Albert Jörimann - Sarah Kuttner
ID 111660
Jetzt weiß ich, was Vertikutieren ist. Vielmehr: Ich weiß es nicht richtig, ich weiß nur, dass ein Handvertikutierer ein Gerät ist, das wie eine scharfe Harke den Boden aufkratzt, so den Boden belüftet und gleichzeitig das Moos herauszieht. Und zwar von Hand, wie der erste Wortteil wohl nicht zu Unrecht angibt.
Audio
10:29 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 12.10.2021 / 20:31
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Dateizugriffe: 145
Klassifizierung
Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung
AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 12.10.2021
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
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Skript
Jetzt weiß ich, was Vertikutieren ist. Vielmehr: Ich weiß es nicht richtig, ich weiß nur, dass ein Handvertikutierer ein Gerät ist, das wie eine scharfe Harke den Boden aufkratzt, so den Boden belüftet und gleichzeitig das Moos herauszieht. Und zwar von Hand, wie der erste Wortteil wohl nicht zu Unrecht angibt.
Ein Vertikutierer könnte nämlich auch eine Maschine sein, welche nicht etwa so etwas wie ein Pflug wäre, sondern eine Maschine zur Rasenpflege, ohne dass man den Rasen damit zerstört, sondern nur zur Extraktion eines unerwünschten Moosbefalls dieses Rasens, also eine Maschine zum Beispiel für einen Golfplatz, wobei natürlich nur für das Green, denn das Rough muss man wohl nicht vertikutieren; wobei ich vermute, dass Golfplätze insgesamt moosfrei sind, wenn sie etwas auf sich halten, was man vermutlich auch ohne Vertikutierer, aber mit schön Rasenmitteln von Monsanto und Syngenta hinkriegt. Oder aber die Golfplätze werden allwöchentlich mit frischem Rasen aus dem Rasen-Zucht- und -Treibhaus belegt.
Hier aber, nämlich dort, wo ich das Wort gefunden habe, geht es um das Vertikutieren einer Dachterrasse im dritten Stock eines Rummelsburger Townhouses, welche zur Hälfte mit Holz ausgelegt ist und zur anderen Hälfte, eben mit Rasen. Rummelsburg ist offenbar ein Stadtteil in Berlin-Lichtenberg, und ich befürchte stark, dass ich bei der Lektüre des Romans «Kurt» von Sarah Kuttner mitten in die Gesellschaft von Menschen mit gut Einkommen und hohem Stilbewusstsein geraten bin. Um richtige Kapitalisten und um Immobilienhaie und so weiter handelt es sich nicht, vielmehr sind es pitchende Werber und interviewende Journalistinnen wie die Ich-Erzählerin, flankiert von Krankenschwestern mit ihren Assistenzärzten und anderweitig akademisch/kreativem Personal. Vielleicht leben in dieser Welt auch noch Jogalehrerinnen und Bioladenbetreiber, selbständige und unselbständige IT-Spezialistinnen, Facharbeiterinnen und Ingenieurinnen und Verwaltungsangestellte, was man sich halt so als durchschnittliche Berliner Bevölkerung zusammen stiefeln kann in der eigenen Vorstellung. Inklusive Berater für Vertikutieren.
