Transformative Gerechtigkeit heißt gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme

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Mia Mingus ist Autorin, Organisatorin und Pädagogin und lebt in Georgia in den USA. In meinem Gespräch mit ihr wurde klar, daß sie schon unzählige Fälle brutaler Gewalt mit Intervention und Mediation – den Mitteln der Transformativen Gerechtigkeit – begleitet hat. Sie arbeitet in diesem Bereich auch schon seit fast 20 Jahren. Sie arbeitet auch viel zu Hürdengerechtigkeit oder Barrierefreiheit.

Mia Mingus ist gar nicht der Meinung, daß Menschen in den Prozessen zur Passivität verdammt sind, oder zu „Opfern“ ihrer Umstände gemacht werden.

"Restorative Justice muss eine Position einnehmen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb des Strafrechtssystems liegt. Sie muss innerhalb des Systems arbeiten, um die unmittelbaren Bedürfnisse von Opfern, Straftäter:innen und Gemeinschaften zu befriedigen, aber auch mit denjenigen außerhalb dieses Systems verbunden sein, die weiterhin für eine andere Vision der Gesellschaft kämpfen, in der Herrschaft, sowohl in ihren systemischen als auch in ihren alltäglichen Formen, aufgehoben wird."

(Andrew Woolford, Professor für Soziologie und Kriminologie an der Universität von Manitoba. Amanda Nelund ist außerordentliche Professorin für Soziologie an der MacEwan University in Alberta.)

Ich möchte zunächst von ihr wissen, was Mia mit ihrer langjährigen Erfahrung dazu sagt, daß Wiederherstellende oder Restorative Justice und Transformative Gerechtigkeit Hand in Hand gehen.
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12:57 min, 30 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 14.05.2024 / 16:52

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Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: MoRa3X
Entstehung

AutorInnen: die meike Sön
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 14.05.2024
Folgender Teil steht als Podcast nicht zur Verfügung
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Skript
Mia: Ja, ich denke, dass restaurative Gerechtigkeit und transformative Gerechtigkeit miteinander verbunden sind. Es handelt sich um zwei verschiedene Rahmenkonzepte, die jedoch beide unter dem großen Dach der gemeinschaftlichen Antworten auf Gewalt stehen. Aber ich denke, es ist auch wichtig zu verstehen, wie sie sich unterscheiden. Ich glaube auch, dass sie auf unterschiedliche Weise nützlich sein können und sich gegenseitig ergänzen. Zum Beispiel hat man zumindest in den USA damit begonnen, die "Restaurative gerechtigkeit" an einigen Orten zu integrieren, zum Beispiel in Schulen. Manchmal wird sie sogar in staatliche Maßnahmen integriert, z. B. hat ein Staat die Möglichkeit, bei Gewalttaten zu sagen: Oh, du kannst auch den Weg der opferorientierten Justiz einschlagen, wenn du das möchtest. Und das ist etwas ganz anderes als transformative Gerechtigkeit, die in der Regel außerhalb staatlicher Systeme stattfindet. Sie würde also nicht unbedingt innerhalb des öffentlichen Schulsystems oder innerhalb einer staatlichen Antwort auf Gewalt funktionieren. Denn es gibt Orte, die tj innerhalb des Staates nicht erreichen kann, die aber von RJ erreicht werden können. Und umgekehrt: Es gibt viele Menschen, die eine Antwort auf Gewalt brauchen und die nichts tun können, was mit dem Staat zu tun hat. Also ja. Und als Letztes würde ich sagen, dass es viele TJ-Praktiker*innen gibt, die ich kenne, die den Restaurativen Justice Circle (Kreisverfahren) zum Beispiel bei ihrer Arbeit in einer Intervention einsetzen.
[Über die Scham]

