"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Nationalismus im Maghreb

ID 121612
  Extern gespeichert!
AnhörenDownload
Wenn es eines Belegs dafür bedurft hätte, dass die Südküste des Mittelmeers beziehungsweise der nördliche Teil Afrikas, namentlich der Maghreb den natürlichen Wachstumsraum für die Europä­ische Union darstellt, so darf er als erbracht gelten, seit der tunesische Präsident Kaïs Saïed sich anfangs Jahr darauf kapriziert hat, gegen Ausländer:innen zu hetzen.
Audio
11:17 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 19.04.2023 / 21:44

Dateizugriffe: 77

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 19.04.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wenn es eines Belegs dafür bedurft hätte, dass die Südküste des Mittelmeers beziehungsweise der nördliche Teil Afrikas, namentlich der Maghreb den natürlichen Wachstumsraum für die Europä­ische Union darstellt, so darf er als erbracht gelten, seit der tunesische Präsident Kaïs Saïed sich anfangs Jahr darauf kapriziert hat, gegen Ausländer:innen zu hetzen.
Mir fehlt zwar noch der volle Ausbau bis hin zum Geschrei von wegen Umvolkung und so weiter, aber die identitäre Welle ist seither durch ganz Nordwestafrika gebraust, der Nationalismus hat sich auch dort zum vollwertigen Instrument der Innenpolitik gemausert. Nordafrika ist EU-tauglich! Gratulation.
Die Argumente sind überall gleich: Nachdem die türkischen Billigprodukte den Binnenmarkt für die kleinen und mittleren Unternehmen kaputt gemacht haben, breiten sich die Migrant:innen aus, welche auf dem Weg nach Europa Station machen an den Mittelmeerküsten und einerseits als Billigarbeitskräfte die lokalen ungebildeten Arbeiter:innenmassen konkurrieren, anderseits und vor allem aber die sozialen Sicherungssysteme belasten. Ganz aus der Luft gegriffen ist das nicht; allerdings ist die Dynamik doch insofern speziell, als die Maghrebstaaten selber große Exporteure von Arbeitsmigranten nach Europa sind, und zwar nicht erst seit der Erfindung der Mobiltelefonie, sondern als ehemalige Kolonien schon so lange, dass sich breite, tragfähige Strukturen für die Aufnahme dieser Wanderarbeiter:innen gebildet haben, was ihnen gewisse Vorteile verschafft gegenüber den Migrant:innen von jenseits der Wüste. Nicht zuletzt haben ihre Regierungen auch enge und bei allen Problemen doch erprobte Kontakte mit dem Norden, was schon mal für eine gewisse Struktur sorgt, im Gegensatz eben zu den Pilger:innen aus Schwarzafrika. Trotzdem bleibt das allgemeine Streben der Menschen im armen Süden in den reichen Norden das zugrunde liegende Phänomen, das eben immer mal wieder für spezielle Ausschläge sorgt.

Immerhin hat der maghrebinische Nationalismus eine Komponente, die ihn abhebt von anderen Bewegungen wie früher dem Panarabismus, der vor sechzig Jahren allerdings auch recht schnell zu einer nationalen Ausprägung fand, oder aktuell den islamistischen Bewegungen. Marokko, Tune­sien und Algerien zeigen sich als moderne Staaten, obwohl sie dies oft in den Hintergrund stellen, um dem fanatischen Wahabitismus keine Angriffsflächen zu bieten. Wenn dies auch immer wieder zulasten der Schwächsten geht, eben der Migrant:innen, so bestehen hier doch echte Aussichten auf Fortschritt, auf Entwicklungen, welche in der Wirtschaft und im Bildungssektor ein solides Fundament haben und die man, wie ich nicht müde werde zu wiederholen, mit einer möglichst raschen Integration in den europäischen Wirtschaftsraum erst recht zur Blüte bringen könnte. Und abgesehen von all dem ist auch der saudiarabische Wahabitismus nicht mehr, was er einmal war, wie ebenfalls schon mehrfach erwähnt, ich glaube, Frauen dürfen dort unterdessen nicht nur autofahren, sondern auch selbständig eine Cola bestellen oder was auch immer, ganz abgesehen davon, dass in die starren Fronten zwischen dem Iran und den Saudis offenbar ebenfalls Luft und Bewegung gekommen ist, und wenn die Saudis in sieben Jahren tatsächlich die Fußball-WM ausrichten dürfen, dann werden sie ihre Anstrengungen zur Säkularisierung verdoppeln und am Schluss auch noch jene Bereiche des westlichen Gedankengutes aufgreifen, wo es um Dekar­boni­sie­rung geht – die Mittel dazu hätten sie auf jeden Fall, und Erfahrung im Zudrehen des Erdölhahns besitzen sie ebenfalls.

