnerlichung zu leugnen. Sie ist Teil des Todes des Freundes. Doch wie ist mit ihr umzugehen. Die Herausgeber der französischen Ausgabe Pacale-Anne Brault und Michael Nass formulieren dies mit Derrida als „unmögliche Wahl zwischen zwei Arten der Untreue“ gegenüber dem Freund. Derrida schreibt:
„Geschieht diese aufs äußerste tödliche, ja mörderische Untreue in der möglichen Trauer, die uns das Bild, das Idol oder das Ideal des gestorbenen und nur noch in uns lebenden anderen verinnerlicht.
Oder aber in all die unmögliche Trauer, die dem anderen seine Andersheit beläßt, seine unendliche Entfernung achtet, sich verweigert oder sich als unfähig erweist, ihn in sich als in das Grab oder die Höhle eines Narzissmus hieninzunehmen?“ (31)
Diese Untreue muß sich der Totenredner stellen.
„Die Grab- oder Totenrede ist ein Genre, dem von allen Seiten her Unaufrichtigkeit, Verblendung, sowie, natürlich, Verleugnung auflauern“ –
beschreiben die Herausgeber. Derrida nimmt diese Bewegungen auf, nicht zuletzt um zu zeigen, dass die Situation der Totenrede nicht erst mit dem Tod des anderen eintritt. Die mögliche und die unmögliche Trauer bestimmen schon in der Freundschaft deren Struktur.
Das wichtigste Argument ist in diesem Zusammenhang sicher, dass die Schrift selbst – und Derrida versteht bekanntlich auch die gesprochene Sprache als Schrift – nur als Schrift aufgrund der möglichen Abwesenheit ihres Sprechers verständlich sein kann. Strukturell ist jeder Sprecher im Sprechen tot, sonst könnte ich jetzt nicht sprechen. Zugleich sprechen wir nicht mehr mit den Toten. Sie sind tot, ihre einzigartige Welt ist mit ihnen gegangen. Kein Sprechen, kein Zitieren der von ihnen geschriebenen Sätze wird sie wieder lebendig machen, sie sprechen nur von dem Tod.
Es geht deshalb darum zu trauern – und in diesem Sinne sind die in dem Band versammelten Reden und Essays Trauerarbeit. Diese Trauerarbeit beginnt immer mit dem Eingeständnis, dass es nahezu unmöglich ist zu sprechen, zugleich aber notwendig. Es ist dies eine rhetorische Wendung – uns versagen die Worte usw. -, die aber wie die Verinnerlichung des Toten nicht verleugnet werden darf. Sonst wird sie zum Negativen.
Angesichts des Todes ist aber das Leben zu bejahen – und es gibt eben die Notwendigkeit angesichts der Trauer zu sprechen.
Ich möchte dies an einem Beispiel veranschaulichen, wie Derrida im Detail vorgeht. Dabei ist jede Rede, jeder Anlass spezifisch, es geht immer um einen Toten. Zum Beispiel Jean Francois Lyotard, der am 21. April 1998 starb. Derrida widmet ihm den Text Lyotard und wir. Schon der Titel weist auf ein Problem hin. Welches Wir wird hier annonciert? Das professorale Wir des großen Philosophen? Das gemeinschaftliche Wir von Autor und LeserInnen? Oder gar das Wir der ganzen Gesellschaft, auf die sich Jean François Lyotards Schriften, allen voran Der Widerstreit beziehen? Wie so oft in der Dekonstruktion wird hier weniger eine Antwort gegeben, als zahlreiche Fragen gestellt, die der Tod Lyotards aufgibt.
Und doch macht Derrida Aussagen, die sich angesichts des Todes gegen bestimm¬te Gewissheiten in unserem Umgang mit Texten und unseren Glauben an deren Tradierung wenden. Er nimmt einen Satz von Lyotard als Anlass:
"Es wird keine Trauer geben".
