Interview mit Prof. Thomas Szasz
ID 20165
Im Rahmen einer Sendung des Dissidentenfunks zum Thema: "Kontinuitäten der Psychiatrie": http://www.dissidentenfunk.de/archiv/s0712 ist dieses Interview mit Prof. Thomas Szasz entstanden, der inzwischen 87 Jahre ein neues Buch herausgebracht hat: "Coercion as Cure - A Critical History of Psychiatry".
Audio
09:51 min, 4550 kB, mp3
mp3, 63 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 17.12.2007 / 12:21
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Klassifizierung
Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Andere, Politik/Info
Serie: Die Kurz-Kolumne
keine Linzenz
Skript
Interview mit T. Szasz
René Talbot: Hallo Thomas, hier ist René. Herzlichen Dank für die Zeit, die Du Dir für dieses Interview nimmst.
Dieses Jahres ist Dein neues Buch "Coercion as cure – A critical history of psychiatry" ["Zwang als Heilung – Eine kritische Geschichte der Psychiatrie"] herausgekommen. Was ist das Besondere an diesem Buch?
Thomas Szasz: Das Besondere an meinem Buch ist etwas sehr einfaches und trotzdem sehr interessantes: Bisher hat niemand eine Geschichte der Psychiatrie geschrieben, die von der grundlegenden Annahme ausgeht, dass es Geisteskrankheit nicht gibt.
Die gesamte Geschichtsschreibung der Psychiatrie basiert auf der unhinterfragten Voraussetzung, daß Geisteskrankheiten auf die gleiche Art existierten wie körperliche Krankheiten und dass Ärzte versuchen, sie zu diagnostizieren und zu behandeln. Diese Annahme ist aber Unsinn.
Wir sollten besser fragen: Wie sieht die Geschichte der Psychiatrie aus, wenn es keine Geisteskrankheit gibt? In gleicher Weise könnte man auch fragen: Wie sieht die Geschichte einer monotheistischen Religion aus, wenn Gott nicht existiert?
Die Antwort ist im Fall der Religion, dass es Menschen gibt, die Gott anbeten oder ihn nicht anbeten, dass es Kirchen und Priester gibt und dass es selbstverständlich religiösen Glauben und Unglauben gibt – wie auch religiöse Verfolgung.
Die Antwort für die Psychiatrie ist ganz ähnlich: Es gibt eine freiwillige Psychiatrie für Menschen, die an Geisteskrankheiten und ihre Heilung glauben und ihr „huldigen" und sie können Drogen oder Elektroschocks oder Psychoanalyse erhalten oder was auch immer die „Seelenärzte" ihnen geben dürfen. Und dann gibt es Menschen, die die Psychiatrie ablehnen und denen all diese sogenannten Dienstleistungen mit Gewalt aufgezwungen werden.
Weder Psychiater noch die Medien unterscheiden heute diese beiden diametral entgegengesetzten Phänomene. Oder sie dürfen sie nicht unterscheiden. Ich behaupte, dass solange die Gesellschaft bzw. das Rechtssystem diese Unterscheidung nicht macht, sich an der heutigen Situation der Psychiatrie nichts ändern wird. Andererseits, wenn einmal diese Unterscheidung gemacht wurde, ist das das Ende der Zwangspsychiatrie und muß es auch sein. So wie auch die zwangsweise Religionszugehörigkeit abgeschafft wurde und abgeschafft werden mußte.
R.T.: Ja, es gibt eine Geschichte der Greueltaten, der Grausamkeiten und des Folterns.
T.S.: Selbstverständlich. Aber das gilt für jedes ideologische System, das auf Fiktion plus Gewalt basiert. Der Punkt ist, dass es die Fiktion von psychischer Krankheit gibt und dass es Psychiater gibt, die im Auftrag des Staates handeln; so wie es die Fiktion von Gott gab und gibt, und Priester, die einst als Agenten des Staates handelten, heute aber nicht mehr.
R.T.: Die Geschichte der Psychiatrie bzw. deren Interpretation ist immer auch verbunden mit Bewertungen, Fragen von Gut und Böse.
T.S.: Absolut richtig!
R.T.: Damit geht es unmittelbar auch um die Interessen an der derzeitigen psychiatrischen Praxis. Welche Reaktionen hat es inzwischen auf Dein Buch gegeben?
T.S.: Es hat nur eine und dazu sehr feindliche Rezension in der konservativen und rechtsgerichteten Zeitschrift "The Weekly Standard" gegeben.
