Das social Distel-Ding - Zur EU-Ratspräsidentschaft

ID 103239
 
AnhörenDownload
Teil 48 der Kolumne aus dem social distancing - Diesmal mit dem Start in die EU-Ratspräsidentschaft, dem Zerren an der nicht wirklich guten EU und unserer Aufgabe als Bürger*innen des Landes das die EU-Ratspräsidentschaft inne hat.
Audio
07:57 min, 7458 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 01.07.2020 / 19:30

Dateizugriffe: 3100

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Umwelt, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Das social Distel-Ding
Entstehung

AutorInnen: Fabian Ekstedt
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 01.07.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Es ist Juli. Der Sommer ist endlich da und Corona leider immer noch - auch wenn es sich manchmal nicht mehr so anfühlt. Vielleicht vergessen wir den Virus auch einfach, weil wir social Distel-Dinger nicht unablässig über die unsichtbare Gefahr, die unklare Lage, die immer weiter anschwellende Flut neuer Erkenntnisse, die Einordnung der Maßnahmen und die bange Frage wann das alles ein Ende hat, sprechen wollen.
Für die social Distel-Dinger gibt es stattdessen immer wieder neue Aufreger-Themen und Debatten, die auf Diskussionsbeiträge warten, zum Beispiel Stuttgart. Wer keine Lust mehr darauf hat, dieses Dauerfeuer der an der Oberfläche kratzenden gesellschaftlichen Debatten auszustehen, den drängt die Tagesschau über andauernde Ferien-Berichterstattung und Text-Bildschere bei Themen wie der Lufthansa-Rettung in den Urlaub – was gut und gerne als journalistische Krisenhilfe für die in Not geratene Branche verstanden werden kann.
Wer die Urlaubsbranche nicht finanziell stützen kann oder möchte, der oder dem wird mit dem heute in Kraft getretenen verminderten Mehrwertsteuersatz zumindest der allgemeine Konsum ans Herz gelegt. Wobei, zwischenzeitlich klingen die Klagen aus der Wirtschaft eher nach:
„Fresst oder wir sterben alle!“
Zum Glück sind Konsumieren und in aller Welt Sonnenliegen mit Handtüchern Belegen ausgemachte Stärken der Bundesbürger*innen.
Eine andere von den Nachbarregierungen ausgemachte Stärke der Bundesrepublik ist hingegen eine verlässliche Regierung. Schließlich ist Angela Merkel ab heute schon zum zweiten Mal innerhalb von 13 Jahren als Bundeskanzlerin Vorsitzende des Europäischen Rates. Richtig formuliert heißt es eigentlich:
Angela Merkel ist zum zweiten Mal als Bundeskanzlerin Teil der EU-Ratspräsidentschaft der Bundesrepublik Deutschland.
Passend zu der Zeit sieht das Logo der deutschen Ratspräsidentschaft dem Logo des Robert Koch Instituts erschreckend ähnlich, eine Möbius-Schleife, nur eben mit Europa- und Deutschlandfahne und ohne seitliche Begrenzungen.
Immer wieder ist zu hören, dass im Ausland große Hoffnungen in Angela Merkels Krisenmanagement gelegt wird. Diesem social Distel-Ding steigt dagegen heute schon die Fremdscham ins Gesicht, wenn es daran denkt, dass auch unsere glanzvollen Ministerinnen und Minister in unterschiedlichen Räten vorsitzen werden. Die Blockierer*innen einer fortschrittlicheren und menschenfreundlicheren europäischen Union sitzen dann da und dürfen ihren Kolleginnen und Kollegen Themen vorschlagen. Andi Scheuer, Julia Klöckner, Anja Karliczek und Horst Seehofer… Ihre Themenvorschläge dürften ungefähr wie folgt aussehen: Scheuer: Mehr Straßen und Diesel-Förderung; Klöckner: Glyphosat nicht verbieten und insgesamt alles auf Freiwilligkeit; Karliczek: christliche Werte in der Wissenschaft und 5G nur in Ballungszentren; und, bei Horst Seehofer, geht es vermutlich um die Ansiedlung von weißen Haien im Mittelmeer zur Abschreckung der Flüchtlinge. Da dürfte das angeblich so hohe Ansehen für Merkels Politik ganz von selbst Schaden nehmen, weil sie ihre Richtlinienkompetenz nicht dazu nutzt um ihr Kabinett mit Sachverstand zu befüllen, sondern nur um als das geringste Übel herauszustechen.
Aber trotz all der Skepsis angesichts dieser EU, die jetzt scheinbar auch noch zulassen möchte, dass Griechenland eine schwimmende Barriere im Mittelmeer zur Flüchtlingsabwehr errichtet: Wir brauchen sie!