Das Vertikutieren begegnet mir, nachdem Frau Kuttner in ihrer Erzählung den kleineren von zwei Kurten, nämlich den Sohn des ersten, schon nach einem Drittel des Textes hat zu Tode kommen lassen. Genickbruch am Spielplatz. Nun erholt sich die Protagonistin des Romans bei ihrer Schwester, welche das besagte Townhouse bewohnt, und betätigt sich unter anderem mit Vertikutieren der vermutlich zirka dreistöckigen und fünfhundert Quadratmeter großen Wohnung beziehungsweise des ihr zugeordneten Rasens, zunächst mal auf der Dachterrasse. Und bei der Lektüre merke ich beiläufig, dass auch Menschen, welche derart gewaltige Oberflächen in Berlin bewohnen, ebenfalls Menschen sind mit höchst durchschnittlichen Reaktionsweisen, einem höchst durchschnittlichen Verhalten bei der Handykommunikation und höchst durchschnittlicher, wo nicht sogar universeller Trauer im Trauerfall; es sind Menschen, die keinesfalls zwingend einen Schweinecharakter haben; sie haben einfach neben ausreichend Knete noch einen guten Geschmack beziehungsweise höchst wahrscheinlich das, was die Inneneinrichtungs-Magazine zum guten Geschmack erklären, sowie die Mittel, ihn auch auszuleben. Es muss diese Menschen ja geben, sonst wäre in Berlin nicht jüngst die Enteignungs-Initiative angenommen worden. Es muss sich sogar um eine ansehnliche Menge solcher Menschen handeln, denn dass ein einzelner Kapitalist sämtliche stylischen Wohnflächen dieser ganzen Stadt bewohnt, erscheint mir äußerst unwahrscheinlich. Dass die Mietpreise in Berlin derart blödsinnig steigen, dass die Quartiere gentrifiziert werden und so weiter und so fort, hat in erster Linie damit zu tun, dass es in Berlin Unmengen an Personen gibt, welche Geld verdienen wie Heu, wobei das angesichts der Gelddruckaktionen in den letzten zwölf Jahren vermutlich nicht mehr lange der richtige Vergleich ist, vermutlich gibt es heute mehr Geld als Heu. Bei dieser Vermutung ist mir allerdings nicht klar, welche Einheiten verglichen werden sollen. Getrocknete Grashalme mit Euro-Cents, vielleicht? Wieviele getrocknete Grashalme beinhaltet die Tonne an Heu, welche die Kuh in einem normalen Winter verspeist? Bei einem Verzehr von, sagen wir mal 15 Kilo Trockensubstanz, die wir glatt mit Heu gleichsetzen wollen? Ich habe keine Ahnung. Ich nehme an, dass es auf der Welt nach wie vor mehr Heu- und Strohhalme gibt als Euro-Cents. Das ist der Triumph der Natur über die Finanzindustrie!
Wie auch immer: Hier stoße ich also auf den Praxisbeweis für meine Arbeitshypothese, dass wir insgesamt in einer reichen Gesellschaft leben, Ihr wisst schon, internationale Arbeitsteilung, Automatisierung, Digitalisierung und so weiter. Offensichtlich, und der Mietspiegel für Berlin sei mein Zeuge dafür, verbreitet sich dieser Reichtum nicht nur bei den Reichen, sondern zunehmend bei mittelklassischen Gesellschaftsschichten, vermutlich nicht nur in Berlin, aber in Berlin auf jeden Fall; vielleicht steigen die Mieten dort auch deshalb so enorm, weil diese Gesellschaftsschichten ihresgleichen anziehen und so zu einem immer mächtigeren Element der Gesamtbevölkerung an Mietenden werden. Seltsamerweise ist die Stadt in der gleichen Bewegung einigermassen pleite gegangen, womit sich die Frage nach der Ausbreitung des Reichtums um eine Facette erweitert.
Und eben, auch der wohlhabende mittlere Mittelstand wird von Schicksalsschlägen erschüttert wie in Sarah Kuttners Buch Lena, die zu Beginn mit ihrer Patchworkfamilie in eine Landwohnung im Brandenburgischen zieht, um dann den kleinen Kurt zu verlieren. Zwei Drittel des «Kurt»-Buches sind also der Trauerarbeit ihres Lebenspartners, des Vaters, also des großen Kurts, aber auch der getrennt lebenden Mutter Jana und letztlich von Lena selber gewidmet, dem traurigen Weg zurück in eine Normalität, welche logischerweise nie mehr die gleiche Normalität sein kann wie zuvor. Und da sich gegen Schluss halt doch eine neue Normalität einstellt, muss ganz, ganz am Schluss nochmals der kleine Kurt aus dem Grab geholt werden mit einer dreieinhalbseitigen Rückblende, damit niemand aus dem potenziellen Lesepublikum auf die Idee kommen könnte, Frau Kuttner hätte mit der Darstellung der neuen Normalität einen Verstoß gegen die Pietät vollzogen. Tote Kinder sind derart abgrundtief traurig, da soll niemand der Autorin nachsagen können, dass sie das Leben, das trotz allem weitergeht, in unangemessener Gewichtung neben diesen Abgrund gestellt hätte.