R.T.: Und was ist Dein Kommentar dazu?
T.S.: Ich habe eine solche Reaktion erwartet oder auch überhaupt keine Berichte. Was können Psychiater auch anderes mit meinem Buch tun, als es abzulehnen oder zu ignorieren?
R.T.: Eine neue Frage: In der Einleitung zur deutschen Übersetzung "Mythos der Geisteskrankheit" schreibst Du: "Von allen akademischen Diszipinen und Wissenschaften ist vielleicht keine tiefer in der deutschen Sprache und Kultur verwurzelt als die Psychiatrie. Kahlbaum, Kraepelin und Bleuler, Freud, Adler und Jung und viele andere Begründer der modernen Psychaitrie schrieben deutsch. Auch wenn das Deutsche seit den dreisiger Jahren unseres Jahrhunderts vom Englischen als Idiom der Psychiatrie überrundet wurde: es bleibt doch die Muttersprache dieses Faches."
Welche Besonderheiten siehst Du für die Geschichte der deutschen Psychiatrie?
T.S.: Was ich im Sinne hatte, ist ein interessanter Unterschied zwischen Deutsch und Englisch. Im englischen haben wir das Wort "mind", sowohl als Substantiv wie als Verb verwendet. Wir sprechen von "mental illness." Auf Deutsch gibt es kein vergleichbares Wort, wie "mind". Es gibt Geist, also "spirit", und Seele, "soul". Ich denke, dies ist einer der Gründe, warum deutsche Psychiatrie näher an Philosophie, Religion, an den geistigen Aspekten der Menschen gewesen ist, als anglo-amerikanische Psychiatrie, die bestrebt war, materialistisch, wissenschaftlich und - im technischen Sinn - medizinisch zu sein.
R.T.: Denkst Du also, daß sich vom Sprachunterschied in Deutschland eine andere Geschichte der Psychiatrie entwickelt hat?
T.S.: Ironischerweise nicht. Es gibt überhaupt keinen Unterschied. Die Geschichte der Psychiatrie ist überall auf der Welt gleich. Überall basiert sie zum einen auf der Fiktion der Geisteskrankheit, die als Krankheit undefiniert ist und vielmehr als Euphemismus für auffälliges bzw. unerwünschtes Verhalten, wie Homosexualität oder Betrunkenheit verwendet wird und andererseits basiert diese Geschichte der Psychiatrie auf Zwang. Das heißt, auf der Macht des Psychiaters, den Patienten wegzusperren. In der Medizin ist Behandlungsvoraussetzung die Zustimmung des Patienten. In der Psychiatrie werden Leute - die oft nicht Patienten sein möchten – ohne ihrer Zustimmung behandelt. Diese einfache Wahrheit wird ständig verleugnet, verborgen oder ihr wird ausgewichen.
R.T.: Sie ändern zwar ständig die Flasche, aber der Wein bleibt der gleiche ...
T.S.: Genau! Das ist absolut richtig! Darum habe ich mein Buch auch "Zwang als Heilung" ["Coercion as Cure"] betitelt: weil "Zwang" der entscheidende Begriff, die entscheidende Frage ist: der Gebrauch von staatlich autorisierter Gewalt.
R.T.: Das ist das zentrale Thema.
T.S.: Ja, das ist das zentrale Thema meiner Arbeit und deshalb ist es egal, ob der Staat ein kommunistischer Staat, ein Nazi-Staat, ein amerikanischer Staat oder ein britischer Staat ist. Alle benutzen Psychiatrie als einen Arm des staatlichen Zwangsapparats.
R.T.: ... und der Staat legitimiert diesen Zwang und diese Gewalt.
T.S.: Ja! Es ist immer der Staat in der modernen Welt. Hier sieht man noch einmal die Analogie zur Religion: In der vormodernen Welt legitimiert die Religion die Anwendung von Gewalt und in der modernen Welt übernimmt der weltliche Staat diese Funktion.
R.T.: Zwei Kapitel Deines Buches "Zwang als Heilung" werden Drogen gewidmet, deren Gebrauch und Dominanz in der Psychiatrie während Deiner professionellen Karriere ihren Anfang nahmen. Du unterscheidest zwischen Drogen, die Leute wollen und Drogen, die die Leute nicht wollen, zwischen Drogen, die der Staat erlaubt und Drogen, die der Staat verbietet. Gibt es, Deiner Meinung nach, außer den Nebenwirkungen, überhaupt irgendeinem Effekt der psychogenen – sogenannten therapeutischen – Drogen?
