Transformative Gerechtigkeit: "Niemensch ist sicher bis wir alle sicher sind"

ID 129801
  Extern gespeichert!
AnhörenDownload
Mia Mingus aus Georgia, USA, bezeichnet sich selbst als "physically disabled, queer Korean transracial and transnational adoptee" und als Überlebende von sexuellem Kindsmißbrauch. Das alles prägt ihre Arbeit als Aktivistin. Sie arbeitet schon seit 20 Jahren mit den Mitteln der Transformativen Gerechtigkeit (TG) und sieht dies in Ergänzung mit Restaurativer oder wiederherstellender Gerechtigkeit (RJ) als ernstzunehmende Alternative für Knast, Polizei, Strafe und soziale Rache an.

siehe auch:

Wie sähe eine Stadt ohne Polizei aus? https://www.freie-radios.net/129467
"Wir leben in einer Zeit der Masseninhaftierung" https://www.freie-radios.net/129371
"Viele von uns wissen noch nicht einmal, wie man sich entschuldigt" https://www.freie-radios.net/129222
"Die Polizei zu rufen ist keine Option" https://www.freie-radios.net/129137
"Heilung ist Transformation" https://www.freie-radios.net/128940
Transformative Gerechtigkeit heißt gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme https://www.freie-radios.net/128651
Audio
10:32 min, 13 MB, mp3
mp3, 173 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 15.07.2024 / 12:54

Dateizugriffe: 67

Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: MoRa3X
Entstehung

AutorInnen: die meike
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 15.07.2024
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Meike: Ich habe gelesen, dass transformative Gerechtigkeit ein Weg ist, um die Wut über ein ganzes Leben lang erlittene Diskriminierung als Motor zu nutzen. Sie wurde in den 1990er Jahren von cis- und trans*-Frauen of Color entwickelt und basiert auf den vorkolonialen Rechtssystemen von Indigenen First Nations und Native Americans. Könntest du über diese vorkolonialen Systeme sprechen und wie du sie in deine Arbeit einbeziehst?

Mia: Der Kreisprozess könnte eines dieser Systeme sein. Die Arbeit, die ich mache, ist transformative Gerechtigkeit. Und klar: ich verwende die Mittel der transformativen Gerechtigkeit – kurz: TG– in meiner Arbeit für transformative Gerechtigkeit (lacht), und ein großer Teil dieser Arbeit basiert auf den Bedingungen, unter denen wir derzeit leben. Ein großer Teil meiner Arbeit dreht sich derzeit um grundlegende Bildung, Ausbildung und Training. Es geht einfach darum, die Leute über den Rahmen der transformativen Gerechtigkeit aufzuklären, und auch über einige der umfassenderen Konzepte innerhalb der transformativen Gerechtigkeit. Diese Art von Basisarbeit beinhaltet oft den Aufbau von Beziehungen und grundlegenden Fähigkeiten. Bis hin zu Partner*innenschaften mit Communities, Gemeinschaften oder Gruppen, um fortgeschrittenere und tiefgreifendere Arbeit zu leisten; Menschen zu unterstützen, damit sie in der Lage sind, Interventionen für transformative Gerechtigkeit und Rechenschaftsprozesse durchzuführen. All das. Ich denke, dass transformative Gerechtigkeit auf alles angewandt werden kann: Von offener Gewalt bis hin zu unserem täglichen Leben. Wir können unsere Fähigkeiten der transformativen Gerechtigkeit praktizieren und damit trainieren. Wie zum Beispiel die Rechenschaftspflicht. Wir können auch bei der Arbeit Bedingungen schaffen, die eine transformative Gerechtigkeit möglich machen. Ich würde sagen TG ist die Hauptarbeit, die ich mache. Und oft ist es eine Arbeit, die, denke ich, persönliche und eher politische Bedürfnisse erfordert. Es ist eine menschliche Arbeit und gleichzeitig auch eine absolut rigorose politische Arbeit. Und ich denke, dass transformative Gerechtigkeit uns wirklich anspornt und uns herausfordert, nicht nur gut reden zu können, sondern auch die Art von Befreiung zu praktizieren, die wir suchen.

