Geschichte wiederholt sich (nicht!) Teil 2

ID 115701
 
AnhörenDownload
Ein kleiner Staat im großen von Moskau dominierten Imperium wagt es von der Linie des Kreml abzuweichen. Nachdem die Moskauer Führung vergeblich versucht hat, die auf Freiheit und größere Selbstbestimmung drängende Nation wieder zur Räson zu bringen, setzt die russische Militärmaschinerie auf die bewährte Überzeugungskraft ihrer Panzerdivisionen. Sie zieht mehrere hunderttausend Mann an den Grenzen des Landes zusammen, Truppen werden in befreundete Nachbarstaaten verlegt, um die rebellische kleine Nation von allen Seiten angreifen zu können. Vorgeblich handelt es sich hierbei um Militärmanöver, die zu Übungszwecken abgehalten werden. Der alarmierten Regierung des ‚befreundeten Bruderstaats‘ wird signalisiert, es sei alles in Ordnung und gäbe keinen Grund zur Sorge. Noch in derselben Nacht überfallen die Panzerarmeen das Land von drei Seiten und Fallschirmtruppen landen in der Hauptstadt, um die Regierung gefangen zu setzen und eine Regimewechsel einzuleiten. Nein – wir sprechen (erneut) nicht von der Ukraine.

Teil 1: https://www.freie-radios.net/114869
Audio
09:37 min, 9461 kB, mp3
mp3, 134 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 21.05.2022 / 10:49

Dateizugriffe: 1410

Klassifizierung

Beitragsart: Anderes
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Mel
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 21.05.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Geschichte wiederholt sich (nicht!) Teil 2

Ein kleiner Staat im großen von Moskau dominierten Imperium wagt es von der Linie des Kreml abzuweichen. Nachdem die Moskauer Führung vergeblich versucht hat, die auf Freiheit und größere Selbstbestimmung drängende Nation wieder zur Räson zu bringen, setzt die russische Militärmaschinerie auf die bewährte Überzeugungskraft ihrer Panzerdivisionen. Sie zieht mehrere hunderttausend Mann an den Grenzen des Landes zusammen, Truppen werden in befreundete Nachbarstaaten verlegt, um die rebellische kleine Nation von allen Seiten angreifen zu können. Vorgeblich handelt es sich hierbei um Militärmanöver, die zu Übungszwecken abgehalten werden. Der alarmierten Regierung des ‚befreundeten Bruderstaats‘ wird signalisiert, es sei alles in Ordnung und gäbe keinen Grund zur Sorge. Noch in derselben Nacht überfallen die Panzerarmeen das Land von drei Seiten und Fallschirmtruppen landen in der Hauptstadt, um die Regierung gefangen zu setzen und eine Regimewechsel einzuleiten. Nein – wir sprechen (erneut) nicht von der Ukraine.