Ja, der Tod eines Kindes ist grässlich. Je kleiner sie sind, desto mehr sind sie noch Bestandteil der Eltern, und mit zunehmendem Alter erfreut man sich an ihrer zunehmenden Emanzipation, ihr Tod ist wirklich das Schlimmste, was einem passieren kann. Mir fehlen dafür die Worte, nur schon in der Vorstellung, und ich schauere beim Gedanken daran, was Eltern und Verwandte erleben, die das tatsächlich durchmachen. Genau das irritiert mich aber bei diesem Roman. Kann man das, einen Roman zum Tod eines vier- oder sechsjährigen Kindes schreiben, und zumal in diesem leichten, luftigen Ton von Sarah Kuttner? Sie gibt sich wirklich alle Mühe, die beiden Normalitäten prae und post mortem so aufeinander prallen zu lassen, wie es sich gehört, wie es vermutlich im richtigen Leben geschieht. Sie schildert ihre Rückkehr, die eigene und die von Kurt, in das lebendige Leben, wie gesagt, unter steter Betonung der Unangemessenheit von Freude oder Leben überhaupt nach diesem Unglück. Vielleicht gibt es Menschen, die sich an so etwas halten können, wenn ihnen etwas Ähnliches passiert ist; für mich, bei dem das Gottseidank nicht der Fall ist, bleibt das Unterfangen irritierend. Zumal dann plötzlich wieder Beschreibungen auftauchen wie jene, wie Lena ins kalte Wasser stakst, ich lese das mal vor: «Während Kurt bereits frei von Angst mit wenigen, langen Schritten ins Wasser stakst,um sich dann sofort in die sogenannten Fluten zu stürzen, stehe ich unschlüssig in bisher nur meine Knöchel umspielender Plörre. Wo die Rampe aufhört, schwimmen alte Äste und sonstiger Abfall der Natur. Kurt hat das Wasser aufgewühlt, und ich kann bis auf braunen Schlamm und ab und zu an die Oberfläche tretendes Holz nicht sehen, was zu meinen Füßen ist, ein Umstand, den ich hochgradig unangenehm finde. Ich bin eben doch nur in mäkeliges Stadtkind. Ein echter Brandenburger ignoriert die Unterwassernatur und macht einen Köpper ins kühle Nass. Wie Kurt. Ich hingegen tapse langsam und übervorsichtig weiter in Richtung der untergehenden Sonne, habe Angst vor Krebsen und Scherben und Fischen und allem, was entweder weich oder scharfkantig ist. Auch sonst mache ich alles falsch, was mir in der Kindheit in Sachen Seebetretung beigebracht wurde: Jedes Mal, wenn das Wasser ein paar Zentimeter mehr meines Körpers erobert, bleibe ich stehen und quieke leise und atme stoßweise. Oberkörper nass machen und zack untertauchen, hieß es früher. Das Pflaster mit einem Ruck abziehen. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Mein Schrecken geht mir erst bis zur Mitte des Oberschenkels, und ein Ende ist nicht in Sicht.» – Das erinnert mich stark an mich selber, ich brauche mindestens zwanzig Minuten zum Eintauchen, wenn das Wasser nicht 30 Grad warm ist; das ist auch gut geschildert, äußere, innere Welten, Assoziationen und eben leicht hingeschrieben, aber der Kontrast zum echten, langsam abebbenden Kurt-Schmerz bleibt bestehen und irritiert mich weiterhin.
Nun gut, es hat ja niemand behauptet, in erster Linie wohl die Autorin selber nicht, dass es sich hier um die moderne Version von «Germinal» handelt. Somit bleibt die Lektüre des Buches mehr oder weniger Geschmackssache oder vielleicht besser: Empfindungssache. Ich selber verzichte mehr oder weniger konsequent darauf, meinen Gefühlshaushalt durch Trauerfiktionen in Wallung zu versetzen. «Der Männer Wollust ist es, nicht zu leiden», hat Bertolt Brecht mal gereimt, und dem schließe ich mich grundsätzlich an. Leid und Trauer können dort zum Thema werden, wo sie Ursachen haben, die man verändern kann, aber der Eingriff in die Biografie durch einen Unglücksfall wird man nie verhindern können, und was der Mensch dann durchmacht, das möchte ich mir lieber nicht zumuten; auf eine Art, die hinter den Worten liegt, weiß ich es ja sowieso, wissen wir es wohl alle.