Mia: Die Sache mit der Scham ist sehr wichtig, wenn man über Verantwortungsübernahme spricht. Sie ist ein wichtiger Bestandteil. Du wirst mit Scham zu tun haben. Scham ist etwas anderes als Schuld. Schuld bedeutet: Ich habe etwas Schlechtes getan, Scham bedeutet: Ich bin schlecht. Und ich denke, wenn wir über Verantwortungsübernahme sprechen, dann geht es um alles, von Gewalt oder Missbrauch, die jemand ausgeübt hat, bis hin zu Fehlern und der Verantwortlichkeit für diese Fehler, die wir machen. Es ist sehr schwierig, mit Scham umzugehen. Sie steckt in jedem von uns, und wir alle haben sehr ungeschickte Methoden entwickelt, um uns zu schützen. Und das Problem mit der Scham ist, dass sie sich gerne versteckt. Scham liebt die Dunkelheit, das Schweigen und die Geheimnisse. Was Scham wirklich verwandelt, ist Verletzlichkeit. Verletzlichkeit verwandelt Scham, wenn man in der Lage ist, metaphorisch gesprochen die Vorhänge in diesem dunklen und schmuddeligen Raum zu öffnen, indem man sich mitteilt und darüber spricht, wofür man sich schämt, um der Scham die Macht zu nehmen. Und die Sache mit der Scham und der Verantwortungsübernahme ist, dass man sich damit auseinandersetzen muss. Diese Scham muss auch so weit transformiert oder geheilt oder bearbeitet werden, dass man aus dieser Situation herauskommt. Aus einer wirklich schrecklichen Schamspirale herauszukommen. die eigene Handlungsfähigkeit muß ein Teil der Verantwortungssübernahme sein.. wenn du in dieser Schamspirale steckst, dann denkst du vielleicht: Ich bin keine wertvolle Person, ich weiß nicht, warum die Leute mich überhaupt lieben, verdammt, ich verdiene es nicht einmal, in einer Gemeinschaft zu sein, oder was auch immer es sein mag. Und es gibt nicht viele Möglichkeiten, die in einer solchen Situation passieren können. Man sollte in der Lage sein, diese Verantwortung wirklich selbst zu übernehmen, indem man sich proaktiv dafür entscheidet, verantwortlich zu sein. Und es ist sehr schwierig, das zu tun, wenn man sich an einem so dunklen Ort befindet und das Gefühl hat, dass es keinen Grund gibt, überhaupt zu existieren, oder dass man zum Beispiel ein schreckliches Monster ist und niemals in der Lage sein wird, sich zu heilen oder zu verwandeln, warum also überhaupt versuchen? Warum überhaupt versuchen, Verantwortung zu übernehmen?weil wir so sehr von Bestrafung durchdrungen sind, denken viele Leute, wir sagen dir einfach, was du tun musst, um verantwortung zu übernehmen, und du tust es einfach. Aber wir wollen einen Ort erreichen, an dem du einen moralischen Kompass aufbauen kannst, um deine eigenen Entscheidungen treffen zu können, so dass du nicht ständig jemanden haben mußt, der dir sagt, was du tun sollst. Der dir sagt, was du tun kannst und was nicht. Denn das ist nur eine weitere Form der Überwachung und Bestrafung. Und auch ganz pragmatisch gesprochen, hat niemand Zeit für so etwas! Ich habe keine Zeit, mich hinzusetzen und jede übergriffige Person, mit der ich gearbeitet habe, im Auge zu behalten und ihr zu sagen, was sie zu tun hat: du kannst diesen Raum hier nutzen oder nicht, so etwas.
Weißt du, es kann vielleicht zu viel sein, über die Dinge zu sprechen, für die du dich in deinem Leben am meisten schämst. Vielleicht fangen wir klein an und bauen darauf auf. Aber weißt du: das ist ein Teil dessen ist, was hilft: Erstens ist es transformativ und zweitens schafft es die Voraussetzungen für weitere und größere Veränderungen. So sind wir mehr miteinander verbunden, anstatt uns zu isolieren. Ich stelle mir das so vor, als würden wir unsere Muskeln aufbauen. Du gehst ja auch nicht ins Fitnessstudio und fängst sofort beim Bankdrücken mit 500 Pfund an. Du fängst klein an und baust dich auf, denn wenn man mit 500 Pfund anfängt, kann man sich wirklich verletzen. Ich wollte also nur über Scham sprechen, sowohl in Bezug auf die Verantwortlichkeit als auch allgemein in Bezug auf die Transformation.