Meike: Ich habe auch gelesen, dass Mediation in den Prozess einbezogen werden kann. Ist das bei eurer Arbeit der Fall und wie sieht das aus?

Mia: Ja, absolut! Auf jeden Fall. Mediation kann Teil des Prozesses sein, und manchmal ist Mediation der Prozess. Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber manchmal wollen die Leute TG-Interventionen durchführen, wie z.B. umfassende gemeinschaftliche Rechenschaftsprozesse für Dinge, die nicht nötig sind. Bei denen eine gute Mediation, ein guter Mediator, eine gute Mediatorin, ihnen helfen kann, sie zu bearbeiten. Also absolut! Und auch umgekehrt. Und manchmal gibt es noch dazu einen umfassenden Prozess, eine Intervention, die stattfindet, und dann ist die Mediation auf verschiedene Weise nützlich in diesem Rahmen.

Meike: Ja, du hast schon die Räume für Trans- und Queerfolks of Color erwähnt. Ist das vielleicht ein Konzept für einen sicheren Raum in deinem Kontext?

Mia: Ganz genau. Wie ich schon sagte: In vielen unserer Bewegungen reden wir darüber, dass es keinen sicheren Raum gibt. Also keinen Raum, der völlig sicher ist. Also reden wir über safer spaces oder mutige Räume oder generative Räume. Aber das gehört natürlich auch dazu. Wo auch immer du lebst, wer auch immer das hier hört, stell dir vor: In deiner Stadt gäbe es mehrere öffentlich Räume - ich weiß nicht, wie wir sie nennen würden - wo die Leute einfach vorbeikommen und sich aufhalten können, die nicht in Privatbesitz sind. Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber in den USA ist öffentlicher Raum wirklich sehr selten. Er ist schwer zu finden. Und so sind Bibliotheken zum Beispiel einer der letzten öffentlichen Räume, wo die Leute hingehen und sich vor dem Wetter schützen können. Dort ist es warm und trocken. Sie können einen Computer benutzen. Sie können sich Bücher ansehen, sich hinsetzen und lesen. Sie müssen sie nicht mit hinaus nehmen. So dient die Bibliothek mehr als nur der Bücherausleihe. Sie ist ein niedrigschwelliger, gemeinschaftlicher Ort.
Vielleicht gibt es in der Stadt, in der du lebst, mehrere dieser gemeinschaftlichen Einrichtungen. Und jeder* und jede* kann dort einfach hingehen und sich sicher fühlen. Ohne sich Sorgen machen zu müssen, kontrolliert oder überwacht zu werden. Oder mensch kann vielleicht Zugang zu einer Dienstleistung oder einer Pflege bekommen, die es braucht oder mithilfe von Unterstützung ein Problem, mit dem mensch konfrontiert ist, angehen. Oder sie können sich einfach entspannen! Und einfach reden und Gespräche führen. Vielleicht gibt es einen Raum in der Einrichtung, wo du versorgt werden kannst. Vielleicht gibt es vier oder fünf Räume, die nur für die Bearbeitung von Konflikten vorgesehen sind. Wenn diese Räume frei sind, kannst du und dein Freund oder deine Freundin, wenn ihr euch gestritten habt, einfach hineingehen. Weil ihr in eurer WG vielleicht keinen Platz dafür finden könnt. Ihr könnt in einen dieser Räume gehen und euch dort so lange hinsetzen, wie ihr braucht, um euren Konflikt zu lösen. Vielleicht gibt es einen großen Raum, in dem man sich hinsetzen und Kreisübungen machen kann, wenn es nötig ist, und wo Gruppen von Menschen ihre Konflikte bearbeiten können. Ganz genau. Wieder eine lange Antwort auf deine Frage, aber ja.

Meike: du bist abolitionistin, setzt dich also für die Abschaffung von Gefängnissen ein. Du bist der meinung, dass tg. eine Alternative zum Gefängnis, zu Polizei und Strafe und sozialer Rache ist, richtig?

Mia: Ja.

Meike:zum thema, Wiedergutmachung.Und du hast vorhin erwähnt, ein Beispiel könnte sein... die Therapie von jemandem zu bezahlen, das kenne ich aus dem Konzept der wiederherstellenden Gerechtigkeit. Ist das ein Teil der transformativen Gerechtigkeit? Oder gibt es einen Weg von der wiederherstellenden zur transformativen Gerechtigkeit? Oder gibt es so etwas wie Verbindungen zwischen diesen beiden Konzepten?