Und trotzdem habe ich Sarah Kuttners Roman «Kurt» dann mit der Zeit doch noch fertig gelesen.
Ein Vertikutierer könnte nämlich auch eine Maschine sein, welche nicht etwa so etwas wie ein Pflug wäre, sondern eine Maschine zur Rasenpflege, ohne dass man den Rasen damit zerstört, sondern nur zur Extraktion eines unerwünschten Moosbefalls dieses Rasens, also eine Maschine zum Beispiel für einen Golfplatz, wobei natürlich nur für das Green, denn das Rough muss man wohl nicht vertikutieren; wobei ich vermute, dass Golfplätze insgesamt moosfrei sind, wenn sie etwas auf sich halten, was man vermutlich auch ohne Vertikutierer, aber mit schön Rasenmitteln von Monsanto und Syngenta hinkriegt. Oder aber die Golfplätze werden allwöchentlich mit frischem Rasen aus dem Rasen-Zucht- und -Treibhaus belegt.
Hier aber, nämlich dort, wo ich das Wort gefunden habe, geht es um das Vertikutieren einer Dachterrasse im dritten Stock eines Rummelsburger Townhouses, welche zur Hälfte mit Holz ausgelegt ist und zur anderen Hälfte, eben mit Rasen. Rummelsburg ist offenbar ein Stadtteil in Berlin-Lichtenberg, und ich befürchte stark, dass ich bei der Lektüre des Romans «Kurt» von Sarah Kuttner mitten in die Gesellschaft von Menschen mit gut Einkommen und hohem Stilbewusstsein geraten bin. Um richtige Kapitalisten und um Immobilienhaie und so weiter handelt es sich nicht, vielmehr sind es pitchende Werber und interviewende Journalistinnen wie die Ich-Erzählerin, flankiert von Krankenschwestern mit ihren Assistenzärzten und anderweitig akademisch/kreativem Personal. Vielleicht leben in dieser Welt auch noch Jogalehrerinnen und Bioladenbetreiber, selbständige und unselbständige IT-Spezialistinnen, Facharbeiterinnen und Ingenieurinnen und Verwaltungsangestellte, was man sich halt so als durchschnittliche Berliner Bevölkerung zusammen stiefeln kann in der eigenen Vorstellung. Inklusive Berater für Vertikutieren.
Das Vertikutieren begegnet mir, nachdem Frau Kuttner in ihrer Erzählung den kleineren von zwei Kurten, nämlich den Sohn des ersten, schon nach einem Drittel des Textes hat zu Tode kommen lassen. Genickbruch am Spielplatz. Nun erholt sich die Protagonistin des Romans bei ihrer Schwester, welche das besagte Townhouse bewohnt, und betätigt sich unter anderem mit Vertikutieren der vermutlich zirka dreistöckigen und fünfhundert Quadratmeter großen Wohnung beziehungsweise des ihr zugeordneten Rasens, zunächst mal auf der Dachterrasse. Und bei der Lektüre merke ich beiläufig, dass auch Menschen, welche derart gewaltige Oberflächen in Berlin bewohnen, ebenfalls Menschen sind mit höchst durchschnittlichen Reaktionsweisen, einem höchst durchschnittlichen Verhalten bei der Handykommunikation und höchst durchschnittlicher, wo nicht sogar universeller Trauer im Trauerfall; es sind Menschen, die keinesfalls zwingend einen Schweinecharakter haben; sie haben einfach neben ausreichend Knete noch einen guten Geschmack beziehungsweise höchst wahrscheinlich das, was die Inneneinrichtungs-Magazine zum guten Geschmack erklären, sowie die Mittel, ihn auch auszuleben. Es muss diese Menschen ja geben, sonst wäre in Berlin nicht jüngst die Enteignungs-Initiative