Meike: Ich weiß, das ist eine weitreichende Frage, aber kannst Du vielleicht den Prozeß von Community Accountability - also gemeinschaftlicher Verantwortung - beschreiben und wie Du dabei Intersektionalität mitdenkst. Wie können wir kollektiv handeln und all die verschiedenen Bedürfnisse, Hierarchien und Privilegien einbeziehen? Wie könenn wir intersektional denken? Eine riesige Frage, ich weiß.

Mia: Das ist eine sehr große Frage. Der Prozess der kollektiven Verantwortung besteht aus mehreren Dingen: Zum einen gibt es natürlich verschiedenartige Stränge, die zur kollektiven Verantwortungsübernahme der Gemeinschaft führen, und zum anderen ist jede Gemeinschaft anders, es hängt auch davon ab, welche Art von Gewalt oder Schaden entstanden ist, wie schwer er war. Es hängt von den Bedingungen ab.
Es gibt die Person, die den Schaden verursacht hat, oder die Person, die geschädigt wurde, oder den/die Überlebende*n - haben die beiden eine Beziehung zueinander? haben sie Pods? Es gibt so viele Dinge, die in den Prozeß der gemeinschaftlichen Verantwortungsübernahme einfließen. sie alle haben gemeinsam, dass sie versuchen, den Schaden oder Gewalt, der in der Gemeinschaft passiert, anzugehen und hoffentlich in etwas Gutes umzuwandeln. In etwas das konstruktiv und nicht destruktiv ist. Nehmen wir an, es kommt zu einem sexuellen Übergriff unter Erwachsenen. Es könnte zum Beispiel sein, dass der oder die Überlebende den Prozess einleitet und dass der/die Überlebende sagt: Ich möchte einen transformativen Gerechtigkeitsprozess haben; ich möchte, dass es einen gemeinschaftlichen Verantwortungsprozess gibt. Es könnte auch sein, dass ein*e Unbeteiligte*r den Prozess anstößt oder dass die Gemeinschaft ihn anstößt und sagt: Wir wollen uns damit befassen, wir wollen begreifen, was passiert ist. // DM650964 Und es kann auch sein, dass die übergriffige Person die Initiative ergreift. Ich habe an Prozessen teilgenommen, in denen die übergriffige Person sich meldet und sagt: Ich möchte Verantwortung übernehmen für das, was ich getan habe. wenn der/die Überlebende und die übergriffige Person daran beteiligt sind, was nicht immer der Fall ist, dann sagen die Überlebenden oft: Ich will nicht Teil des Prozesses sein. Vor allem, wenn die Gewalt oder der Schaden schon eine Weile her ist. Dann sagen die Überlebenden oft: Ich habe meine Heilungsarbeit schon geleistet, ich will nicht mehr dabei sein, also macht mal bitte ohne mich weiter. Manchmal sagen die Überlebenden: Ich möchte, dass diese Person zur Rechenschaft gezogen wird, aber ich möchte nicht daran beteiligt sein. Oder manchmal ist die übergriffige Person nicht in der Lage, daran teilzunehmen, weil sie sich weigert oder aus welchen Gründen auch immer, es gibt viele Gründe. Es kann also auf viele verschiedene Arten ein Prozess eingeleitet werden, aber in der Regel ist es so, dass... Wenn also beide dabei sind, haben wir normalerweise Unterstützungsteams, die sich um jeden von ihnen herum bilden. Es gibt also ein Unterstützungsteam oder einen Unterstützungskreis für die Überlebenden und einen Unterstützungskreis oder ein Team für die übergriffige Person. Und diese Leute, die Unterstützer*innen auf beiden Seiten, sind im Idealfall Leute, die diese Leute kennen, d.h. Leute, die der/die Belästiger*in oder der/die Überlebende kennt. Und zu denen sie Beziehungen haben und denen sie vertrauen. Und dass diese Menschen sich