Mia: Es gibt definitiv Verbindungen. Ich habe ein Interview mit, ich glaube, Kat Brooks von APTP gemacht, dem Anti-Polizeiterror-Projekt. Ich habe eine 20-minütige Antwort darauf gegeben. Aber die kurze Antwort auf deine Frage lautet: Ja, ich denke, dass wiederherstellende Gerechtigkeit und transformative Gerechtigkeit miteinander verbunden sind. Es sind zwei verschiedene Rahmenkonzepte. Sie gehören aber beide zu dem großen Bereich der gemeinschaftlichen Antworten auf Gewalt. Ich denke, es ist auch wichtig zu verstehen, worin sie sich unterscheiden. Ich glaube, dass sie nützlich sind. Sie können auf unterschiedliche Weise nützlich sein und sich gegenseitig ergänzen.
Zum Beispiel hat man zumindest in den USA damit begonnen, die opferorientierte Justiz an einigen Orten zu integrieren. So wird sie zum Beispiel in Schulen integriert. Oder an manchen Orten manchmal sogar in staatliche Maßnahmen. Ein Staat könnte zum Beispiel eine Option anbieten, die besagt, dass man, wenn man eine Art von Gewalt erlebt, auch den Weg der wiederherstellenden Gerechtigkeit gehen kann, wenn man das möchte. Das ist etwas ganz anderes als transformative Gerechtigkeit, die in der Regel außerhalb der staatlichen Systeme stattfindet. Sie würde also nicht unbedingt innerhalb des öffentlichen Schulsystems oder innerhalb eines Staates als Reaktion auf Gewalt angewendet werden. Dennoch denke ich, dass wir wirklich beides brauchen, denn es gibt Orte, die TG nicht erreichen kann, weil sie innerhalb des Staates liegen, aber RJ, Restorative Justice, also restaurative oder wiederherstellende Gerechtigkeit, kann sie erreichen. Und umgekehrt! Es gibt viele Menschen, die eine Antwort auf Gewalt brauchen, und sie können nichts tun, was mit dem Staat zu tun hat. Und das letzte, was ich sagen möchte, ist, dass viele TG -Praktiker*innen, die ich kenne, zum Beispiel die Praxis des Kreises für Wiedergutmachungsgerechtigkeit in ihrer Arbeit verwenden, zum Beispiel in einer Intervention.
Ich hoffe, das beantwortet deine Frage.