angenommen worden. Es muss sich sogar um eine ansehnliche Menge solcher Menschen handeln, denn dass ein einzelner Kapitalist sämtliche stylischen Wohnflächen dieser ganzen Stadt bewohnt, erscheint mir äußerst unwahrscheinlich. Dass die Mietpreise in Berlin derart blödsinnig steigen, dass die Quartiere gentrifiziert werden und so weiter und so fort, hat in erster Linie damit zu tun, dass es in Berlin Unmengen an Personen gibt, welche Geld verdienen wie Heu, wobei das angesichts der Gelddruckaktionen in den letzten zwölf Jahren vermutlich nicht mehr lange der richtige Vergleich ist, vermutlich gibt es heute mehr Geld als Heu. Bei dieser Vermutung ist mir allerdings nicht klar, welche Einheiten verglichen werden sollen. Getrocknete Grashalme mit Euro-Cents, vielleicht? Wieviele getrocknete Grashalme beinhaltet die Tonne an Heu, welche die Kuh in einem normalen Winter verspeist? Bei einem Verzehr von, sagen wir mal 15 Kilo Trockensubstanz, die wir glatt mit Heu gleichsetzen wollen? Ich habe keine Ahnung. Ich nehme an, dass es auf der Welt nach wie vor mehr Heu- und Strohhalme gibt als Euro-Cents. Das ist der Triumph der Natur über die Finanzindustrie!
Wie auch immer: Hier stoße ich also auf den Praxisbeweis für meine Arbeitshypothese, dass wir insgesamt in einer reichen Gesellschaft leben, Ihr wisst schon, internationale Arbeitsteilung, Automatisierung, Digitalisierung und so weiter. Offensichtlich, und der Mietspiegel für Berlin sei mein Zeuge dafür, verbreitet sich dieser Reichtum nicht nur bei den Reichen, sondern zunehmend bei mittelklassischen Gesellschaftsschichten, vermutlich nicht nur in Berlin, aber in Berlin auf jeden Fall; vielleicht steigen die Mieten dort auch deshalb so enorm, weil diese Gesellschaftsschichten ihresgleichen anziehen und so zu einem immer mächtigeren Element der Gesamtbevölkerung an Mietenden werden. Seltsamerweise ist die Stadt in der gleichen Bewegung einigermassen pleite gegangen, womit sich die Frage nach der Ausbreitung des Reichtums um eine Facette erweitert.
Und eben, auch der wohlhabende mittlere Mittelstand wird von Schicksalsschlägen erschüttert wie in Sarah Kuttners Buch Lena, die zu Beginn mit ihrer Patchworkfamilie in eine Landwohnung im Brandenburgischen zieht, um dann den kleinen Kurt zu verlieren. Zwei Drittel des «Kurt»-Buches sind also der Trauerarbeit ihres Lebenspartners, des Vaters, also des großen Kurts, aber auch der getrennt lebenden Mutter Jana und letztlich von Lena selber gewidmet, dem traurigen Weg zurück in eine Normalität, welche logischerweise nie mehr die gleiche Normalität sein kann wie zuvor. Und da sich gegen Schluss halt doch eine neue Normalität einstellt, muss ganz, ganz am Schluss nochmals der kleine Kurt aus dem Grab geholt werden mit einer dreieinhalbseitigen Rückblende, damit niemand aus dem potenziellen Lesepublikum auf die Idee kommen könnte, Frau Kuttner hätte mit der Darstellung der neuen Normalität einen Verstoß gegen die Pietät vollzogen. Tote Kinder sind derart abgrundtief traurig, da soll niemand der Autorin nachsagen können, dass sie das Leben, das trotz allem weitergeht, in unangemessener Gewichtung neben diesen Abgrund gestellt hätte.