Wir brauchen diese EU, weil sie uns immer noch Rechtssicherheit wahrt. Letztlich ist es die EU die die Bundesrepublik über Klagen dazu zwingt die Luft sauberer zu halten und das Grundwasser weniger mit Nitrat zu verschmutzen. Es ist die EU, die dafür sorgt, dass innereuropäische Grenzen nicht mehr die große Rolle von einst spielen und Saarländer heute vermutlich den Franzosen gegenüber freundlicher gesinnt sind, als den Bayern.
Aber all das ist vergleichsweise uninteressant zu dem, was Europa eigentlich sein sollte: Ein Hort der Demokratie. Sollte, weil einige europäische Staatsoberhäupter sich von den demokratischen Rahmenbedingungen Pressefreiheit und Unabhängigkeit der Justiz immer weiter entfernen. Das ist allerdings nichts im Vergleich zu den Kräften, die aktuell versuchen die EU zu zerreißen und die heute ebenfalls in den Schlagzeilen auftauchen.
In Russland geht heute das Verfassungsreferendum zu Ende, mit dem sich Putin das Recht einräumen lässt, noch bis mindestens 2036 an der Macht und damit sicher vor Strafverfolgung zu bleiben. Jener Putin, der als alter Geheimdienstler sehr gut verstanden hat, wie er mit Desinformation, Gerüchten und Kampagnen die ihm zu nahe rückende EU und nebenbei auch die NATO schwächen kann. Der Brexit und der Aufstieg des Rechtspopulismus sind mindestens teilweise auf die gar nicht so im verdeckten agierenden Troll-Armeen und staatlich gelenkten Medien zurück zu führen.
Die Volksrepublik China hat heute gezeigt, wie schnell es aus ist mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung in Hongkong. Am heutigen 23. Jahrestag der Rückgabe Hongkongs an die Volksrepublik China ist es vorbei mit „Ein Land, zwei Systeme“. Die erste Festnahme nach Inkrafttreten des neuen Sicherheitsgesetzes erfolgte anscheinend, nachdem ein Mann in der Öffentlichkeit die Unabhängigkeitsflagge von Hongkong gezeigt hatte. Seitdem sind schon mindestens 300 Menschen verhaftet worden. Und auch die Volksrepublik China zerrt an der EU. Die „Belt and Road Initiative“, das riesige Infrastrukturprojekt das auch die neue Seidenstraße genannt wird, sorgt schon heute dafür, dass die EU nicht mehr mit einer Stimme gegen Menschenrechtsverbrechen in China spricht, sei es an den Uiguren, den Tibetern oder einfach nur an frei denkenden und sprechenden Chinesinnen und Chinesen. Die neuen Häfen, Brücken, Straßen und Schienen gibt es eben nur gegen politische Gegenleistung. Und so drohen ganz nebenbei die über Generationen in Europa erkämpften Freiheitsrechte verkauft zu werden. Irgendwann könnte dann auch bei uns das Abbild des honigverliebten Winnie Poohs wegen zu großer Ähnlichkeit mit Chinas Staatspräsidenten Xi Jingping verboten werden.
Von den USA, die sich in ihrer nationalistisch abschottenden Phase befinden, ist hier weder Hilfe noch Vorbildfunktion zu erwarten.
So bleiben wir also auf Gedeih und Verderb auf uns als Europäische Union zurückgeworfen, die selbst noch an diesen Problemen mitarbeitet. Schließlich wollen wir auch weiter Gas aus Russland beziehen und Autos in China verkaufen. Zu laute Kritik erscheint da hinderlich.
Für uns, als Bürgerschaft der Ratspräsidentschaft, bleibt aber jetzt vor allem eines zu tun:
Laut werden! Gegen die in der Bundesrepublik verursachten Probleme der EU. Gegen die Marktmacht der in Deutschland prosperierenden Lebensmitteleinzelhändler, die mittlerweile in ganz Europa die Preise unter ein tier- und menschenwohlgerechtes Maß drücken. Gegen das Festhalten am Verbrennungsmotor, dessen Auswirkungen nicht nur im Klimawandel sondern auch in der Luftqualität zu merken sind. Gegen die lauten Stimmen der Lobby von Bayer/Monsanto die so gerne mit ihrem gentechnisch verändertem Saatgut und ihren Giften den Welthunger beenden würden, wenn sie dabei nur genügend Geld verdienen. Gegen die Aufhebung des Asylrechts und die Politik der Abschreckung. Gegen die weitergehende Ausbeutung der wirtschaftlich Schwachen.
Und das Gute ist: Das alles können wir unter dem Slogan der deutschen EU-Ratspräsidentschaft machen: Gemeinsam. Europa wieder stark machen.
Also alle gemeinsam: Maske auf unds Maul aufreißen!

Kommentare
02.07.2020 / 18:05 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 2.7.. Vielen Dank!
 
06.07.2020 / 12:50 Pia, Radio Dreyeckland, Freiburg
Gespielt im RDL Morgenradio am 06.07.2020
Danke!