1968 – das Jahr globaler Befreiungskämpfe unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen. Während in der westlichen Welt die Jugend gegen die reaktionären Strukturen in ihren Gesellschaften aufbegehrt, in Lateinamerika und Afrika vielfältige Freiheitsbewegungen gegen die immer noch vorhandenen spätkolonialen Strukturen kämpfen, herrscht hinter dem eisernen Vorhang noch politische Eiszeit. Allerdings nicht überall – in der kleinen Tschechoslowakei kommt nach Studentenprotesten und krasser staatlicher Misswirtschaft mit Alexander Dubcek ein Reformer an die Spitze der kommunistischen Partei, der, auch getrieben von anderen Reformkräften, die Grundfesten poststalinistischen Einparteiendiktatur erschüttert. In wenigen Monaten zwischen März und August 1968 erfasst eine gewaltige Reform- und Aufbruchwelle das Land, das 20 Jahre unter der bleiernen Faust einer moskauhörigen totalitären Führungsclique erstarrt war. Zarte Ansätze von Pressefreiheit, bürgerlichen Rechten und individueller Selbstbestimmung keimen in der warmen Sonne des sogenannten Prager Frühlings – und tanzen nur einen kurzen Sommer!
Damals wie heute duldet die Moskauer Führung keine eigenmächtigen Entscheidungen und Entwicklungen in Staaten, die sie zu ihrem Imperium zählt. Wenn Drohungen und Aufmarsch nicht ausreichen, die unbotmäßigen Vasallen zur Räson zu bringen, dann rollen die Panzer.
Im Falle der Tschechoslowakei überschreitet in der Nacht zum 21. August 1968 die Rote Armee mit mehreren hunderttausend Mann die Grenze von Osten, Norden und Süden. Der Form halber und wegen des äußeren Anscheins sind auch Bataillone aus Polen, Ungarn und Bulgariens beteiligt, jedoch besteht der absolute Löwenanteil aus sowjetischen Truppen. Die Beteiligung der Nationalen Volksarmee der DDR, welche auch vorgesehen war, um eine gemeinsame Aktion sozialistischer Bruderstaaten vorzuspielen, verkniff man sich dann doch. Genau 30 Jahre nach dem Münchner Abkommen wieder deutsche Panzer in die Tschechoslowakei rollen zu lassen, schien auch der abgebrühten sowjetischen Führung unklug.
Damals wie heute wurde der militärische Überfall in der offiziellen Bezeichnung verbrämt und verharmlost. Es war von „gemeinsamen Handlungen der Bruderarmeen zum Schutze der sozialistischen Errungenschaften in der CSSR“ die Rede – da könnte sich Putin in Punkto Euphemismus noch was abschneiden. Gemeinsame Handlungen klingt noch viel weniger nach Krieg und Überfall als Spezialoperation.
Damals wie heute waren die westlichen Staaten nicht bereit, einen Krieg mit Moskau zu riskieren um dem angegriffenen, nach Freiheit strebenden Volk zu Hilfe zu kommen.
Allerdings endet an dieser Stelle die erstaunliche Parallelität.
Anders als in der Ukraine gelangen die Luftlandeaktionen in Prag, der Flughafen wurde erobert und die Regierung gefangen gesetzt und nach Moskau gebracht. Dort distanzierten sich die Politiker nach entsprechender Bearbeitung von ihren früheren Fehlern und schwenkten, über Radio und Fernsehen verbreitet, wieder auf den von Moskau diktierten Kurs ein.
Man darf davon ausgehen, dass Putin genau diesen Ablauf in seinem Drehbuch für Kiew vorgesehen hat. Wie wir wissen, hat das nicht geklappt und der Präsident Selenski schickte in der ersten Nacht sein berühmtes Video in die Welt: „Ich bin noch da!“
Ebenfalls abweichend war das Verhalten der Streitkräfte der Tschechoslowakei – sie verhielten sich nach einem Aufruf der Regierung passiv und leisteten keinen Widerstand. Entsprechend hatten die Invasoren ihre militärischen Ziele bereits nach 48 Stunden komplett erreicht – davon träumte unser aktueller Imperator in Moskau bestimmt in seinen feuchten Nächten.
Teile der Bevölkerung leisteten passiven Widerstand, indem beispielsweise Straßenschilder verdreht wurden, um die Orientierung zu erschweren. Auch gab es noch einige Tage Untergrundsendungen des freien Rundfunks. Dies änderte am konkreten, praktisch reibungslosen Ablauf der militärischen Besatzung nichts.
Eine interessante Parallele tut sich an dieser Stelle dann doch noch auf: Auch 1968 wussten viele sowjetische Soldaten nicht, wo sie waren und an welcher militärischen Aktion sie gerade teilnahmen. Viele dachten weiterhin, sie befänden sich auf einer Übung. Das Nichtinformieren der Truppe, über Zweck und Ziel ihres Auftrags, hat offenbar lange und fest eingefügte Tradition in der russischen Armee. Wozu sollte die allmächtige Führung das Kanonenfutter auch darüber informieren, wofür sie töteten oder starben?
1968 blieb das Informationsdefizit ohne nachteilige Folgen für die Aggressoren. Nahezu widerstandsfrei konnte das Land besetzt, die Führung ausgetauscht und mit willfährigen Vasallen besetzt werden.
Da es nur vereinzelt und unorganisiert zu Widerstandshandlungen kam, waren die Verluste niedrig. 98 BürgerInnen und 50 sowjetische Soldaten starben während der Besetzung. Die Opferzahlen des aktuellen russischen Imperialismus geht auf beiden Seiten in die Zehntausende.
Stärker ähneln sich die Folgen für jene Menschen, die sich nicht der Gewalt der Panzerrohre beugen wollen und ihre Freiheit nicht wieder an einen Moskauer Diktator verlieren wollten. Wer drohender langjähriger Lagerhaft entgehen wollte, floh ins westliche Ausland – Zehntausende wählten diesen Weg und verloren ihre Heimat für lange Jahrzehnte oder für immer.
Die Tschechoslowakei mutierte für Jahrzehnte erneut zum willfährigen Vasallenstaat des Moskauer Imperiums und trug als Waffenschmiede und ausgebeuteter Industriestandort dazu bei, die russischen Bedürfnisse zu befriedigen.
Als Folge des Prager Frühlings entwickelte der damalige Moskauer Diktator Breschenew eine nach ihm benannten Doktrin. Demnach werden Entwicklungen, welche die Stabilität des russischen Imperiums mit seinen Vasallenstaaten gefährden, nicht geduldet und notfalls militärisch beseitigt. Diese Breschenew Doktrin, die in ihrer Formulierung natürlich nicht vom sowjetischen Imperium, sondern von einer Zitat „ernsthaften Gefahr für die Sache der Sozialismus“ Zitat Ende sprach, formulierten den Anspruch der sowjetischen Führung, jede Entwicklung hinter dem Eisernen Vorhang, die ihren Interessen widersprach, „niemals zu dulden“.
In ganz ähnlicher Weise will Putin bei seinen Nachbarstaaten keine Entwicklung zulassen, die seinen Interessen zuwiderläuft.
Doch hier gibt es keine Wiederholung der Geschichte, denn Putin ist aktuell nicht sehr erfolgreich mit seinem Unterdrückungsfeldzug.
Die Freiheit und die Selbstbestimmung der Völker lassen sich nicht auf Dauer unterdrücken, auch nicht mit der größten Panzerarmee der Welt – oder um es mit dem 40. Präsidenten der USA, Ronald Reagen zu sagen:
„ Above all, we must realize that no arsenal, or no weapon in the arsenals of the world, is so formidable as the will and moral courage of free men and women.“
Vor allem müssen wir erkennen, dass kein Arsenal oder keine Waffe in den Arsenalen dieser Welt so stark und großartig ist, wie der Wille und der Mut freier Männer und Frauen!