T.S.: Wir sollten das Wort „Nebenwirkung“ in diesem Zusammenhang besser nicht benutzen. Drogen haben bestimmte biologische- und Verhaltenswirkungen. Einige Wirkungen werden von den Patienten oder Ärzten oder Politikern gewünscht, und andere Wirkungen werden nicht gewünscht. Wir müssen diesbezüglich sehr klar sein.
"Wünschenswert" und "nicht wünschenswert" sind nicht medizinische Begriffe. Sie sind Bezeichnungen, die sich auf die kulturellen, sozialen und medizinischen Kontexte, persönliche Präferenzen, politische Überlegungen u.s.w. beziehen. Ist Morphium eine gute Droge oder eine schlechte Droge? Wenn ein Patient mit Krebs im Sterben liegt und Schmerzen hat, dann ist es eine gute Droge. Wenn er ein ehrgeiziger Politiker ist, der sich mit einer neuen Aufgabe profilieren will, macht er einen "Krieg gegen Drogen" und erklärt Schlafmohn zum "Feind", der zerstört werden muss. Unterdessen könnte es sein, daß er oder irgendein Mitglied seiner Familie insgeheim Heroin konsumiert bzw. – wie man so sagt - "mißbraucht".
Nebenwirkungen sind einfach unerwünschte Wirkungen. Im Krieg ist der Tod feindlicher Soldaten eine Wirkung. Der Tod unserer Soldaten ist eine Nebenwirkung.
R.T.: Anders gesagt, es gibt keine Nebenwirkungen, sondern nur Wirkungen?
T.S.: Richtig. Eines meiner Argumente in "Zwang als Heilung" lautet, dass wir im Falle aller bewußtseinsverändernden Drogen zwischen den Drogen, die die Leute nehmen möchten und Drogen, die die Leute nicht nehmen möchten, unterscheiden müssen. Außerdem müssen wir im Auge behalten, daß viele der Drogen, die die Leute nehmen möchten, illegal sind und wenn Du sie kaufst oder verkaufst, dann gehst Du ins Gefängnis.
R.T.: Nicht alle, Alkohol ist nicht verboten.
T.S.: Alkohol jetzt nicht! Aber es ist noch gar nicht so lange her, dass Alkohol in den Vereinigten Staaten verboten war. Er wird noch immer in den islamischen Ländern verboten.
Ich bezog mich in meinem Buch auf Opiate und den Krieg in Afghanistan, der ein Krieg gegen Drogen ist, und stellte ihn gegenüber dem "Krieg für psychiatrische Drogen," für Drogen, die viele Leute nicht nehmen wollen, aber dazu gezwungen werden!
R.T.: Könntest Du uns etwas über die neuen Projekte erzählen, an denen Du arbeitest?
T.S.: Ja, das würde ich gerne, aber das würde den Rahmen des Interviews sprengen. Soviel kann ich aber sagen: Der Titel meines nächsten Buches fasst zusammen, was ich seit mehr als fünfzig Jahren versuche klarzustellen: "Psychiatry: The Science of Lies" ("Psychiatrie: Die Wissenschaft der Lüge ").
Geisteskrankheit ist Täuschung, Selbsttäuschung, eine Lüge. Psychiatrie als medizinisches Spezialgebiet ist eine Lüge. Psychotherapie ist eine Lüge. Wieder gibt es die Analogie zur Religion: für einen Atheisten ist Religion eine Fabel oder Mythos oder Unterdrückung, oder eben eine Lüge.
R.T.: Ich hoffe sehr, daß Dein Buch "Zwang als Heilung" ins Deutsch übersetzt werden wird.
T.S.: Danke. Das hoffe ich auch, aber ich zähle nicht darauf. Unsere westliche Kultur ist während der letzten fünfzig Jahre in zunehmendem Maße unkritisch gegen die Psychiatrie geworden. Mein Buch "Geisteskrankheit - Ein moderner Mythos?" wurde ins Deutsche übersetzt. "Insanity" nicht. "Liberation by Oppression" auch nicht.
Der Benutzung von Drogen für die angebliche Behandlung sogenannter "Geisteskrankheiten" hat dafür gesorgt, dass Psychiatrie mehr als früher den Anschein von Medizin erweckt.
R.T.: Ja, weil es eine typische Methode der Medizin ist, Drogen zu benutzen, um Krankheiten zu behandeln.