Meike: I read that transformative justice is a way of using the rage of suffering discrimination a whole life as a motor. Developed in the 1990s by cis and trans women of color based on indigenous pre-colonial First Nation justice systems. Could you talk about those pre-colonial systems and how do you include them in your work?
Mia: circle process might be one of them, one of those systems. I mean, the work that I do is transformative justice. And so I absolutely use transformative justice in my transformative justice work and a lot of that work looks like, you know, based on the conditions that we're currently in. A lot of that work right now looks like a ton of just basic ground level education and training. Just educating folks on the transformative justice framework, as well as, you know, some of the broader Concepts within transformative justice. and then that includes, you know, I do all kinds of work inside of that inside of TJ. So the kind of basic work I was talking about in terms of training and that often involves relationship building and building of basic skills, everything from that to, you know, partnering with communities or groups to do more advanced work and more in depth work, supporting people to be able to have transformative justice interventions and accountability processes, all of that. I think, you know, transformative justice can be applied to everything from full blown violence to also our day to day lives and how we are not only practicing transformative justice skills like accountability, for example, or skill sets, I should say. But also in working to build the conditions that even though can Also working to build the conditions that can allow transformative justice to be possible. So I would say. TJ has been the main work that I do. And oftentimes, It's work that requires, I think Where the personal and more like Political needs. It's human work at the same time that it's absolutely kind of rigorous Political work as well. And I think transformative justice really pushes us and challenges us to not only not only be able to, you know, talk a good game, for example, but also be able to practice the kind of liberation that we are seeking.
Meike: I read as well that mediation can be included in the process. Is that the case in your work and how does it look like?
Mia: Yes, absolutely. Absolutely. Mediation can be part of the process and sometimes sometimes mediation is the process like some, you know, I think I don't know how it is in Germany, but sometimes people are wanting to hold TJ interventions around things like full blown community accountability processes around things that don't need that around things that really a good mediation, you know, a good mediator can help them work through. So absolutely. And then and then vice versa. Right. And then as well, sometimes you have a full blown process, an intervention that's happening, and then mediation is useful inside of that in different ways.
Meike: Yeah, you mentioned already the spaces for trans and queer folks of color. Is that maybe a concept of a safe space in your context?
Mia: Absolutely. Like I say, I mean, you know, I think in a lot of our movements, we talk about how there's safe space doesn't exist. That's completely safe. So we talk about safer spaces or brave spaces or generative spaces. But absolutely, that would be part of it, too. Like, I mean, imagine if your city, wherever you live, you know, whoever is listening to this, like, imagine your city had like multiple just community, you know, I don't know what we would call them community care spaces where you just people can drop in and be, you know, where it's, it's not privately owned. And, you know, I don't. I don't know how it is in Germany, but in the U.S., public space is really rare. It's hard to find. And so, you know, libraries, for example, function as really one of the last public spaces where people can go and, you know, get shelter from the elements. They can access a computer. They can, you know, look, read, sit and read books. They don't have to take them out. They can get, all different types of ways. All different things that libraries function as. And so, absolutely, right? Like, maybe there's multiple community care spaces that exist around the city or around the town where you live. And anybody can just drop in there and be safe, you know, like, and not have to worry about somebody policing them or they can maybe get access to and be directed to a service or a care that they need that they're facing. Or they can just Chill. And just talk and have conversations. Maybe there's a room in the community care space. Maybe there's, like, four or five rooms that are just dedicated for people working out conflict. And so, at any given time, whenever those rooms are free, you and your friend, maybe you're in a fight or whatever, you just go into and you're not able to find a space inside of your shared housing living situation. You can, like, go to one of these rooms and then sit for however long you need to work out whatever conflict that you're having. Maybe there's a large room where people can sit and practice circle practice if they need to, where, like, you know, groups of people can work out their conflict. Absolutely. Again, another long answer to your question, but yes.
Meike: You're a prison abolitionist. And you think that T.J. is an alternative to prison, to police and punishment and social revenge, right?
Mia: Yeah.
Meike: As you said, make amends. And you mentioned earlier, an example could be... Pay for someone's therapy, which I know from the restorative justice concept. Is this part of transformative justice? Or is there, like, a way from restorative to transformative justice? Or are there, like, connections between these two concepts?
Mia: There's definitely connections. I did an interview with, I think, Kat Brooks from APTP. And , anti-police and terror projects. I gave, like, a 20-minute... I gave, like, a 20-minute answer to that. But the short answer to your question is, yes, I think restorative justice and transformative justice are connected. They are two different frameworks. They're both, though, underneath the large umbrella of community responses to violence. But I think it's important to understand how they're different. I also think that they are useful. They can be useful in different ways that complement each other. So, for example, a lot of restorative justice, at least in the U.S., it has started to be integrated in some places. So, like, integrated into schools, for example. Or sometimes even integrated into state responses, right? Like, in some places. Like, a state, for example, might have an option where if you, you know, if you experience some type of violence, that maybe there's an option to say, like, oh, you can also go the restorative justice way if you want to. And that is very different than transformative justice, which largely usually operates outside of state systems. So, it would not necessarily operate inside of, like, you know... the public school system or inside of a state, response to violence. Having said that, though, I think, I really think we need both because there are places where TJ can't reach because it's inside the state that RJ can, restorative justice can reach. And then vice versa, right? There's a lot of people who need a response to violence that, and they can't do anything that's connected to the state. And so, so yes. And then I, the last thing I'll say is that a lot of, you know, there are many TJ practitioners that I know who use restorative justice circle practice, for example, in their, in their work, in an intervention, for example. Yeah. So, I hope that answers your question.

Kommentare
29.07.2024 / 16:19 Helgard, Wüste Welle, Tübingen
wird Do, 1.8.24 bei fem*rasant laufen
vielen lieben Dank!