"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Kartoffelmilch

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Die Schönheitsindustrie bezeichnet eine bestimmte Art ihrer Pflegeprodukte als Milch, konkret als Körpermilch. Ich gehe davon aus, dass damit in einen Begriff gefasst wird, dass es sich bei diesem Kosmetikum nicht direktemang um Fett und schon gar nicht um Eigenkörperfett oder gar Schwei­ne­schmalz handelt, den das Subjekt da auf sein Äußeres appliziert, sondern eben um eine Emulsion oder um eine Body Lotion. Body Lotion ist natürlich das meistverwendete Wort für diese Kategorie und quillt ganz automatisch aus dem individuellen und kollektiven Wortspeicher heraus wie aus einer Crèmetube.
Audio
11:42 min, 27 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 28.03.2023 / 13:38

Dateizugriffe: 103

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, SeniorInnen, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 28.03.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die Schönheitsindustrie bezeichnet eine bestimmte Art ihrer Pflegeprodukte als Milch, konkret als Körpermilch. Ich gehe davon aus, dass damit in einen Begriff gefasst wird, dass es sich bei diesem Kosmetikum nicht direktemang um Fett und schon gar nicht um Eigenkörperfett oder gar Schwei­ne­schmalz handelt, den das Subjekt da auf sein Äußeres appliziert, sondern eben um eine Emulsion oder um eine Body Lotion. Body Lotion ist natürlich das meistverwendete Wort für diese Kategorie und quillt ganz automatisch aus dem individuellen und kollektiven Wortspeicher heraus wie aus einer Crèmetube.
Die Körpermilch ist im Vergleich zur Body Lotion ins Hintertreffen geraten, während die Milch selber an einer anderen Front oder sozusagen im Innendienst immer neue Facet­ten zeigt. Die neueste ethnographische Erkenntnis besteht offenbar darin, dass nicht nur den Chine­se­re­rinnen ein paar Enzyme zur Verarbeitung von Laktose fehlen, sondern den Europäer:innen ebenso, min­destens soweit sie sich im deutschsprachigen Raum aufhalten, vielleicht auch noch im entwickelten Teil der Vereinigten Staaten von Amerika. Da hat sich die Bevölkerung tausend Jahre lang durch ihre Ernährung aus Milchprodukten gebissen, und jetzt wissen wir endlich, weshalb wir immer sol­che Bauchschmerzen hatten, dass wir andauernd Kriege führen und Schnaps trinken mussten, um auf andere Gedanken zu kommen. Mit dem Ende des Kuhmilch-Terrors steht nun das König­reich des Friedens vor der Tür. Irgendein Botschafter muss diese Nachricht bei Gelegenheit noch nach Moskau tragen. Wir dagegen suhlen uns im Paradies der laktosefreien Produkte, also mindestens das, was den Mahl- oder Mainstream bildet; ich selber zähle nicht dazu, muss ich zugeben. Ich habe die Laktoseintoleranz sogar im Verdacht, dass sie eher ein Druckmittel einer fünften Kolonne des Veganismus darstellt, und die Auseinandersetzung mit dem Veganismus fürchte ich persönlich genauso wie die Auseinandersetzung mit Verschwörungstheoretiker:innen. – Da kommt mir übrigens gerade in den Sinn, dass ich letzte Woche einen sehr intelligenten Artikel zu Donald Trump gelesen habe, auch wenn das als Widerspruch in sich erscheinen mag, denn zu diesem missratenen Sylvester-Böller gibt es nichts zu sagen und schon gar nichts Intelligentes, aber die Intelligenz dieses Artikels bestand darin, die Parallelen zwischen Trumps Darbietungen und dem Wrestling-Sport aufzuzeichnen. Catch as Catch Can, was ich übrigens zu Beginn für eine Abart des Cancan-Tanzes gehalten habe, den seit 100 Jahren sowieso niemand mehr tanzt. Wrestling also. Ich glaube nicht, dass da etwas dran ist, sondern ich bin überzeugt, dass dies die volle Wahrheit ist. Wenn jemand dem Phänomen Trump beziehungsweise seinem unglaublichen Erfolg bei den US-amerikanischen Ureinwohnern, den Second Nations auf den Grund gehen will, dann muss er sich mit der markt­schreie­ri­schen, übertrieben showhaften Gestik des Wrestling auseinandersetzen, das wie Trump von überheroisch supermännisch großsprecherischen Ankün­di­gun­gen und über­mensch­lichen Gebärden und durchaus popartigem, voll infantilem Geschrei lebt ebenso wie von einer Substanz, die gleich null ist, aber bei allem genau getaktet und im hohen Maße trainiert sein will. Mehr verstehe ich nicht, aber ich finde es schon außerordentlich befrie­digend, dass ich für dieses quietschende Kinder­spielzeug der Geschichte endlich die angemessene Bezeichnung und Klassierung entdeckt habe.

