Interview mit Anne Nivat zur Situation in Tschetschenien - Teil 2

ID 2209
 
Achtung vom Dezember 2001! Fragen deutsch, Antworten englisch;
Audio
05:06 min, 2390 kB, mp2
mp2, 64 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 28.10.2002 / 14:59

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Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: english
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Walter Kuhl, Redaktion Alltag & Geschichte
Radio: RadaR, Darmstadt im www
Produktionsdatum: 28.10.2002
keine Linzenz
Skript
Frage 7:

Kurz nach dem 11. September war ja Präsident Putin in Deutschland gewesen und es gab eine Pressekonferenz zusammen mit Gerhard Schröder, auf der Schröder gesagt hat, man müsse die Situation in Tschetschenien neu bewerten. Ist das eine Unterstützung für Putin, die den Krieg nochmal anheizt? //

Ja. Leider haben nach dem 11. September fast alle westlichen Politiker ihre Ansichten über Tschetschenien geändert. Oder zumindest sprechen sie jetzt anders über Tschetschenien. Vor dem 11. September wusste niemand wirklich, wer Putin ist. Immer war die Frage: Wer ist Putin? Wo geht Russland hin?
Als ob der 11. September wirklich alles verändert hätte, schwingen sich jetzt die selben Menschen als Problemlöser auf, die vorher wirklich keine Lösung bieten konnten. Diese veränderte Situation auf dem diplomatischen Parkett hat natürlich sehr negative Auswirkungen auf die Situation der Zivilbevölkerung in Tschetschenien. Vor dem 11. September war es den Journalisten und den Hilfsorganisationen gelungen, wenigstens ein bisschen Aufmerksamkeit auf Tschetschenien zu lenken. Das kann man jetzt vergessen. Sobald in einem Gespräch Tschetschenen erwähnt werden, denken die Menschen, die Tschetschenen seien die Bösen. Die russische Propaganda funktioniert gut und Putin ist es gelungen, die übrige Welt glauben zu lassen, dass er völlig richtig gehandelt hat, als er den Krieg gegen Tschetschenien begonnen hat, dass er den Krieg gegen den Terrorismus begonnen hat.
Das Problem ist: Es gibt einige Verbrecher und Terroristen in Tschetschenien. Aber die sind in der absoluten Minderheit. Die große Mehrheit der Menschen in Tschetschenien sind weder Verbrecher noch Terroristen. Und sie leiden unter einem scheußlichen Krieg, den Russland gegen sie führt. Putin benutzt die Situation in Afghanistan, um zu legitimieren, was er in Tschetschenien getan hat.
In zwei Jahren Krieg wurde nichts erreicht. Die einzigen Ergebnisse sind mehr Opfer in der Zivilbevölkerung und großes Chaos in der gesamten Region. Die Russen sind immer noch in Tschetschenien, ohne jeglichen militärischen Erfolg. Nicht einen einzigen bedeutenden Anführer haben sie erwischen können.


Frage 8:

Gibt es eine Möglichkeit, irgendwann mal zu einer Verhandlungslösung zu kommen, oder wird das jetzt knallhart durchgezogen, wie auch die USA und die NATO das in Afghanistan durchgezogen haben? //

Es ist sehr spät, sich noch einen Sieg auf einer der Seiten vorstellen zu können. Niemand will diesen Krieg wirklich und niemand kann ihn gewinnen. Priorität muss haben, die Bombardements zu stoppen. Den Horror und das Chaos zu stoppen. Ein unbeschädigtes Land ist in einen völlig desolaten Zustand versetzt worden: Es gibt keine Infrastruktur mehr. Die Lebensbedingungen sind schrecklicher, als wir es uns vorstellen können. Wer heute in Tschetschenien zwanzig ist, hat absolut keine Zukunft.
Anne Nivat denkt, für die Russen muss es nun Priorität haben, den Krieg zu beenden, indem mit Verhandlungen mit den Tschetschenen begonnen wird. Das wird im Kreml auch so gesehen. Besser jetzt als zu spät. Aber sie zweifelt, ob Verhandlungen, die bereits vor Monaten hätten beginnen können, dann auch wirklich geführt werden.


Frage 9:

Das heißt, es gibt im Moment keine Chance auf Frieden und irgendsowas, was wie zivilisiertes Leben aussieht in Tschetschenien? //

Im Moment ist Anne Nivat sehr pessimistisch für dieses kleine Land, das fast vergessen ist, und für das es neben der russischen Propaganda sehr schwierig ist, gehört zu werden.