T.S.: Genau. Wenn Du zu einem Arzt gehst, gibt er Dir ein Medikament. Nun geschieht genau das Gleiche: Du gehst zu einem Arzt, sagst, daß Du nervös bist und er gibt Dir eine Droge und dann wird es psychiatrische Behandlung genannt. So etwas gab es nicht, als ich meine medizinische Ausbildung machte.
René Talbot: Hallo Thomas, hier ist René. Herzlichen Dank für die Zeit, die Du Dir für dieses Interview nimmst.
Dieses Jahres ist Dein neues Buch "Coercion as cure – A critical history of psychiatry" ["Zwang als Heilung – Eine kritische Geschichte der Psychiatrie"] herausgekommen. Was ist das Besondere an diesem Buch?
Thomas Szasz: Das Besondere an meinem Buch ist etwas sehr einfaches und trotzdem sehr interessantes: Bisher hat niemand eine Geschichte der Psychiatrie geschrieben, die von der grundlegenden Annahme ausgeht, dass es Geisteskrankheit nicht gibt.
Die gesamte Geschichtsschreibung der Psychiatrie basiert auf der unhinterfragten Voraussetzung, daß Geisteskrankheiten auf die gleiche Art existierten wie körperliche Krankheiten und dass Ärzte versuchen, sie zu diagnostizieren und zu behandeln. Diese Annahme ist aber Unsinn.
Wir sollten besser fragen: Wie sieht die Geschichte der Psychiatrie aus, wenn es keine Geisteskrankheit gibt? In gleicher Weise könnte man auch fragen: Wie sieht die Geschichte einer monotheistischen Religion aus, wenn Gott nicht existiert?
Die Antwort ist im Fall der Religion, dass es Menschen gibt, die Gott anbeten oder ihn nicht anbeten, dass es Kirchen und Priester gibt und dass es selbstverständlich religiösen Glauben und Unglauben gibt – wie auch religiöse Verfolgung.
Die Antwort für die Psychiatrie ist ganz ähnlich: Es gibt eine freiwillige Psychiatrie für Menschen, die an Geisteskrankheiten und ihre Heilung glauben und ihr „huldigen" und sie können Drogen oder Elektroschocks oder Psychoanalyse erhalten oder was auch immer die „Seelenärzte" ihnen geben dürfen. Und dann gibt es Menschen, die die Psychiatrie ablehnen und denen all diese sogenannten Dienstleistungen mit Gewalt aufgezwungen werden.
Weder Psychiater noch die Medien unterscheiden heute diese beiden diametral entgegengesetzten Phänomene. Oder sie dürfen sie nicht unterscheiden. Ich behaupte, dass solange die Gesellschaft bzw. das Rechtssystem diese Unterscheidung nicht macht, sich an der heutigen Situation der Psychiatrie nichts ändern wird. Andererseits, wenn einmal diese Unterscheidung gemacht wurde, ist das das Ende der Zwangspsychiatrie und muß es auch sein. So wie auch die zwangsweise Religionszugehörigkeit abgeschafft wurde und abgeschafft werden mußte.
R.T.: Ja, es gibt eine Geschichte der Greueltaten, der Grausamkeiten und des Folterns.
T.S.: Selbstverständlich. Aber das gilt für jedes ideologische System, das auf Fiktion plus Gewalt basiert. Der Punkt ist, dass es die Fiktion von psychischer Krankheit gibt und dass es Psychiater gibt, die im Auftrag des Staates handeln; so wie es die Fiktion von Gott gab und gibt, und Priester, die einst als Agenten des Staates handelten, heute aber nicht mehr.
R.T.: Die Geschichte der Psychiatrie bzw. deren Interpretation ist immer auch verbunden mit Bewertungen, Fragen von Gut und Böse.
T.S.: Absolut richtig!
R.T.: Damit geht es unmittelbar auch um die Interessen an der derzeitigen psychiatrischen Praxis. Welche Reaktionen hat es inzwischen auf Dein Buch gegeben?
T.S.: Es hat nur eine und dazu sehr feindliche Rezension in der konservativen und rechtsgerichteten Zeitschrift "The Weekly Standard" gegeben.
R.T.: Und was ist Dein Kommentar dazu?
T.S.: Ich habe eine solche Reaktion erwartet oder auch überhaupt keine Berichte. Was können Psychiater auch anderes mit meinem Buch tun, als es abzulehnen oder zu ignorieren?
