"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Daphne Caruana Galizia

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Am Montag, 3. Oktober, schaltete die Gesellschaft Schweiz–Armenien ein ganzseitiges Inserat mit dem Titel "Armenien droht die Auslöschung – Aserbaidschan und die Türkei streben die Vernichtung des ersten christlichen Staates der Welt an"
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10:27 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 06.10.2022 / 10:42

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 06.10.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Am Montag, 3. Oktober, schaltete die Gesellschaft Schweiz–Armenien ein ganzseitiges Inserat mit dem Titel "Armenien droht die Auslöschung – Aserbaidschan und die Türkei streben die Vernichtung des ersten christlichen Staates der Welt an"
Das würde mich nun echt wundern; meines Wissens geht es um den Bergkarabach, den Aserbaidschan jetzt vollständig einzunehmen gewillt ist, während Russland grad andere Sorgen hat als auch noch in diesem Kartong für Ordnung zu sorgen. Was mich weniger erstaunt, ist die missliche Stimmung in Armenien; eingeklemmt zwischen den kriegerisch-expansionistischen Türken und den Aseri, welche schon lange Anspruch auf den Bergkarabach erheben, lebt es sich dort im Moment sicher äußerst unangenehm, eben gerade wegen der militärischen Unkonzentriertheit der Russ:innen; im Moment besteht tatsächlich ein Vakuum, das die Fratelli Turchi auszunutzen drohen. Aber den Schritt von der Drohung zur tatsächlichen Besetzung des armenischen Kernlandes scheint mir dann doch etwas zu gewagt. Die Türkei selber kann es sich nicht leisten, obwohl sie es gerne möchte, aber damit wäre ihre Anbindung an den Westen mit seiner Wirtschaft und seiner Nato für eine ganze Zeit lang im Eimer. Und auch die Aseri wollen sich kaum einen Staat einverleiben, dessen Bevölkerung sich mit Haut und Haar gegen die Besetzung zur Wehr setzen wird, und zwar auf absehbare Zeit, sodass eine Besetzung nur parallel mit einem echten Bevölkerungsaustausch, sprich einem erneuten Genozid zu machen wäre, und dass sie dies toleriert, traue ich der internationalen Gemeinschaft einfach nicht zu. Aber man sieht anhand dieser Problemlage immerhin, welche Fernwirkung der Krieg der Nato gegen die Russen auf ukrainischem Territorium hat.

Immerhin halten wir fest, dass Eure ehemalige Verteidigungsministerin und aktuelle Chefin der EU-Kommission, Frau von der Leyen, am Samstag der Eröffnung der Erdgasleitung zwischen Griechenland und Bulgarien beiwohnte in Gegenwart unter anderem des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew. Verschiedene Stimmen fordern die Verdoppelung der aserbaid­scha­ni­schen Erdgaslieferungen nach Europa als Ersatz für das möglichst bald substituierte russische Erdgas. Die entsprechende Lobbytätigkeit der Aseri in Brüssel und Straßburg habe in den letzten Wochen spürbar zugenommen, heißt es. Eben: Eine vollständige Annexion oder Auslöschung Armeniens erscheint auch vor diesem Hintergrund als äußerst unwahrscheinlich. Sollte es dazu kommen, dann müsste auch diese Energiequelle sofort eingestellt werden, und in Europa würde man halt für Armenien frieren und nicht nur für die Ukraine.

Der EU-Nachrichtendienst Euractiv schreibt als Zusatzinformation, dass die Europäische Kommission im Jahr 2017 einen Erdgas-Deal zwischen Malta und Aserbaidschan genehmigt habe, welcher die maltesischen Steuerzahler:innen Dutzende von Millionen Euro jährlich gekostet hätte; die entsprechenden Dokumente gerieten in die Hände der Journalistin Daphne Caruana Galizia, welche umgebracht wurde, bevor sie sie veröffentlichen konnte. Das aserbaidschanische Energieunternehmen Socar hätte demgemäß an Malta Erdgas zum doppelten Marktpreis verkauft, und zwar hätte Socar dieses Gas zunächst von Shell eingekauft zum Preis von 113 Millionen Euro und anschließend an das Konsortium Electrogas für 153 Millionen weiterverkauft; von da aus wäre es an Enemalta gegangen, welche Privathaushalte und Unternehmen beliefert. Zum Electrogas-Konsortium gehört auch eine Firma von Yorgen Fenech, gegen den gegenwärtig der Prozess wegen der Ermordung von Daphne Caruana Galizia läuft.

