"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Rassen und so weiter

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Dochdoch, wir haben stark gestaunt, als Whoopi Goldberg der Welt erklärte, dass der Holocaust kein rassistisches Verbrechen gewesen sei, weil die Juden in den Todeslagern ja auch weiß gewesen seien. Interessant. Adolf Hitlers lag mit seiner Rassentheorie also nach Whoopi Goldberg total falsch. Das hätte sie ihm mal früher sagen sollen!
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11:34 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 21.06.2022 / 22:33

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Arbeitswelt, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 21.06.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Ich erinnere mich bei solchen geistigen Rülpsern an den anderen Scherz, wonach der ganze Faschismus ungültig sei, weil Adolf Hitler stets auf Drogen gewesen sei. Wie auch immer: Man kann davon ausgehen, dass auch ein nüchterner und sauber rassenreiner Faschismus keine erfreuliche Weltordnung geschaffen hätte. Vor allem sind damit alle für uns relevanten Fragen nicht zu beantworten, in erster Linie die eine, wie so etwas passieren konnte, dass sich nämlich ein ganzes Land einem solchen Führer an den Hals geworfen hat, begeistert in die Selbstentrechtung einwilligte und später in den Krieg zog, die Internierung Andersdenkender hinnahm ohne aufzubegehren und die Ermordung der Juden in ganz Europa nicht wahrnahm beziehungsweise ihr sowieso zustimmte. Zugegeben: Man hatte ein schlechtes Beispiel vor Augen, nämlich Italien; aber es bestand keine historische Notwendigkeit, dieses noch viel grässlicher zu imitieren.

Und es besteht auch keine historische Notwendigkeit dafür, dass auch heute noch Neonazis gewisse Straßen und Stadtteile unsicher machen. Auch hier fragen wir uns, wie so etwas passieren konnte, und wir fragen uns auch, wie man am besten drauf haut auf diese Schläger, wobei dies eher ein technisches Problem ist, das in der Regel mit dem Mittel von Polizei und Rechtsstaat gelöst werden kann. Manchmal geht es auch sozusagen ambulant: Als sich vor ein paar Tagen ein junger Neonazi nicht entblödete, seine Hakenkreuz-Tätowierungen in einer Zürcher Badeanstalt der Öffentlichkeit zu präsentieren, wurde er von ein paar Fußballfans unhöflich gebeten, das Gelände zu verlassen, und als er dieser Anweisung nicht Folge leistete, schritt eine Unterabteilung der FCZ-Fankurve ein und sorgte für Klarheit und eine nazifreie Badeanstalt. – Unter der technischen Ebene schwelen aber die antisemitischen Vorurteile weiter, zur allgemeinen Ver­blüf­fung aller Menschen, die ihren Denkapparat einigermaßen modern eingerichtet haben. Wie ist so etwas möglich unter den Bedingungen allgemeinen Wohlstandes und eines sozialdemokratischen Staatswesens? Das ist ein Rätsel, an dessen Lösung noch viele Wahrsager:innen und Ökonom:innen arbeiten müssen.