R.T.: Eine neue Frage: In der Einleitung zur deutschen Übersetzung "Mythos der Geisteskrankheit" schreibst Du: "Von allen akademischen Diszipinen und Wissenschaften ist vielleicht keine tiefer in der deutschen Sprache und Kultur verwurzelt als die Psychiatrie. Kahlbaum, Kraepelin und Bleuler, Freud, Adler und Jung und viele andere Begründer der modernen Psychaitrie schrieben deutsch. Auch wenn das Deutsche seit den dreisiger Jahren unseres Jahrhunderts vom Englischen als Idiom der Psychiatrie überrundet wurde: es bleibt doch die Muttersprache dieses Faches."
Welche Besonderheiten siehst Du für die Geschichte der deutschen Psychiatrie?
T.S.: Was ich im Sinne hatte, ist ein interessanter Unterschied zwischen Deutsch und Englisch. Im englischen haben wir das Wort "mind", sowohl als Substantiv wie als Verb verwendet. Wir sprechen von "mental illness." Auf Deutsch gibt es kein vergleichbares Wort, wie "mind". Es gibt Geist, also "spirit", und Seele, "soul". Ich denke, dies ist einer der Gründe, warum deutsche Psychiatrie näher an Philosophie, Religion, an den geistigen Aspekten der Menschen gewesen ist, als anglo-amerikanische Psychiatrie, die bestrebt war, materialistisch, wissenschaftlich und - im technischen Sinn - medizinisch zu sein.
R.T.: Denkst Du also, daß sich vom Sprachunterschied in Deutschland eine andere Geschichte der Psychiatrie entwickelt hat?
T.S.: Ironischerweise nicht. Es gibt überhaupt keinen Unterschied. Die Geschichte der Psychiatrie ist überall auf der Welt gleich. Überall basiert sie zum einen auf der Fiktion der Geisteskrankheit, die als Krankheit undefiniert ist und vielmehr als Euphemismus für auffälliges bzw. unerwünschtes Verhalten, wie Homosexualität oder Betrunkenheit verwendet wird und andererseits basiert diese Geschichte der Psychiatrie auf Zwang. Das heißt, auf der Macht des Psychiaters, den Patienten wegzusperren. In der Medizin ist Behandlungsvoraussetzung die Zustimmung des Patienten. In der Psychiatrie werden Leute - die oft nicht Patienten sein möchten – ohne ihrer Zustimmung behandelt. Diese einfache Wahrheit wird ständig verleugnet, verborgen oder ihr wird ausgewichen.
R.T.: Sie ändern zwar ständig die Flasche, aber der Wein bleibt der gleiche ...
T.S.: Genau! Das ist absolut richtig! Darum habe ich mein Buch auch "Zwang als Heilung" ["Coercion as Cure"] betitelt: weil "Zwang" der entscheidende Begriff, die entscheidende Frage ist: der Gebrauch von staatlich autorisierter Gewalt.
R.T.: Das ist das zentrale Thema.
T.S.: Ja, das ist das zentrale Thema meiner Arbeit und deshalb ist es egal, ob der Staat ein kommunistischer Staat, ein Nazi-Staat, ein amerikanischer Staat oder ein britischer Staat ist. Alle benutzen Psychiatrie als einen Arm des staatlichen Zwangsapparats.
R.T.: ... und der Staat legitimiert diesen Zwang und diese Gewalt.
T.S.: Ja! Es ist immer der Staat in der modernen Welt. Hier sieht man noch einmal die Analogie zur Religion: In der vormodernen Welt legitimiert die Religion die Anwendung von Gewalt und in der modernen Welt übernimmt der weltliche Staat diese Funktion.
R.T.: Zwei Kapitel Deines Buches "Zwang als Heilung" werden Drogen gewidmet, deren Gebrauch und Dominanz in der Psychiatrie während Deiner professionellen Karriere ihren Anfang nahmen. Du unterscheidest zwischen Drogen, die Leute wollen und Drogen, die die Leute nicht wollen, zwischen Drogen, die der Staat erlaubt und Drogen, die der Staat verbietet. Gibt es, Deiner Meinung nach, außer den Nebenwirkungen, überhaupt irgendeinem Effekt der psychogenen – sogenannten therapeutischen – Drogen?
T.S.: Wir sollten das Wort „Nebenwirkung“ in diesem Zusammenhang besser nicht benutzen. Drogen haben bestimmte biologische- und Verhaltenswirkungen. Einige Wirkungen werden von den Patienten oder Ärzten oder Politikern gewünscht, und andere Wirkungen werden nicht gewünscht. Wir müssen diesbezüglich sehr klar sein.