Zurück zur Laktoseintoleranz, zu der ich der Ordnung halber noch anfügen möchte, dass die ein­tau­send­undein Krankheitsbilder, welche sie auslöst, in absehbarer Zeit und mit dem zwangsläufigen Wechsel der Modekrankheiten einem anderen Departement des unerforschlichen menschlichen Körpers zugeschrieben werden, mit Ausnahme natürlich der Fälle von echter Laktoseintoleranz, welche ich aber im durchschnittlichen europäischen Saumagen für echt begrenzt halte. Sei's drum! Jedenfalls hat sich nicht nur die europäische Menschheit, sondern auch die europäische Nahrungs­mit­telindustrie mit Begeisterung auf diese Publikumserkrankung gestürzt und bietet mit Einsatz und Engagement soviel Hafermilch an, dass ich mich frage, wo denn dieser ganze Hafer nun wieder herkommt. Ich warte gespannt auf einen Artikel im Le Monde Diplomatique und den dazu­ge­hö­ri­gen Beitrag auf dem Fernsehsender Arte, welche nachweisen, dass die europäische Hafermilch direkt der Proteinzufuhr der Ärmsten der Armen in allen Hafer produzierenden Ländern vom Mund abgeknappt wird. Dessen ungeachtet trinkt die kultivierte Welt jetzt also Hafermilch in rohen Mengen und in Barista-Qualität ebenso wie als Schmiermittel für das Müsli. Neben Hafer­milch habe ich auch Sojamilch beobachtet, von Mandel- und Reismilch ganz zu schweigen; vermutlich treten recht viele Milchersatzprodukte unter einem entsprechenden Milchnamen auf, aber als ich jetzt gehört habe, dass die Wissenschaft beziehungsweise die Industrie an einer Kartoffelmilch forscht, da musste ich meine Synapsen kurzfristig ins Koma versetzen, um sie am Durchdrehen zu hindern. Geschätzte Freundinnen und Freunde, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Kartoffelmilch! Das geht nicht! Irgendwo ist Schluss mit Forschung und Entwicklung. Kartoffeln gehören zu Fritten und Pellkartoffeln und Kartoffelpuffer und so weiter verarbeitet, gegart im Wasser, im Backofen oder im Feuer oder in der Fritteuse, mir egal, allenfalls noch zu Kartoffelschnaps vergärt, aber man soll keine Milch daraus keltern! Ich möchte geradeaus zu einer Großdemonstration vor dem Sitz des europäischen Bauernkommissariats in Brüssel aufrufen, ich kann mich allerdings nicht entscheiden, ob vor dem Ausschuss für die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte, jenem für Qualitäts­po­li­tik für Agrarerzeugnisse oder doch jenem für ökologische/biologische Produktion, vielleicht aber auch vor dem Ausschuss für die Agrarfonds oder dem für Direktzahlungen, jenem für das Infor­ma­tions­netz landwirtschaftlicher Buchführungen, dem anderen für die Entwicklung des ländlichen Raums oder doch jenem für Agrarstrukturen und die Entwicklung des ländlichen Raums, ver­mut­lich dagegen nicht vor dem Durchführungsausschuss für aromatisierte weinhaltige Getränke und auch nicht vor dem Ausschuss für Spirituosen und vermutlich auch nicht vor jenem zur Erhaltung, Charakterisierung, Sammlung und Nutzung genetischer Ressourcen in der Land­wirt­schaft. Gut, man kann annehmen, dass die allesamt sowieso an der Rue de la Loi 130/Wetstraat 130 in Brüssel angesiedelt sind, sodass die Demonstration problemlos dort stattfinden kann. Und ich würde mir wün­schen, dass sie ähnlich gut besucht wird wie die Protestveranstaltungen gegen die tolldreisten Gesetze zum Schutz des Premierministers himself, seiner Entourage sowieso und dann zur Ent­mach­tung der Justiz in Tel Aviv, die ich im Übrigen nicht so richtig verstehe, also ich spreche jetzt von den Demonstrationen, während die Angriffe auf die Justiz und die Eingriffe in den Gesetzes­apparat von Polen und Ungarn her gut bekannt sind, aber die Demonstrationen dagegen: Die haben den ja eben erst gewählt, den Netanjahu, und zwar nicht zum ersten Mal, die wussten genau, was sie da für eine korrupte Zuhälterfigur an die Spitze der Regierung setzen. Erst wählen, den Trottel, und danach dagegen protestieren, wenn er das tut, wofür er gewählt worden ist, was soll denn das! Da ist ein Protest gegen Kartoffelmilch doch von ganz anderer Qualität. Hier interveniert man zur rechten Zeit, bevor irgendeine Wahl getroffen ist. Also, auf nach Brüssel!