Dies ist ein fürchterlicher Satz. Aus dem Zusammenhang gerissen, behauptet er nicht weniger, als dass um den Toten niemand trauert. Aber ist dem so? An wen wendet sich der Satz überhaupt? Derrida stellt fest:
"Die Unmöglichkeit, diesem Satz einen einzigen Adressaten zuzuordnen, ist auch die – wahrscheinlich kalkulierte Unmöglichkeit, einen Kontext festzuhalten, mit dem Sinn oder dem Referenten der Aussage – die übrigens eher als einen Diskurs, noch bevor, sie ein Aussagen ist, eine Spur bildet und hinterläßt. Unmöglich, einen Kontext zu beschreiben, dessen Grenzen gewiß sind".
Der Kontext, in den jede Äußerung geworfen wird, bleibt so immer ungewiss. Der Tod macht es unmöglich, den Kontext zu kontrollieren. Jeder Satz bleibt strukturell notwendig in jedem anderen Kontext zitierbar. Eine Trauerrede wendet sich an den Toten und dieser kann zum Adressaten werden, weil alle Adressaten im Prinzip tot sind.
„Es wird keine Trauer geben.
Die Unmöglichkeit, diesem Satz einen einzigen Adressaten zuzuordnen, ist auch die – wahrscheinlich kalkulierte Unmöglichkeit, einen Kontext festzuhalten, mit dem Sinn oder dem Referenten der Aussage – die übrigens eher als einen Diskurs, noch bevor, sie ein Aussagen ist, eine Spur bildet und hinterläßt. Unmöglich, einen Kontext zu beschreiben, dessen Grenzen gewiß sind".
In dem bei¬läu¬figen Wort übrigens verbirgt sich übrigens eine Erinnerung an Derridas erstes großes Buch – die Grammatologie. Noch bevor die Aussage ein Aus¬sa¬gen ist, noch bevor sie mit einem Subjekt, einem Referenten oder Sinn identifiziert werden kann, hinterläßt die Aussage eine Spur, die nicht eindeutig lesbar ist. Sie hat unbegrenzte Kontexte. Sie ist, mit einem anderen Wort, das den Begriff der Spur gegenüber dem Begriff des Zeichens erklärt, historisch. Zeichen sind als Aussagen immer im strengen Sinn historisch. Sie entstehen in einem Kontext, der ihnen aber nicht anhaftet. Sie können, wie Gespenster, in jedem anderen Kontext erscheinen. Das macht sie nicht beliebig, sondern historisch genau. Deshalb betont Jacques Derridas die genaue, die immer wieder das Gelesene durchgehene und gegen den Strich lesende Lektüre der Schriften des Toten. Sie muss auch die Gespenster des Textes, das Gespenstische aller Texte lesen.
Jede Lektüre dringt nicht zu einem Kern des Textes vor, seinem Sinn oder seinem Referenten, der ihn endgültig erklären würde. Nein: Sie erforscht mögliche Kontexte, schafft neue, über¬raschende, kurz sie nimmt die Texte in ihrer Zerstreuung wahr. Nicht als einmalige Aussagen, sondern als immer wieder zu lesende Aussagen. Dieses Anliegen verband Derrida mit Lyotard. Der Vortrag ist an den Toten adres¬siert, gehalten vor Menschen, denen Derrida seine Freundschaft mit Lyotard folgendermassen beschreibt:
"Was die Schuld betrifft, so werde ich jedenfalls noch nicht einmal anfangen, Bilanz zu ziehen, ob es sich nun um die Freund¬schaft handelt, um die Philosophie oder um das, was die Freundschaft mit der Philosophie verbindet und was uns, J.-F. und mich, an so vielen Orten und zu so vielen Zeiten zusammengehalten haben wird (zusammengehalten ohne Synchronie, ohne Symmetrie, ohne Rezipro¬zität, in immer wieder bejahter Zerstreuung), daß selbst die Umrisse davon für mich immer unscharf bleiben werden".
Zusammengehalten ohne Synchronie, ohne Symmetrie, ohne Reziprozität, in immer wieder bejahter Zerstreuung: Die Zerstreuung, die Schrift bedeutet, die Materialität der Schrift, die immer wieder verneint wird, bejaht Derrida – als ihre möglichen Kontexte. Jede Kritik an dem Projekt der Dekonstruktion ist nur glaubhaft, wenn sie darum weiß. Wenn sie nicht die lange Tradition der Verdrängung, Ausgrenzung und Minimierung der Zerstreuung fortsetzt. Eine Zerstreuung über den Tod hinaus, der die Struktur des Todes – die Abwesenheit – innewohnt, sich aber gerade in der Äußerlichkeit der Zeichen zeigt.