Ja, der Tod eines Kindes ist grässlich. Je kleiner sie sind, desto mehr sind sie noch Bestandteil der Eltern, und mit zunehmendem Alter erfreut man sich an ihrer zunehmenden Emanzipation, ihr Tod ist wirklich das Schlimmste, was einem passieren kann. Mir fehlen dafür die Worte, nur schon in der Vorstellung, und ich schauere beim Gedanken daran, was Eltern und Verwandte erleben, die das tatsächlich durchmachen. Genau das irritiert mich aber bei diesem Roman. Kann man das, einen Roman zum Tod eines vier- oder sechsjährigen Kindes schreiben, und zumal in diesem leichten, luftigen Ton von Sarah Kuttner? Sie gibt sich wirklich alle Mühe, die beiden Normalitäten prae und post mortem so aufeinander prallen zu lassen, wie es sich gehört, wie es vermutlich im richtigen Leben geschieht. Sie schildert ihre Rückkehr, die eigene und die von Kurt, in das lebendige Leben, wie gesagt, unter steter Betonung der Unangemessenheit von Freude oder Leben überhaupt nach diesem Unglück. Vielleicht gibt es Menschen, die sich an so etwas halten können, wenn ihnen etwas Ähnliches passiert ist; für mich, bei dem das Gottseidank nicht der Fall ist, bleibt das Unterfangen irritierend. Zumal dann plötzlich wieder Beschreibungen auftauchen wie jene, wie Lena ins kalte Wasser stakst, ich lese das mal vor: «Während Kurt bereits frei von Angst mit wenigen, langen Schritten ins Wasser stakst,um sich dann sofort in die sogenannten Fluten zu stürzen, stehe ich unschlüssig in bisher nur meine Knöchel umspielender Plörre. Wo die Rampe aufhört, schwimmen alte Äste und sonstiger Abfall der Natur. Kurt hat das Wasser aufgewühlt, und ich kann bis auf braunen Schlamm und ab und zu an die Oberfläche tretendes Holz nicht sehen, was zu meinen Füßen ist, ein Umstand, den ich hochgradig unangenehm finde. Ich bin eben doch nur in mäkeliges Stadtkind. Ein echter Brandenburger ignoriert die Unterwassernatur und macht einen Köpper ins kühle Nass. Wie Kurt. Ich hingegen tapse langsam und übervorsichtig weiter in Richtung der untergehenden Sonne, habe Angst vor Krebsen und Scherben und Fischen und allem, was entweder weich oder scharfkantig ist. Auch sonst mache ich alles falsch, was mir in der Kindheit in Sachen Seebetretung beigebracht wurde: Jedes Mal, wenn das Wasser ein paar Zentimeter mehr meines Körpers erobert, bleibe ich stehen und quieke leise und atme stoßweise. Oberkörper nass machen und zack untertauchen, hieß es früher. Das Pflaster mit einem Ruck abziehen. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Mein Schrecken geht mir erst bis zur Mitte des Oberschenkels, und ein Ende ist nicht in Sicht.» – Das erinnert mich stark an mich selber, ich brauche mindestens zwanzig Minuten zum Eintauchen, wenn das Wasser nicht 30 Grad warm ist; das ist auch gut geschildert, äußere, innere Welten, Assoziationen und eben leicht hingeschrieben, aber der Kontrast zum echten, langsam abebbenden Kurt-Schmerz bleibt bestehen und irritiert mich weiterhin.
Nun gut, es hat ja niemand behauptet, in erster Linie wohl die Autorin selber nicht, dass es sich hier um die moderne Version von «Germinal» handelt. Somit bleibt die Lektüre des Buches mehr oder weniger Geschmackssache oder vielleicht besser: Empfindungssache. Ich selber verzichte mehr oder weniger konsequent darauf, meinen Gefühlshaushalt durch Trauerfiktionen in Wallung zu versetzen. «Der Männer Wollust ist es, nicht zu leiden», hat Bertolt Brecht mal gereimt, und dem schließe ich mich grundsätzlich an. Leid und Trauer können dort zum Thema werden, wo sie Ursachen haben, die man verändern kann, aber der Eingriff in die Biografie durch einen Unglücksfall wird man nie verhindern können, und was der Mensch dann durchmacht, das möchte ich mir lieber nicht zumuten; auf eine Art, die hinter den Worten liegt, weiß ich es ja sowieso, wissen wir es wohl alle.
Und trotzdem habe ich Sarah Kuttners Roman «Kurt» dann mit der Zeit doch noch fertig gelesen.
Kommentare
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14.10.2021 / 18:01 | Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar |
in sonar
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am 14.10.. Vielen Dank! | |