Zur Kriegsmetaphorik beim Kampf gegen das Coronavirus

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Ein Kommentar

Es war bereits im März, als die drastischen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus in den meisten europäischen Ländern verhängt wurden. Der französische Präsident Macron sprach von einem „unsichtbaren Feind“, der im Anmarsch sei und nun besiegt werden müsse, von einem „Krieg“, der auf dem Feld der Gesundheit zu führen sei. Martialische Formulierungen, fürwahr.
Die Chiffre Krieg ist allerdings in Frankreich in der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts mit der Rolle der Verteidigung verbunden und nicht wie hier mit Angriff auf jemand.

Es ist aber auch ein seltsamer Gegner, gegen den hier gekämpft wird: Während manche den „unsichtbaren Feind“ kurzerhand für ein Phantom halten, als hätte es die vielen Leichen von Bergamo und New York nie gegeben, wiegeln andere ab und halten die „Maßnahmen“ für übertrieben. Die bisherigen Corona-Toten werden zahlenmäßig mit Opfern des Straßenverkehrs ins Verhältnis gesetzt ...

Regierungen, ja Staatsgebilde an sich tendieren dazu, nicht (oder nicht nur) die Wohltäter zu sein, als die ihre Propaganda sie darstellt. Nur leider ist es mit den „besorgten Bürgern“, die nun borniert auf ihre angestammten „Freiheitsrechte“ pochen, nicht besser. Konkreter Besitzbürger und abstrakter Staatsbürger, Egoist und Altruist, werden unter Bedingungen der Konkurrenz nicht deckungsgleich.


Dauer: 10 Minuten

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10:04 min, 4131 kB, mp3
mp3, 56 kbit/s, Mono (48000 kHz)
Upload vom 25.08.2020 / 13:24

Dateizugriffe: 1995

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, SeniorInnen, Umwelt, Kultur, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Red. Sachzwang FM
Radio: Querfunk, Karlsruhe im www
Produktionsdatum: 25.08.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der vollständige Kommentar im Wortlaut:

I.
Es war bereits im März, als die drastischen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus in den meisten europäischen Ländern verhängt wurden. Der französische Präsident Macron sprach von einem „unsichtbaren Feind“, der im Anmarsch sei und nun besiegt werden müsse, von einem „Krieg“, der auf dem Feld der Gesundheit zu führen sei. Martialische Formulierungen, fürwahr; und dies alles scheinbar nur, damit Heerscharen (jawohl, sie sind Legion) deutscher Feuilletonisten sich über rhetorische Aufrüstung und virologische Kriegstreiberei echauffieren konnten, während „wir“ ja solche Vergleiche niemals ziehen würden; schließlich habe man ja hier aus der Geschichte gelernt: Krieg ist gar nicht gut. Letzteres stimmt zwar, aber ein paar Aspekte – die nicht Macrons Rhetorik betreffen, sondern ihre billige Abfuhr durch deutsche Pazifisten – sind doch zu bedenken.
Wenn hierzulande Kriegsrhetorik bemüht wird oder – wie jüngst immer wieder – der Militärhaushalt aufgestockt wird, so schrillen zwar zurecht die Alarmglocken, Bedenken sind mehr als angebracht. Konfliktlösung durch blanke Gewalt, eine Diktatur der Waffen über die Argumente, das geht mit Aufklärung und Humanismus keineswegs zusammen. Die Chiffre Krieg ist allerdings in Frankreich (und beileibe nicht nur dort) in der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, dem Jahrhundert der Weltkriege, mit der Rolle der Verteidigung verbunden und nicht wie hier mit Angriff auf jemand. Und das nicht erst im Kontext von größenwahnsinnigen Nazis und Weltkrieg II, sondern bereits im Ersten Weltkrieg vor über hundert Jahren, als auch ihre historischen Vorläufer Europa mit Krieg überzogen. Die blutigen Schlachtfelder des Großen Kriegs waren bekanntlich außerhalb des Deutschen Reiches; hier spricht also nicht nur die (vor allem von Geschichtsrevisionisten gern diskutierte) Frage der „Kriegsschuld“ gegen das wilhelminische Deutsche Reich, sondern vor allem die Tatsache, daß die apokalyptischen Knochenmühlen, all die wohlbekannten Orte und berüchtigten Schauplätze menschenverachtender Kriegskunst, eben bei Verdun, an der Somme und in den Karpaten liegen, im angegriffenen „Ausland“ also. Die ehrenwerten Chauvinisten kämpften also nicht innerhalb ihres Territoriums (was vielleicht legitim gewesen wäre), sie schlugen stattdessen einen Angriffskrieg. Dieser feine Unterschied ist aber einer ums Ganze, und die Kriegsmetapher ist in Frankreich wie so vielen anderen Ländern eine der Verteidigung, nicht eine der Aggression.
Dies möge bedacht werden, wenn ausgerechnet deutsche Schöngeister meinen, sich moralisch und stilkritisch über die Wortwahl des französischen Präsidenten erheben zu müssen. Der deutsche Michel hat also nicht, wie er vielleicht von sich selbst denkt, das Kriegsspielzeug und Mordgerät weise und mit Bedacht zur Seite gelegt – es ist ihm in flagranti aus der Hand geschlagen worden.