verpflichtet haben, ihnen bei der Bewältigung des Schadens in ihrem Leben oder den Folgen dessen zu helfen. Und dann arbeiten wir in diesen Kreisen in der Regel mit den Überlebenden an ihrer Heilung. Wir finden eine individuelle Art der Heilung, die sie brauchen könnten. Manchmal geschieht das innerhalb des Rahmens des Prozesses der Verantwortungsübernahme, manchmal aber auch außerhalb. Wir können z.B. helfen eine*n Therapeut*in zu finden oder aber wir werden selbst zu Heilpraktiker*innen. Und auf der Seite der übergriffigen Person ist es die Arbeit der Verantwortungsübernahme, dabei wollen wir sie unterstützen. Wie ich schon sagte, stellt die Seite der Überlebenden oft Forderungen und sagt z.B.: ich möchte, dass du diese Dinge tust oder sein läßt. Das kann so aussehen, dass der betroffenen Person ein Brief geschrieben wird, in dem die übergriffige Person Verantwortung übernimmt. Das kann so aussehen, dass die übergriffige Person einen öffentlichen Brief schreibt; das kann so aussehen, dass die übergriffige Person einen Brief schreibt und ihn laut vorliest. Vor den Menschen, die der Gewalt am nächsten stehen, wie Freund*innen, Familie und wem auch immer. Das kann so aussehen, daß die betroffene Person der übergriffigen sagt: "Ich möchte, dass du die nächsten zwei Jahre meiner Therapie bezahlst, die ich wegen des sexuellen Übergriffs machen muss" - ich gebe dir nur Beispiele. Aber das Wichtigste ist, dass wir oft daran arbeiten, diese Forderungen zu erfüllen, und dann gibt es eine Art Abschluss... einige dieser Prozesse können Jahre dauern, das hängt von der Art der Gewalt ab, die passiert ist. Es hängt von der Beziehung zwischen dem/der Überlebenden und der übergriffigen Person ab, es hängt von vielen, vielen verschiedenen Faktoren ab. Aber irgendwann, und das ist eine weitere Gemeinsamkeit, die sie hoffentlich alle haben, gibt es eine Art Abschluss des Prozesses, der anzeigt, dass der Prozess beendet ist. Und ich sollte sagen, dass wir in diesen Prozessen in der Regel an einem bestimmten Vorfall arbeiten, der sich ereignet hat. Wir konzentrieren uns nicht auf jeden einzelnen Schaden, den die übergriffige Person in seinem ganzen Leben angerichtet hat. Denn dann würden wir uns für immer in einem Prozess befinden.
Und - Ja, absolut! In diesem Prozess versuchen wir, alle unterschiedlichen Bedürfnisse, Hierarchien und Privilegien einzubeziehen. Weißt du, all diese Prozesse sind laufende Arbeiten und wie Alchemie das Ergebnis dieser Arbeit. Es gibt nicht viele Dinge, die in Stein gemeißelt sind.
Wir müssen die Intersektionalität in diesen Prozessen verstehen, wir müssen all die verschiedenen Ebenen und Schichten von Macht und Privilegien bei der Verarbeitung von Traumata verstehen. Sowohl individuelle Traumata als auch kollektive Traumata als auch Generationentraumata.
Das ist wirklich ein holistisches Verständnis, ein gesamtheitliches Bild, wer diese Menschen sind, was die Gemeinschaft ist, in der das passiert ist. oder ist es zum Beispiel in einer Familie oder einer Organisation oder einer religiösen Gruppe oder einer Gemeinde passiert - all das muss berücksichtigt werden. Wenn wir über kollektive Verantwortungsübernahme sprechen, wenn wir über transformative Gerechtigkeitsprozesse sprechen werden diese idealerweise von Menschen durchgeführt, die sich gegenseitig kennen. Im Idealfall wären diese Fähigkeiten sehr verbreitet. Und sie wären überall vorhanden.