Auf einer Ebene leicht oberhalb der Neonazi-Primaten diskutiert das Feuilleton im Moment gerade die Documenta in Kassel, die in diesem Jahr von einer indonesischen Aktionsgruppe kuratiert wird, welche zur Abwechslung eine konsequent nichtwestliche Seh- und Blickweise präsentieren will. Die zugrunde liegende Überlegung der Damen und Herren Organisator:innen kann man absolut nachvollziehen, auch wenn das Ganze für uns immer noch ein bisschen Zirkus-Charakter hat und entfernt an die Völkerschauen erinnert, die vor hundertfuffzich Jahren durch Europa zogen. Die einzelnen Kunstwerke, Installationen und Aktionen kenne ich grad nicht beziehungsweise nur aus dem erwähnten Feuilleton, ich weiß aber, dass sich der Historiker Michael Wolffsohn darüber aufregt, dass Israel nicht zur Ausstellung eingeladen worden sei, noch mehr aber darüber, dass ein paar Mitglieder dieser Ruangrupa-Aktionsgruppe Kontakte zur antiisraelischen Kampagne Boycott, Disvestment and Sanctions hätten. Und schon steht die diesjährige Documenta im Ruche des Antisemitismus, so kann man das natürlich auch wenden. Im Eifer gerät Wolffsohn ganz aus dem Häuschen. Er schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung: «Nach der Überzeugung der Postkolonialisten werden die Verbrechen des westlichen Kolonialismus dem Holocaust gleichgestellt oder sogar als noch schlimmer betrachtet. Selten hört man dabei ein Wort über den russischen, chinesischen, japanischen, osmanischen oder, ja, indonesischen Kolonialismus auf Papua-Neuguinea. Abgesehen von den unterschiedlichen Dimensionen von Holocaust und Kolonialverbrechen hatte keiner der ermordeten Juden wie die antikolonialistischen Befreiungs­kämp­fer eine Waffe zur Hand.» Da ist der Historiker in die selbst errichtete Mauer gedonnert. Er widerspricht sich im gleichen Satz, wenn er zuerst ganz richtig auf die unterschiedlichen Dimensionen von Holocaust und Kolonial­ver­bre­chen verweist und dann unterstellt, die Bevöl­kerung in den ausgebeuteten Kolonien hätte den Eroberern durchgängig bewaffneten Widerstand geleistet. Ich habe die Rechnung nicht präsent, wieviele Todesopfer der Betrieb allein von europäischen Kolonien über fünf Jahrhunderte weg gefordert hat; für Lateinamerika gehen einige Forscher:innen davon aus, dass die Bevölkerung innerhalb von hundert Jahren auf die Hälfte abnahm. Das ist in diesem Zusammenhang nicht besonders relevant; wie Wolffsohn zu Recht sagt, kann und soll man die Zahlen nicht gegen­einander ausspielen; bloß tut er's dann halt gleich selber. Und wenn man den Fuß mal auf dem Gaspedal hat, bringt man ihn nicht so schnell wieder runter. Weil's gerade so tolle Mode ist und Spaß macht, verteilt Kollege Wolffsohn noch ein paar Ohrfeigen an all die linken und linksliberalen Gesinnungsgenossen, die angeblich in der ganzen jüngeren Ideologiegeschichte noch nie ein kritisches Wort über den russischen, chinesischen, japanischen, osmanischen und indonesischen Kolonialismus auf Papua-Neuguinea verloren haben – der Typ ist vollständig von der Rolle.

Das ändert nichts daran, dass man die Boykott-Desinvestitions-Sanktions-Bewegung leider zu Recht mit Antisemit:innen in Verbindung bringen muss. An Israel gibt es nun wirklich viel zu kritisieren, von der schleichenden Besetzung des Westjordanlandes über den Rassismus der Ultraorthodoxen bis jüngst zur Erschießung einer Al-Jazeera-Journalistin, ausnahmsweise grad durch das Militär selber, man hat echt die Wahl. Aber solange man dieser Israel-Kritik nicht die andere Seite, die in der Bodenlosigkeit religiöser Verbohrtheit wurzelnde Idiotie von Hamas, der Hisb'allah, welche unterdessen das ganze Nachbarland Libanon in den Ruin getrieben hat, und zu großen Teilen auch der Al Fatah, wo die Verbohrtheit nur durch die grassierende Korruption gemildert wird, gegenüberstellt, solange bedient diese Kritik antisemitische Tendenzen, soweit sie nicht selber offen antisemitisch ist. Und eine BDS-Bewegung, welche die unausstehliche Politik und Ideologie der Palästinenser:innen-Organisationen ebenso kritisiert wie Israel, kann per Definition gar keine BDS-Bewegung sein. Damit das auch wieder mal gesagt ist.

Daneben befindet sich Europa gegenwärtig in einer Phase, von der man nicht weiß, ob es ein Umbruch wird oder dann eben doch nicht. Die Inflationswerte nicht nur auf unserem Kontinent haben zwar nicht geradewegs in die Hysterie geführt, aber doch zu einer Orgie an erleichterten Kommentaren von Ökonom:innen, deren Theorien in den letzten zehn oder zwanzig Jahren vollkommen über den Haufen geworfen worden waren. Endlich stimmt mal wieder etwas! Endlich gibt es wieder Inflation! – Dabei ist diese Inflation eigentlich noch erstaunlich niedrig, wenn man in Betracht zieht, dass die Wirtschaft in den letzten Jahren praktisch vollständig auf Inflation verzichtet hat, während gleichzeitig Unmengen von Geld in alle möglichen Kreisläufe gepumpt wurden. Auf 4 Prozent schätzt sie der Nobelpreisträger Paul Krugmann, wenn man die Einzeleffekte aus Bereichen wie der Energie abzieht.