Davon abgesehen zitiert Euractiv eine Quelle, welche behauptet, dass die aserbaidschanische Regierung zwischen 2012 und 2014 fast 3 Milliarden Euro ausgab zur Aufpolierung ihres Ansehens in Brüssel, sprich zur Bestechung von verschiedenen Politiker:innen aus Deutschland, Slowenien, Bulgarien, Belgien, Dänemark, Estland, Ungarn und Großbritannien und dazu Personen aus dem Europaparlament und sogar aus der Unesco. Ebenfalls in den Genuss solcher Zuwendungen sollen Sportler:innen, Journalist:innen, Musiker:innen und Medienunternehmen gekommen sein.

Sprechen wir von etwas anderem. Im Jahr 1880 erhielt der italienischstämmige französische Kolonialist Pierre Savorgnan de Brazza vom König der Batéké die Erlaubnis, am Pool Malébo im Kongo die Niederlassung Brazzaville zu gründen. Von hier aus erschlossen Dampfschiffe den Kongo flussaufwärts. Heute ist Brazzaville die Hauptstadt der Republik Kongo. Ich erwähne ihn aber vor allem deswegen, weil Brazza im Jahr 1905 von der französischen Regierung den Auftrag erhielt, Berichte über Verbrechen der Kautschuk produzierenden Unternehmen gegenüber der Lokalbevölkerung abzuklären. Er trug umfangreiche Unterlagen zusammen und begann auf der Rückfahrt mit der Redaktion des Berichts, wurde aber krank und starb in Dakar. Der Bericht wurde trotzdem fertiggestellt; die Vorwürfe an die Adresse der Kolonialunternehmen wurden darin weitgehend bestätigt, ähnlich wie zuvor Roger Casement die katastrophalen Verhältnisse im belgischen Kongo bekannt gemacht hatte. Während aber der belgische König Leopold II. aufgrund des Casement-Berichts eine Untersuchungs­kom­mis­sion einsetzen musste, wurde der Brazza-Bericht von der französischen Regierung ganz einfach archiviert. Erst im Jahr 2014 veröffentlichte die französische Historikerin Catherine Coquery-Vidrovitch das Dokument, ohne dass es größere Reaktionen auslöste. Ähnliche Bewusstseins­erweiterungen in den Kolonialmächten sind mir übrigens auch aus den Niederlanden bekannt, welche sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Frage beschäftigten, wie sie ihre Kolonien in Niederländisch Indien, also im heutigen Indonesien etwas moderner einrichten könnten, nicht zuletzt als Reaktion auf den 1860 erschienenen Roman «Max Havelaar», welcher die Praktiken der niederländischen Kolonialverwaltung kritisierte.

Das hilft zwar den Armenierinnen und Armeniern nicht viel weiter, aber im Rahmen der Diskussionen über Neokolonialismus und kulturelle Aneignung sind die ersten Erkenntnisse davon, dass es sich auch bei den Subjekten in den Kolonien um Menschen handelt, nicht unwichtig, auch für die Entwicklung des antikolonialen Bewusstseins bei den Kolonialisten.

Ebenfalls auf Euractiv habe ich gelesen, dass Nicaragua seine diplomatischen Beziehungen zu den Niederlanden abgebrochen hat wegen dessen interventionistischer und neokolonialistischer Haltung. Anlass war offenbar der Beschluss der Niederländer:innen, die Finanzierung für einen Spitalneubau in Nicaragua abzubrechen, nachdem das Projekt bereits vor vier Jahren gestoppt worden war wegen der anhaltenden Probleme im Bereich Demokratie und Menschenrechte. Das finde ich nun sehr lustig. Der nicaraguanische Präsident Daniel Ortega hat sich bekanntlich vom anerkannten Befreiungskämpfer zum ebenso anerkannten Kleptokraten entwickelt und seine eigene Ehefrau zu seiner Vizepräsidentin ernannt. Im Kriminalroman «Togolele no sabia bailar» beschreibt Sergio Ramirez die brutale Unterdrückung von Student:innenprotesten durch Schlägertruppen der Regierung im Jahr 2018, er beschreibt aber auch halbspirituelle Kulte rund um die Lebensbäume, welche die offenbar psychisch nicht ganz dichte Ehefrau von Daniel Ortega überall in der Hauptstadt Managua und vielleicht auch anderswo errichten ließ. Es versteht sich von selber, dass solche Figuren ihre Machtposition mit dem Vokabular des Antiimperialismus zu zementieren versuchen, genauso wie der Erdopampel die seine mit dem Vokabular des Moslemismus in irgendwelcher Sorte.