II.
Es ist aber auch ein seltsamer Gegner, gegen den hier gekämpft wird: Während manche den „unsichtbaren Feind“ (Macron) kurzerhand für ein Phantom halten, also zu einem Produkt der bloßen Einbildung erklären, als hätte es die vielen Leichen von Bergamo und New York nie gegeben, wiegeln andere ab und halten die „Maßnahmen“ für übertrieben. Die bisherigen Corona-Toten werden zahlenmäßig – zunächst durchaus nachvollziehbar – mit Opfern des Straßenverkehrs oder der alljährlichen Grippe ins Verhältnis gesetzt. „Und niemand käme doch auf die Idee, darum das Autofahren zu verbieten.“ Nein, natürlich nicht. Verkehrsunfälle sind aber auch nicht ansteckend, einer zieht nicht x weitere zwingend nach sich, sodaß sich Straßenverkehrsopfer wie mit einem Schneeballsystem vermehren würden. Vielmehr sind die verbeulten Reste eines Unfalls dem Straßenverkehr bis auf weiteres entzogen. Daß also die Corona-Opfer die Verkehrstoten zahlenmäßig noch nicht weit übersteigen, ist gerade den alles andere als sinnlosen Maßnahmen zu verdanken. Wer einen Begriff von der Dramatik exponentiellen Wachstums hat, kann über solch einen kruden Vergleich daher nur den Kopf schütteln, er hinkt schlichtweg. Seuchen brechen aus und verbreiten sich, Verkehrsunfälle nicht.
Ebenso der Grippevergleich, dieser eine Stammtischweisheit. Nicht nur ist er eine Spezialität skrupelloser Sozialdarwinisten wie Bolsonaro, Trump & Co., sondern er gibt – von unqualifizierter Seite – auch die Stimmen qualifizierter Fachleute der Lächerlichkeit preis, als wüßten diese nicht am besten zu beurteilen, wie es um das Risiko einer Ansteckung und das Risiko des Ausbruchs jeder spezifischen Krankheit steht. Außerdem ist das CoV-2-Virus immer noch relativ neu, die Forschung in vollem Gange; was man von der Grippe nicht sagen kann. Doch „die Virologen“, die „Virologenbrut“, die „Virolokratie“ sind die Lieblingsfeindbilder selbsternannter Freiheitsclowns und -helden, als hätten ausgerechnet medizinische Forscher irgendein Interesse an der Niederhaltung der Bevölkerung.