"Wünschenswert" und "nicht wünschenswert" sind nicht medizinische Begriffe. Sie sind Bezeichnungen, die sich auf die kulturellen, sozialen und medizinischen Kontexte, persönliche Präferenzen, politische Überlegungen u.s.w. beziehen. Ist Morphium eine gute Droge oder eine schlechte Droge? Wenn ein Patient mit Krebs im Sterben liegt und Schmerzen hat, dann ist es eine gute Droge. Wenn er ein ehrgeiziger Politiker ist, der sich mit einer neuen Aufgabe profilieren will, macht er einen "Krieg gegen Drogen" und erklärt Schlafmohn zum "Feind", der zerstört werden muss. Unterdessen könnte es sein, daß er oder irgendein Mitglied seiner Familie insgeheim Heroin konsumiert bzw. – wie man so sagt - "mißbraucht".
Nebenwirkungen sind einfach unerwünschte Wirkungen. Im Krieg ist der Tod feindlicher Soldaten eine Wirkung. Der Tod unserer Soldaten ist eine Nebenwirkung.
R.T.: Anders gesagt, es gibt keine Nebenwirkungen, sondern nur Wirkungen?
T.S.: Richtig. Eines meiner Argumente in "Zwang als Heilung" lautet, dass wir im Falle aller bewußtseinsverändernden Drogen zwischen den Drogen, die die Leute nehmen möchten und Drogen, die die Leute nicht nehmen möchten, unterscheiden müssen. Außerdem müssen wir im Auge behalten, daß viele der Drogen, die die Leute nehmen möchten, illegal sind und wenn Du sie kaufst oder verkaufst, dann gehst Du ins Gefängnis.
R.T.: Nicht alle, Alkohol ist nicht verboten.
T.S.: Alkohol jetzt nicht! Aber es ist noch gar nicht so lange her, dass Alkohol in den Vereinigten Staaten verboten war. Er wird noch immer in den islamischen Ländern verboten.
Ich bezog mich in meinem Buch auf Opiate und den Krieg in Afghanistan, der ein Krieg gegen Drogen ist, und stellte ihn gegenüber dem "Krieg für psychiatrische Drogen," für Drogen, die viele Leute nicht nehmen wollen, aber dazu gezwungen werden!
R.T.: Könntest Du uns etwas über die neuen Projekte erzählen, an denen Du arbeitest?
T.S.: Ja, das würde ich gerne, aber das würde den Rahmen des Interviews sprengen. Soviel kann ich aber sagen: Der Titel meines nächsten Buches fasst zusammen, was ich seit mehr als fünfzig Jahren versuche klarzustellen: "Psychiatry: The Science of Lies" ("Psychiatrie: Die Wissenschaft der Lüge ").
Geisteskrankheit ist Täuschung, Selbsttäuschung, eine Lüge. Psychiatrie als medizinisches Spezialgebiet ist eine Lüge. Psychotherapie ist eine Lüge. Wieder gibt es die Analogie zur Religion: für einen Atheisten ist Religion eine Fabel oder Mythos oder Unterdrückung, oder eben eine Lüge.
R.T.: Ich hoffe sehr, daß Dein Buch "Zwang als Heilung" ins Deutsch übersetzt werden wird.
T.S.: Danke. Das hoffe ich auch, aber ich zähle nicht darauf. Unsere westliche Kultur ist während der letzten fünfzig Jahre in zunehmendem Maße unkritisch gegen die Psychiatrie geworden. Mein Buch "Geisteskrankheit - Ein moderner Mythos?" wurde ins Deutsche übersetzt. "Insanity" nicht. "Liberation by Oppression" auch nicht.
Der Benutzung von Drogen für die angebliche Behandlung sogenannter "Geisteskrankheiten" hat dafür gesorgt, dass Psychiatrie mehr als früher den Anschein von Medizin erweckt.
R.T.: Ja, weil es eine typische Methode der Medizin ist, Drogen zu benutzen, um Krankheiten zu behandeln.
T.S.: Genau. Wenn Du zu einem Arzt gehst, gibt er Dir ein Medikament. Nun geschieht genau das Gleiche: Du gehst zu einem Arzt, sagst, daß Du nervös bist und er gibt Dir eine Droge und dann wird es psychiatrische Behandlung genannt. So etwas gab es nicht, als ich meine medizinische Ausbildung machte.