Nicht gerade zugedreht, aber doch aufgeschoben hat die Europäische Kommission die Auszahlung an Italien der dritten Tranche des Aufbau- und Resilienzplans, der wie in anderen EU-Ländern einen gewaltigen Investitionsschub auslösen soll. Von den bisher erhaltenen Mitteln hat das Land erst 13% für konkrete Projekte ausgegeben, was ungefähr der Hälfte der vorliegenden Investitionen entspricht. Nun wurden etwas weniger als 20 Milliarden blockiert, vor allem wegen Unklarheiten rund um drei Großprojekte, nämlich die Konzessionen für den Betrieb der Flughäfen, verschiedene Fernwärme-Projekte sowie zwei Stadionprojekte in Florenz und Venedig. Die Regierung muss sich beeilen, um für die nächsten Raten die erforderlichen Meilensteine und strategischen Ziele einzuhalten; im Juni sollte es soweit sein, dass nochmals 16 Milliarden fließen. Den größten Zufluss an EU-Geldern erwartet man dann in den Jahren 2024 und 2025 mit insgesamt 45 Milliarden. Man hat sich schon vor einem halben Jahr gefragt, wie Italien seine NARP-Projekte zur Ausführungsreife bringen würde, nachdem der international anerkannte Regierungschef Mario Draghi gestürzt worden war; die Spannung steigt weiter von Monat zu Monat. Kritische Stimmen sehen den Verwaltungsapparat überfordert, übrigens ganz unabhängig davon, ob die Regierungschefin Draghi oder Meloni heißt. Von den insgesamt 209 geplanten Projekten im Rahmen dieses Planes seien allerhöchstens 100 innerhalb der vorgesehenen Fristen realisierbar, heißt es.

Immerhin hat sich Italien in den letzten zwölf Monaten eine privilegierte Stellung für den Import von algerischem Erdgas gesichert. Geplant ist der Ausbau als Verteilzentrum für ganz Europa, wobei dies vielleicht etwas hoch gegriffen ist angesichts der Pläne von Frankreich und Spanien im Energiehandel mit Nordafrika. Immerhin bleiben wegen der Spannungen zwischen Algerien und Marokko die Durchgangsleitungen nach Spanien geschlossen, was die italienischen Pläne befördern könnte. Wenn ihr aber die Versorgung mittelfristig richtig sichern wollt, dann holt doch endlich diese Staaten heim ins Reich! Dann können die besonders kriegslustigen Bevölkerungsteile ihre Sommerferien an der künftigen EU-Südgrenze damit verbringen, die Einreisegesuche all der Menschen aus Burkina Faso, Mali, dem Tschad, Niger, Mauretanien, aus der Westsahara und dem Sudan zu kontrollieren und abzustempeln. Ich sage nur: Domasaka! Das liegt zwar an der Grenze zu Libyen, aber Libyen wäre dann ja auch ein Beitrittskandidat, nicht zuletzt wegen der Aussichten auf eine absehbare Beilegung der Konflikte im Hinblick auf die in Aussicht stehenden Möglichkeiten der Prosperität im Rahmen des Welthandels und der freien Marktwirtschaft. Was wir im nächsten Schritt mit den Ägypterinnen anstellen, ist mir noch nicht ganz klar; vielleicht müsste man dort mal eine Volksabstimmung durchführen, welche anschließend von der Armee gekippt würde. Aber bis dahin dauert es noch ein paar Monate.