Ein Katalysator nicht nur für die Energiepreise, sondern für die aktuellen Unsicherheiten war be­stimmt der Angriff Russlands auf die Ukraine, über dessen Erfolg nach wie vor keine zuverlässigen Aussagen gemacht werden können. Eines erscheint jedenfalls sicher: Die Vereinigten Staaten wer­den ihr eigenes, sozusagen persönliches Kriegsziel, nämlich die Schwächung Russlands, erreichen, und zwar vermutlich vor allem auf der wirtschaftlichen Ebene. Die Europäische Union legt in dieser Phase ihrer Politik eher geographisch-militärpolitische Überlegungen zugrunde als die bisherigen Grundsätze der Integration, vor allem auf institutioneller Ebene. Das kann sich auch bald wieder ändern, wenn die Kämpfe in der Ukraine irgendwann mal aufhören. Immerhin wollen jetzt auch noch die letzten Kummer-Kinder in die Nato, der Erdopampel wittert wie üblich seine Chance auf irgendwelche diplomatisch-wirtschaftliche Geländegewinne, und in den Parlamenten gehen auf dem ganzen Kontinent die Sozialdemokrat:innen ein und aus, die sich nur noch in der Frage der Migra­tion voneinander unterscheiden, und auch dies nur noch im Vokabular. Es ist allen klar, dass eine bedingungslose Öffnung der Außengrenze zu einem bedingungslosen Zustrom von Reisewilligen aller Kontinente führen würde, zum einen, zum anderen zu einer hyper-allergischen Reaktion des Volkskörpers. Die politische Korrektheit verbietet es selbstverständlich einem er­wach­senen und anständigen Menschen, dies auch so zu sagen. In der Praxis betreiben aber alle Sozialdemokrat:innen, die rechten wie auch die linken, unterdessen die Abschottung des Kon­ti­nen­tes gegen alles, was nicht Tou­rist:in oder Facharbeiter:in ist. Insofern ist der Unterschied zwischen rechten und linken Regie­run­gen auch nicht mehr das, was er einmal war. Was die Tendenzen noch voneinander unterscheidet, sind die ideologischen Grundlagen. Immerhin! – Aber nach 77 Jahren Frieden in Europa sind auch die von der Regierungspraxis schon gehörig abgeschliffen worden, eben: zur sozialdemokratischen Regierungspaste.

Nun ist das alles gut und recht, aber es sollte uns nicht genügen. Wir brauchen bekanntlich neue Lösungen, nicht nur im Bereich Klima und Energie, wo die Konjunktur im Moment gerade so gut ist, dass uns die Automobilkonzerne ihre Elektrofahrzeuge um die Ohren schlagen, als hätten sie nie etwas anderes gemacht als das Klima zu schützen, das ist wirklich schmerzhaft. Wir brauchen aber auch Lösungen für die Einführung einer echten Demokratie, was zwingend die Umwandlung breiter Bevölkerungsschichten von reinen Objekten des Populismus in selbst denkende Individuen voraussetzt. Vielleicht ergeben sich hier auf industrieller Ebene Parallelen zur Entwicklung selbst fahrender Fahrzeuge. So oder so: Es gehört dazu die wirtschaftliche Besserstellung der weniger Bemittelten, allerdings erst in zweiter Linie. In erster Linie muss man zusammen mit diesen Menschen an einer neuen Identität arbeiten, welche als Leitlinie für die nächsten Jahrzehnte dienen kann, sozusagen ein Äquivalent für die proletarische Identität im 19. und 20. Jahrhundert. Ein vollständig selbst denkender Mensch, das ist die dringendste Vision unserer Zeit. Daran anschließen mögen sich verschiedene Fragen der Migration, für welche man sich dann nicht alles völlig neu aus den Fingern zu saugen braucht. Für die Europäische Union zum Beispiel ist die wirtschaftlich-politisch-soziale Integration mit den Ländern des Maghreb beziehungsweise mit Nordafrika die drängendste und offensichtlichste Priorität. Sie ist ja zum Teil bereits Realität, wenn auch als Resultat des Kolonialismus in der modernen Ausprägung, aber da sich die Grundlagen auf beiden Seiten des kleinen Mittelmeer-Tümpels derart radikal verändert haben, kann man darauf locker aufbauen und Fortschritte erzielen.

Die Geschicke des Nahen Ostens dagegen beziehungsweise die Entwicklung der dort starken antimodernen Ideologien, nicht nur bei der Hamas und der Hisb'Allah, sondern bei zahlreichen Interessengruppen, welche in den aktuellen Konstellationen ihren Vorteil auszureizen verstanden haben, die entziehen sich meiner Prognose-Fähigkeit im Moment, ebenso wie die Entwicklung Russlands, wo sich die entfesselte Dummheit nirgends so schön zeigt wie am Fall von Alexej Nawalny, der jetzt schon für Delikte verurteilt wird, die er im Gefängnis begangen haben soll. Hier stellt sich wirklich die Frage, ob es sich um flächendeckend verbranntes Territorium für die Vernunft handelt.