So abstrakt dies jetzt klingen mag: linke Theorie, die sich anschickt, die Welt zu erklären, wie sie hinter ihren Erscheinungen in Wirklichkeit ist, hat ihre Lektion aus der Lektüre Derridas nicht gelernt. Dieses auf Texte bezogene Verfahren hat ausgreifende politische Implikationen, die noch längst nicht abzusehen sind. Das ist schließlich der Grund für die seltsamen Futur-Konstruktionen Derridas:
"was uns, J.-F. und mich, an so vielen Orten und zu so vielen Zeiten zusammengehalten haben wird (zusammengehalten ohne Synchronie, ohne Symmetrie, ohne Reziprozität, in immer wieder bejahter Zerstreuung)."
Die Geschichte ist noch nicht vollendet, auch wenn die Toten nicht mehr an ihr teilhaben. Noch während sie geschicht ist sie ohne Synchronie, ohne Symmetrie, ohne Reziprozität, in immer wieder bejahter Zerstreuung. Das ist Teil der Trauerarbeit, die Lyotard und wir uns aufgibt. Es wird nicht leicht zu begreifen sein, das wird ein Problem und eine Frage bleiben.
Dieser Exkurs zu einem der 17 Texte mag exemplarisch für Derridas Perspektive gelten. Der Text Lyotard und wir war schon 2002 beim Merve-Verlag als kleines Bändchen erschienen. Jedes Mal einzigartig, das Ende der Welt gliedert sich in schon bekannte Texte – besonders die umfangreicheren und bedeutenden Essays waren schon ins Deutsche übersetzt: zu Roland Barthes, Michel Foucault, Louis Marin, Emmanuel Levinas und Maurice Blanchot – und bisher im Deutschen unveröffentlichte Texte, die nicht weniger prominente Namen enthalten: Louis Althusser, Gilles Deleuze, Edmond Jabés und Sarah Kofman.
Dass Kofman die einzige Frau ist, der Derrida eine Totenrede widmete, ist sicherlich nicht nur Ausdruck einer gesell¬schaft¬lichen Situation, sondern reproduziert eben eine bestimmte Machtstruktur, die Jacques Derrida zwar immer wieder analysiert hat, aber oft nur bis zu einer bestimmten Grenze, die seine eigene Position nur bis zu einem gewissen Moment einbezieht. So wichtig Derridas Schriften für die feministische Philosophie sind, diese hat immer wieder sich genötigt gesehen, Derrida auch zu kritisieren.
Mit dem Band läßt sich zugleich gut durch Derridas Werk seit Anfang der Achtziger Jahre gehen. Er sammelt verstreut erschienene Texte ohne sie zu bündeln. Die verschiedenen Texte bleiben heterogen und spiegeln auch immer wieder, was den Philosophen umgetrieben hat, als der Tod eines Freundes diese Arbeit unterbrach und deren Trauerarbeit offensichtlich machte. Das hat Derrida in seinem letzten umfangreicheren Buch Politik der Freundschaft deutlich gemacht. Die Herausgeber beginnen damit ihre Einleitung:
„Einer geht immer vor dem anderen. In Politik der Freundschaft zeigt Jacques Derrida, dass dies das Gesetz der Freundschaft und also der Trauer ist. Von zwei Freunden muss immer einer vor dem anderen gehen; einer muß immer als erster sterben. Es gibt keine Freundschaft ohne die Möglichkeit, dass einer der beiden Freunde vor dem anderen stirbt. Ihre Freundschaft wird von Anfang an durch diese Möglichkeit strukturiert worden sein, dass einer der beiden den anderen sterben sieht, und dass der eine, als Überlebender, allein zurückbleibt, um den anderen zu begraben, seiner zu gedenken und ihn zu betrauern.“
Derrida war der Überlebende vieler Freunde, einer ganzen Generation, die versucht haben, ‚nach Auschwitz’ zu philosophieren.
Kommentare
|
|
24.07.2008 / 11:51 | RDL, Radio Dreyeckland, Freiburg |
gesendet
|
|
Infomagazin vom 24. Juli | |