Welche Machtpositionen es in Bosnien und Herzegowina zu besetzen respektive zu verteidigen gibt, ist mir nicht ganz klar. Das eigentlich nicht lebensfähige Staatsgebilde wird wohl vor allem deswegen künstlich aufrechterhalten, damit es nicht wieder zu tatsächlichen gegenseitigen Schlächtereien kommt, während sie auf verbaler Ebene in vollem Gange sind. Immerhin scheinen im muslimischen und im kroatischen Teil die gemäßigten Kräfte die Oberhand zu gewinnen, während die Serben sich weiterhin bemühen, die Bezeichnung «Serbe» zum Inbegriff von nationalistischem Kretinismus zu erheben. Übrigens hat sicher auch der richtige serbische Präsident Vukic irgendetwas zu irgendeinem Thema gesagt. Mit anderen Worten: Es geht auch hier weiter wie zuvor.

In Brasilien gibt es Ende Oktober einen zweiten Wahlgang. Im ersten liegt Lula gut 5 Prozent vor Bolsonaro; man darf also hoffen, dass auch der brasilianische Trump das gleiche Schicksal erleidet wie sein US-amerikanisches Vorbild, und sei es auch gegen Lula, der nach meiner Einschätzung nicht selber so korrupt ist, wie ihn unter anderem der senile peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa schildert, der es aber doch zu verantworten hat, dass seine Partei beziehungsweise die Mitglieder der damaligen Regierungsallianz die Korruption in der brasilianischen Politik verbreitet haben, nicht zuletzt, weil die Arbeiterpartei sozusagen Stimmen dazu kaufen musste, auch unter Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff. Das dürfte unter Bolsonaro ähnlich weitergegangen sein, übrigens, vielleicht mit der Ausnahme, dass die Erdölpreise zwischenzeitlich eingebrochen sind, einmal abgesehen vom Intermezzo der Corona-Pandemie, welche der Megakretin Bolsonaro ja zunächst schlicht bestritten hat beziehungsweise gegen welche er sich lange weigerte, Maßnahmen zu ergreifen. Was für ein Affentheater.

Auch in Bulgarien wurde gewählt; im Moment ist nicht klar, wie die neue Regierung aussehen könnte, dagegen ist klar, dass der Meister aller Klassen der Korruption Boiko Borissow beziehungsweise seine Partei Gerb wieder am meisten Wähler:innenstimmen auf sich vereinigen konnte. Die Bevölkerung verzeiht mit anderen Worten ein bisschen Korruption oder versteht sie, weil sie sie selber im Alltag erlebt und als normal empfindet, was weiß ich. In der Tat scheint es oft ein weiter Weg zu sein hin zu einem Staat, in dem Dienstleistungen und Entscheide nicht mehr gekauft werden müssen, sondern eben von diesem Staat bezahlt und erbracht und wo die Entscheide tatsächlich aufgrund rechtsstaatlicher Mechanismen gefällt werden.

Gestern habt Ihr den Tag der deutschen Einheit gefeiert; 33 Jahre gibt es Euch also schon, Glückwunsch dazu! Ihr wisst seither, wie sich das Leben auf einer Baustelle anfühlt. Aber ich kann Euch trösten: den anderen Ländern und den ihnen innewohnenden Menschen geht es genau so. In diesen Zeiten, in denen sich wirklich alles in großer Geschwindigkeit verändert, wäre es anders auch gar nicht möglich.

Kommentare
11.10.2022 / 17:58 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 11.10.. Vielen Dank !