Davon mal abgesehen: Was höre ich da, der Södermarkus will seine Atomkraftwerke weiter laufen lassen trotz Abstellentscheid der Bundesregierung, die Kompetenz dazu soll auf die Länder übergehen und anschließend wohl auf die Kommunen und auf die Privatpersonen, sodass jede und jeder seinen eigenen kleinen Atommeiler in der Hosentasche mit sich herum tragen kann, Problem gelöst für die nächste eine Million Jahre. Der wird mehr und mehr zum interessanten Fall, der bayrische Ministerpräsident, der lässt tatsächlich schon jeden erdenklichen Scheißdreck raus, wenn er nur annimmt, dass seine Wählerschaft in ebendiesem Scheißdreck herum watet und wühlt. Er erinnert immer stärker an den serbischen Präsidenten Vucic, und sobald sich der Söder seine Lippen zu ähnlichen Lügenlippen aufspritzen lässt wie beim Vucic, kann dann auch der Rest der Welt erkennen, dass hier nicht nur eine Seelen-, sondern eine echte Lippen-Verwandtschaft vorliegt. Umgekehrt muss man tatsächlich davon ausgehen, dass der Söder sein Zeuchs absondert oder absödert, weil er annehmen kann, dass solches Gesödere im Freistaat Bayern zur eigenen politischen Währung wird, dass also dort ein entsprechendes geistiges Klima herrscht, was ich übrigens insofern bestätigen kann, als ich diesen bayrischen Klimawandel schon seit längerer Zeit im bayrischen Kabarett beobachte, zuerst bei Monika Gruber und dann beim Helmut Schleich, dem seine Paraderolle, nämlich die Imitation von Franz Josef Strauß, den eigenen und eigenständigen Charakter infiziert hat; man darf übrigens auch bei Söders dicker Lippe hohe Anteile an Franz Josef Strauß entdecken, was offenbar auch im Jahr 2023 noch oder wieder für hohe Publikumsgunst und Wahlerfolge steht. Immerhin ist damit der Ruf Bayerns als Bildungsrepublik definitiv im Eimer. Wenn solche Arschgeigen mit derartigem Blödsinn politischen Erfolg haben in diesem Bundesland, dann kann es um die geistige Wohlfahrt der demokratischen Substanz nicht gut bestellt sein.

Und überhaupt: Wie steht es denn sonst so um die geistige Gesundheit in eurem Land? Ich nehme mal an, höchst durchschnittlich, also normal. Das finde ich beruhigend. Ich würde diese Diagnose auch auf unsere abgeschottete und eingeigelte Alpenrepublik anwenden. Mehr kann man nicht verlangen. Was dagegen die Institutionen in Deutschland angeht, so besteht nach wie vor ein erheblicher Reform­bedarf, wenn ich den Kritikerinnen und Kritikern glauben darf, die mir vor allem aus Berlin immer wieder unglaubliche Dinge melden, zum Beispiel die Unmöglichkeit, bei irgendeinem Amt innert nützlicher Frist einen Termin zu erhalten. Das halte ich für ausgesprochen irrational, nicht zuletzt deswegen, weil es der der Informatisierung innewohnenden Tendenz in jeder Hinsicht widerspricht. Die entsprechenden Computerprogramme existieren doch alle, zum Teil seit Jahrzehnten, sie sind erprobt, aktualisiert und so weiter; warum setzt man die nicht einfach ein? Vielleicht muss man zuerst mal tausend Leute auf die Straße stellen, welche sich gegen die Einführung funktionierender Abläufe wehren, vielleicht, weil damit ihre Stelle bedroht wäre? Aber dysfunktionale Abläufe sind keine guten Gründe für Arbeitsbeschaffung. Den Betroffenen müsste man nochmals dieses alte Märchen erzählen von all den düsteren, schiefen Prognosen über Verarmung und Massenarbeitslosigkeit, die im Zuge der Globalisierung, Konzentration, Automation, Digitalisierung und so weiter und so fort seit 50 Jahren im Umlauf sind in immer neuen Auflagen. Die neueste Version hängt mit der Künstlichen Intelligenz zusammen, welche unter anderem den Schülerinnen das Lösen der Hausaufgaben abnimmt und diese damit in die intellektuelle Verarmung stützt. Pah, kann ich da nur sagen. Letzte Woche habe ich auf der Titelseite jener Zeitung, die ich abonniert habe, einen Artikel gelesen, wonach das frei verfügbare Einkommen der Menschen in den letzten 40 Jahren abgenommen habe. Hä?, dachte ich mir, wieviel hat man denn so erhalten in den 1980-er Jahren, was konnten sich die Menschen leisten, zum Beispiel in Sachen Urlaub und so? Illustriert wurde der Text von einer Einkommens-Grafik, laut welcher der Durchschnittslohn vor vierzig Jahren 4500 Franken pro Monat betrug und heute 4800 Franken. Das ist schlicht und einfach ausgemachter Blödsinn, noch wenn die Zahl inflations­bereinigt wäre, wovon aber nirgends die Rede war. Mit anderen Worten: Ich würde mir eine künstliche Intelligenz loben, die nämlich keinen solchen Blödsinn in die Welt setzt; ich würde mir wünschen, diese künstliche Intelligenz würde nicht nur die Journalistin ersetzen, welche den Artikel mit irgendeinem Sendungsbewusstsein zusammengekratzt und verfasst hat, sondern auch die zuständige Redakteurin, welche den Quatsch unkorrigiert ins Blatt gerückt hat. Mit anderen Worten: Ihr braucht keine Angst zu haben vor der künstlichen Intelligenz. Schlimmer als beim Tages-Anzeiger und bei Markus Söder kann es nicht kommen. Die künstliche Intelligenz hat schmale Lippen.