Der Montag war ein Großkampftag von Ver.di und EVG. Schön, dass sich die Eisenbahner:innen entschlossen haben, diesmal nicht während unseren Deutschland-Ferien zu streiken. Aber darum geht es ja nicht, sondern um die Forderungen der beiden Gewerkschaften: Sie kämpfen für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und in dem Zusammenhang für die Einstellung von mehr Personal, das man vor allem dann auch findet, wenn die Stellen attraktiv sind. «Die Arbeitgeber haben in der zweiten Verhandlungsrunde für die Beschäftigten von Bund und Kommune ein erstes Angebot vorgelegt, doch eine Einigung ist damit in weite Ferne gerückt: kein Mindestbetrag, Laufzeit 27 Monate, insgesamt zu wenig Volumen. Das bedeutet: weitere Streiks!», hieß es auf der Ver.di-Webseite. Aus neutraler Sicht rufen wir dazu: Viel Erfolg! Die Zeiten sind für solche Kampfmaßnahmen wohl günstiger als auch schon, nachdem sich die Stimmung im ganzen Land und darüber hinaus zugunsten der Arbeitnehmenden gedreht hat. Im Grunde genommen bin ich ja selber überrascht von dieser Auferstehung der Gewerkschaftsbewegung, nachdem es über Jahr­zehnte hinweg so ausgesehen hatte, als würde der technologische Fortschritt, die Konzentration von Kapital und Produktionsmitteln, die Auslagerungen und so weiter und so fort zum langsamen Absterben nicht zuerst des Kapitalismus, sondern der Arbeiterklasse als solcher führen. Nichts da; auf eine Art, die ich nicht vollständig begreife, ist innerhalb von relativ kurzer Zeit, sagen wir mal seit der Corona-Pandemie ein echter Mangel an Facharbeitskräften manifest geworden. Bestanden hat der wohl schon früher, aber so richtig ins Bewusstsein gedrungen ist er erst seit ein paar Monaten. Das ist wohl das einzige Merkmal, mit dem wir diese Renaissance des Proletariats von den früheren Phasen gewerkschaft­licher Stärke differenzieren können: die berufliche Qualifikation der Beschäftigten. Damit kommt aber nur zum Ausdruck, dass das Bildungsniveau, ja überhaupt das kulturelle Niveau der gesamten Bevölkerung in den letzten vierzig Jahren trotz aller Skepsis kontinuierlich gestiegen ist. Auch Facebook, Instagram und Tiktok vermögen die Weiter­ent­wick­lung der Individuen unter den Bedingungen eines zunehmenden Wohlstandes nicht zu stoppen. Und dementsprechend sind sie auch wieder vermehrt gewillt, ihre Forderungen auch mit Kampf­maß­nah­men zu unterstreichen. Schön verblüffend. Schön und verblüffend.

Daneben blicken wir immer noch ziemlich konsterniert auf den Kollaps der Credit Suisse und auch auf die Kommentare, die dazu abgegeben werden. Besonders originell sind die Forderungen, dass das oberste Management den Schaden selber decken müsse, den es angerichtet hat. Das dürfte nicht ganz einfach sein. Von der Credit Suisse wurden zeitweise 10 Milliarden Franken pro Tag abge­zogen – wo das CS-Management solche Summen herzaubern soll, muss mir niemand erklären. Jene Stimmen, die von einem Bank Run sprechen, liegen richtig. Es hat so etwas wie eine Massenpanik eingesetzt, die man mit schnellen Maßnahmen und gewaltigen Mitteln gerade noch so bremsen konnte. Dass allerdings die Verwerfungen im Banksektor in den Vereinigten Staaten derart massive Auswirkungen auf die Credit Suisse haben konnten, liegt am Reputationsschaden, den das oberste Management in den letzten Jahren auf den internationalen Märkten angerichtet hat. Wie man so etwas zuwege bringt, ist mir schleierhaft. Dafür muss man schon sehr intensiv studiert haben. Aber wenn die Kacke dann mal am Dampfen ist, dann nützen Ursachenforschung und Schuld­zu­wei­sun­gen nichts. Im Moment sieht es so aus, als hätte sich die Lage beruhigt, mindestens was den Bankenplatz Zürich angeht; wie sich dieser Sektor in den nächsten fünf, zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren verhält, kann man schlicht und einfach nicht wissen. Für eine Grundsatzkritik fehlt mir der Überblick und auch die Energie, einen solchen zu gewinnen. Diese Arbeit hat nur dann einen Sinn, wenn man eine gangbare Alternative aufzeigen kann, und zwar nicht für den Bankenplatz Zürich, selbstverständlich, sondern für das internationale Finanzsystem. Eine solche Alternative ist nicht in Sicht. Man kann schon einige Dinge tun, vor zwölf Jahren hat man die Eigenkapitalquoten erhöht, jetzt könnte man allenfalls ein Solidarsystem schaffen, im Rahmen dessen die Banken sich im Fall eines erneuten Bank Run gegenseitig aushelfen müssen. Ob sie das wollen, ist mehr als ungewiss, denn solche Ereignisse stellen immer auch eine wunderbare Gelegenheit dar, der Konkurrenz ein Bein zu stellen, und so könnte ein einzelner Finanzplatz oder am Schluss eben das ganze Finanz­system justament über solche Intrigen stolpern. Aber auch das sind Spekulationen.

Kommentare
28.03.2023 / 18:18 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 28.03.. Vielen Dank !