III.
Um auch nur annähernd die aktuellen Vorgänge verstehen und beurteilen zu können, gilt es, eine Reihe von Aspekten ständig mitzudenken:
1) Das Virus ist – nach Forschungserkenntnissen – hoch infektiös, aber natürlich unsichtbar. Es hat eine bestimmte Inkubationszeit, und nur manche Infizierten zeigen Symptome, d.h. bei vielen Infizierten bricht die Krankheit gar nicht aus, sie sind aber doch ansteckend.
2) Es ist derzeit weder ein Impfstoff gegen das neuartige Virus vorhanden noch die Kapazitäten, Abermillionen Menschen auf Corona zu testen bzw. im Weltmaßstab Milliarden von Menschen. Das ist heute nicht nur nicht „finanzierbar“ (also dem kapitalistischen System geschuldet), sondern wohl auch ressourcentechnisch mittelfristig nicht leistbar.
3) Daher muß in den meisten Ländern mit einer gewissen Dunkelziffer gerechnet werden, einer gewaltigen Anzahl weder getesteter noch erkrankter, aber nichtsdestotrotz infizierter Menschen. Schätzungen zufolge beträgt sie das fünf- bis zwanzigfache der verifizierten, also positiv getesteten Fälle. Die allermeisten Infektionen sind also gar nicht bekannt. Dies macht einen Großteil der Problematik aus; wären alle Infektionen bekannt, so wären die meisten der drastischen Schutzmaßnahmen unnötig.
4) „Zuerst haben die Virologen gesagt, die einfachen Schutzmasken bieten überhaupt keinen Schutz, nun werden wir staatlicherseits doch gezwungen sie zu tragen. Die Politiker und Virologen lügen und wollen uns nur dressieren.“ Die einfachen Mund-Nasen-Schutzmasken schützen – das hat sich mittlerweile herumgesprochen – nicht den Träger vor einer Ansteckung mit infizierter Atemluft, wohl aber rudimentär die Atemluft außen vor einer möglichen Infektion durch den Maskenträger. Wer eine Maske aufzieht, schützt also möglicherweise andere, wenn auch kaum sich selbst. Wer dies für sinnlos hält, benimmt sich damit ähnlich asozial wie jene Straßenverkehrsteilnehmer, die nie blinken und wohl denken „Ich weiß doch, ob ich abbiege oder nicht. Warum soll ich dann noch blinken?“
5) Regierungen, ja Staatsgebilde an sich tendieren dazu, nicht (oder nicht nur) die Wohltäter zu sein, als die ihre Propaganda sie darstellt. Daher ist bei administrativen Maßnahmen immer – und nicht erst jetzt – der Aspekt mit zu bedenken, daß hier eine Formierung der Gesellschaft vonstatten geht, die prinzipiell problematisch ist. Nur leider ist es mit den „besorgten Bürgern“, die nun borniert auf ihre angestammten „Freiheitsrechte“ pochen, nicht besser. Sie sind als Lebendige genau so Teil der Misere wie die Form des Staatsapparats, den sie – Wutbürger, die sie sind – so pseudo-antagonistisch zu kritisieren vorgeben. Sie haben keinen Begriff davon, daß (wie schon Marx pointierte) in ihrer Brust die bürgerliche Schizophrenie von Citoyen und Bourgeois tobt: einerseits sind sie befangen, egoistisch müssen sie tagtäglich für ihr Eigenwohl streiten, andererseits müssen sie, damit ein zivilisatorisches Minimum von Gesellschaft walten kann, in schönen Phrasen „der Allgemeinheit“ oder „den guten Sitten“ das Wort reden. Konkreter Besitzbürger und abstrakter Staatsbürger, Egoist und Altruist, werden aber unter Bedingungen der Konkurrenz nicht deckungsgleich.
6) Wir leben nicht in einer freien Gesellschaft; fast alle Menschen sind von der Notdurft bestimmt, innerhalb einer Ökonomie der Zeit ihren Lebensunterhalt zusammenkratzen zu müssen. Die meisten Leute erachten Auseinandersetzungen gerade dann, wenn sie ausufernd, umfassend und spannend werden, als müßig, „abgehoben“ und „ideologisch“. „Grundsatzdiskussionen wollen wir doch hier nicht führen.“ Dies ist genau der Grund, warum stark verunsicherte und aufgebrachte Bürger traditionell eher restaurativ als innovativ werden, eher zynisch als naiv, eher rechts als links sich radikalisieren. Sie können oder wollen nicht anders, als sogar grundlegend veränderte Realitäten mit althergebrachten Denk- und Kategorienschemata in den Griff zu bekommen. Sie wollten immer schon ihre alte Realität zurück. Daher sind sie „Wutbürger“ im präzisesten Sinne des Wortes, Protagonisten einer „konformistischen Revolte“ und eben nicht die Revolutionäre, für die sie sich wohl halten.